Kain und Abel

Predigt zu 1. Mose 4, 1-16


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Sonntags morgens Kirche und am abends "Tatort". Für viele Menschen sind beides Rituale. Heute sind schon im Gottesdienst Mord und Totschlag Thema. In einer Predigt von Kathrin Oxen.

Liebe Gemeinde,

ein Raub mit schwerer Körperverletzung, unterlassene Hilfeleistung und dann noch ein vorsätzlicher Mord. Was uns heute im Gottesdienst präsentiert wird, kann sich mit dem „Tatort“ heute Abend durchaus messen. Für viele Menschen, auch für die, die mit Ritualen sonst nicht viel anfangen können, ist der „Tatort“ am Sonntagabend ein regelrechtes Ritual geworden. Morgens Kirche, abends Krimi – es muss Sonntag sein.

Ich vermute, für die meisten Menschen sind die Zuständigkeiten ziemlich klar verteilt. Kirche – Krimi: In der Kirche, im Gottesdienst kann man hören, wie der Mensch eigentlich sein sollte. Dort wird einem von einer besseren Welt erzählt. Und als Kontrastprogramm kann man sich dann abends den Krimi ansehen, der einem die schlechtere Welt der Kriminalität vor Augen führt. Etwas zynisch könnte man sagen: Der Tatort am Sonntagabend stimmt einen schon wieder auf die Realität des Alltags ein, der zwar in den meisten Fällen nicht von Mord und Totschlag bestimmt ist, aber doch von der harten Wirklichkeit der Welt, in der wir leben.

Und nun stehen wir auch noch heute Nachmittag, in unserem Gottesdienst, an verschiedenen Tatorten. Die Straße von Jerusalem nach Jericho, die zum zweifachen Tatort wird. Ein brutaler Überfall und, beinahe schlimmer noch, die Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit der Vorübergehenden. Das freie Feld, auf dem der erste Mord geschieht. Keine Spur von der besseren Welt und die Kinder sind noch nicht mal im Bett. Der „Tatort“ wird heute vorgezogen und die erste Einsicht, die ich daraus gewinne, ist die, dass sich wohl nicht trennen lässt, was wir oft gern trennen würden. Auch hier, in der Kirche, im Gottesdienst, lässt sich nicht vor der Tür halten, was wir manchmal gerne ausblenden würden. Hier läuft das gleiche Programm wie draußen und wir sind gezwungen, hinzusehen.

Mit der Handlung eines beliebigen „Tatorts“ kann die Geschichte von Kain und Abel mühelos konkurrieren. Lassen Sie uns die Geschichte doch einmal so betrachten, wie wir uns heute Abend auch den Krimi ansehen würden. Zum Einstieg werden erst einmal die handelnden Personen vorgestellt. Anders als in vielen Krimis sind die Familienverhältnisse ja noch nicht besonders kompliziert, von Dreiecksgeschichten ganz zu schweigen.

Aber schon die Kleinfamilie bietet genug Stoff für Konflikte, eine Erfahrung, die wir teilen. Auch wenn es nicht um Kapitalverbrechen geht: Nirgendwo sind die Verletzungen und Konflikte so tief und prägend wie in der Familie, aus der man kommt. Die Konkurrenz zwischen Geschwistern kann mörderisch sein, auch wenn niemand körperlich zu Schaden kommt.

Kain wird geboren. Der erste Mensch, der zu Welt kommt, wie wir zur Welt gekommen sind, geboren unter Schmerzen von einer Frau, als Wunder jubelnd begrüßt. Jenseits von Eden, außerhalb des Paradieses geht das Leben weiter. Vater, Mutter und Kind, die erste Familie. Keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Grund zur Dankbarkeit gegenüber Gott, ein Dank, den Eva ausspricht. Mit Gottes Hilfe hat sie einen Sohn geboren und noch weiß sie nicht, dass sie mit diesem Menschenkind den ersten Mörder zur Welt gebracht hat.

Ihr zweiter Sohn, Abel, bleibt gegenüber dieser ersten, überschwänglichen Freude, ein wenig blass, das ewige Schicksal der Zweitgeborenen. Seine Geburt ist nicht mehr das ganz große und einmalige Wunder, sondern er kommt bereits in eine Familie hinein. Sein Name, Abel, bedeutet auf Hebräisch „Windhauch“ und viel mehr wird von ihm nicht bleiben in seinem kurzen Leben. Die handelnden Personen sind damit auf die Bühne des Lebens getreten. Zwei Brüder, Täter und Opfer, die kurze Formel für alles, was Menschen einander anzutun in der Lage sind.

Nun beginnt, wie im „Tatort“, die Suche nach dem Motiv. Abel wird ein Schäfer, ein Hirte, Kain ein Ackerbauer. Daraus könnte man Konflikte ableiten, die Konkurrenz und Land und Wasser, das die Brüder in gleicher Weise benötigen. Aber diese Spur endet in einer Sackgasse. Beide Brüder scheinen erfolgreich zu sein, Abel als Schäfer, Kain als Ackerbauer. Beide können Gott ein Opfer darbringen. Gott sieht Abel und sein Opfer gnädig an, Kain und sein Opfer sieht er nicht gnädig an. Punkt. Mehr wird nicht gesagt.

Vielleicht hatten Sie, wie ich, eine Kinderbibel mit Bildern. In meiner war zu sehen, wie der Rauch von Abels Opfer kerzengerade in den Himmel stieg, während der Rauch von Kains Opfer am Boden blieb. Im Text wurde unterstellt, dass Abel freudig und gerne, Kain dagegen lustlos und aus reinem Pflichtbewusstsein geopfert habe. Ein Versuch, das unerklärliche Handeln Gottes zu rechtfertigen, nicht nur bei Kindern von nachhaltiger Wirkung. Aber Gott braucht niemanden, der ihn rechtfertigt.

In der Geschichte von Kain und Abel kommt auch die grenzenlose Souveränität Gottes zum Ausdruck, die Freiheit, mit der er sich uns Menschen zuwendet. Anders als beim „Tatort“ gibt es angesichts der für uns unbegreiflichen Entscheidung Gottes mit all ihren Folgen kein Motiv, das wir nachvollziehen könnten.

Das Geheimnis der bösen Tat, das Motiv, das zum Mord führt, die Frage, woher das Böse in der Welt kommt – all das bleibt für uns nicht zu fassen. Das Geheimnis und die Frage bleiben bei Gott. Es gibt keine einfachen Antworten und eine Kinderbibel, die mir solche Antworten in Wort und Bild einreden will, malt ein falsches Bild von Gott.

Festzuhalten bleibt, dass es wie so oft, der jüngere, weniger beachtete, unscheinbarere von zwei Brüdern ist, dem Gott sich in besonderer Weise zuwendet. Unseren Maßstäben entspricht das nicht. Vielleicht beginnt die Geschichte, die in die Katastrophe führt, deshalb mit der besonderen Sichtweise Gottes, die uns immer wieder begegnet und uns immer wieder herausfordert. Gott „mit einer Schwäche für die Schwachen“ (Nico ter Linden), mit einer Schwäche für Abel, den Windhauch. Eine Schwäche Gottes, die unter den Menschen zur Katastrophe führen kann.

Festzuhalten bleibt auch, dass Kain, wie jeder Täter, in der Lage gewesen wäre, anders zu handeln. Aber Kain versucht kein zweites Mal, Gott von Angesicht zu begegnen. Und er ist ganz unfähig, von sich und seinem Verhältnis zu Gott abzusehen, mit Gott auf seinen jüngeren Bruder zu sehen. Er bleibt bei sich und als er erfährt, dass sich Gott nicht ihn zuerst zuwendet, bricht er jede Beziehung ab, zu Gott und zu seinem Bruder. Er senkt finster seinen Blick. Es gibt keinen Blickkontakt, keine Beziehung mehr. Er kann nicht annehmen, dass Gott sich nun auch ihm zuwendet, ihn anspricht. Diese Unversöhnlichkeit, dieses Beharren bei sich selbst und der einmal erfahrenen Kränkung gehört zu einem Täterprofil dazu.

Was nun passiert, geschieht im „Tatort“ selten. Es ist der perfekte Mord. Es gibt keine Zeugen. Auch Gott sieht nicht alles. Er muss nachfragen. „Kain, wo ist dein Bruder?“

Es ist die zweite Frage, die Gott in der Bibel an den Menschen richtet. Die erste lautet „Adam, wo bist du?“. Gott stellt sie noch im Paradies, als Adam und Eva sich ängstlich vor ihm versteckten, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten. „Wo bist du, Mensch? Warum versteckst du dich vor mir? Wie ist unser Verhältnis?“ Und „Wo ist dein Bruder?“. Diese beiden Fragen stellt Gott uns bis heute. Er fragt uns nach dem Sündenfall, jenseits von Eden, ob wir die Summe aller Gebote halten können: Ihn, Gott, zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt und unseren Nächsten wie uns selbst.

Gott hat den ersten Mord nicht gesehen. Schon ist das vergossene Blut im Boden versickert. Im Blut ist nach biblischer Vorstellung das Leben. Gott hat es gegeben und er lässt es nicht irgendwo verrinnen. Das unschuldig vergossene Blut schreit zu ihm, die Stimme der Schwachen, der Ohnmächtigen, derer, von denen nichts bleibt in der Spur der Gewalt und des Todes bis heute. Gott hört die Opfer.

Gott hört die Opfer und, auch das unfassbar für uns, er bleibt bei den Tätern. Der Mörder Kain verdankt Gott sein Leben. Was Eva in der glücklichen Stunde der Geburt jubelnd ausgerufen hatte, trägt durch in den tiefsten Abgrund, in den Kain geraten ist. Gott klagt ihn an, er beschönigt nichts - und er steht ein für den Täter.

Uns ist, nicht nur im „Tatort“, mehr nach gerechter Strafe zumute. Wie Sie wissen, arbeitet mein Mann in Bützow als Gefängnisseelsorger. Oft, wenn das Gespräch darauf kommt, mache ich eine sehr erschreckende Erfahrung. Menschen, mit denen man sich vorher gut unterhalten hat, werden plötzlich zu erklärten Verfechtern der Todesstrafe. „Das kostet doch nur unser Geld“, „Kopf ab und dann ist Ruhe“, so oder so ähnlich habe ich das schon oft gehört. Mildere Formen davon gibt es auch, z.B. Vorstellungen von der Haft als einer Art Luxushotel, nur eben ohne Ausgang, „Die haben doch da alles, die haben sogar…“

Gleichzeitig geht vom Gefängnis eine besondere Faszination aus, viele Menschen würden gerne einmal mit in den Knast hinein. Eine gewisse Sensationslust spielt da mit, „einmal einen echten Mörder sehen“ oder so ähnlich. Die Zeit der öffentlichen Hinrichtungen ist vorbei, aber das Bedürfnis danach, einmal jemanden, der zum Täter geworden ist zu sehen, ist nicht kleiner geworden.

Überrascht und verwirrt sind die meisten, die Gelegenheit haben, Tätern zu begegnen. Die sind ja ganz normal, keine finsteren Gestalten und die im Gefängnis am martialischsten aussehen, sind oft die mit den kleinsten Delikten.

Es ist schwer, beides zusammenhalten: den Menschen, der mir begegnet und mit dem ich ganz normal sprechen kann und seine Tat, die mich mit Abscheu und Entsetzen erfüllt. Beides ist nicht voneinander zu trennen, ich kann nicht nur den Menschen sehen und die Tat vergessen, aber genauso wenig nur die Tat sehen und den Menschen vergessen.

Gott steht ein für den Täter. Er klagt Kain an, er begegnet Kains zynischer Ausrede „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ mit dem Schweigen dessen, der weiß, dass der Täter die Antwort kennt. Ja, du sollst deines Bruders Hüter sein, daran bist du gescheitert, Kain, an deiner Unfähigkeit, von dir selbst abzusehen. Woher diese Unfähigkeit kommt, die Menschen zu Tätern werden lässt, bleibt uns verborgen, wie auch in besseren Krimis ein Rest Unerklärbares bleibt.

Gott steht für den Täter ein. Er trennt zwischen der Tat und dem Menschen, der sie begangen hat. Das Schicksal Kains, als Flüchtiger auf der Erde herumzuirren, als jemand, der niemals mehr Ruhe finden wird bis an das Ende seiner Tage ist ein Schicksal, das schlimmer ist als der Tod. Herr über Leben und Tod, auch über Leben und Tod des Täters bleibt Gott. Sein Zeichen auf Kains Stirn ist beides: fortwährende, sichtbare Anklage und Schutz zugleich.

Mir kommt es manchmal vor, als sei auch das Gefängnis in Bützow, dem offenbar niemand emotionslos begegnen kann, beides zugleich: fortwährende, sichtbare Anklage der Täter und damit auch den Abgründen unserer menschlichen Möglichkeiten und Schutzraum für die, die keine Ruhe mehr finden unter den Menschen.

Die „Tatorte“ in diesem Gottesdienst bringen zusammen, was sich nicht trennen lässt. Sie zeigen, wo es gelingt, dass wir einander zu Nächsten werden, zu Brüdern und Schwestern, zu Kindern Gottes. Sie zeigen, wo wir hinsehen sollen, zu Gott, der jede und jeden von uns geschaffen hat und liebt und zu den Menschen an unserer Seite, für die das Gleiche gilt. Sie zeigen auch, wo wir scheitern durch unsere Gleichgültigkeit und unseren Egoismus, unsere Unfähigkeit, von uns abzusehen, unseren Blick nicht nur auf den Boden vor unseren Füßen zu richten.

Jenseits von Eden leben wir, als Täter und Opfer, als Opfer und Täter. Die Geschichte von Kain und Abel erinnert uns daran, dass wir in Gottes Augen andere sind und bleiben: Geschwister. Amen.

(gehalten am 10.09.2006)


Kathrin Oxen