08 – The White Cube: Glaube gewinnt Raum

Der reformierte Blick auf die Bilder. Gedanken zu einer theologischen Ästhetik. Teil VIII

Kirche von Charenton © Musée Protestant

Von Andreas Mertin

Der reformierte Blick auf die Bilder hat uns ein neues Kulturparadigma gezeigt: dass das reformierte Verhältnis zur Kunst sich im Lebensalltag der Gläubigen erweist und nicht in deren Kult- bzw. Versammlungsräumen.

Was bedeutet das im Gegenzug konkret für die räumliche Gestaltung des Glaubens? Die Versammlungsräume sind ohne prunkvolle Ausstattung, so wie es Calvin der Institutio schreibt:

„Was man auf die Ausschmückung der Kirchengebäude verwendet, das ist, so behaupte ich, falsch angewandt, wofern nicht das Maß gehalten wird, das die Natur der Heiligtümer vorschreibt und das uns auch die Apostel und andere heilige Väter durch Unterweisung wie durch ihr eigenes Vorbild vorgezeichnet haben. Aber was bekommt man davon heutzutage in den Kirchen zu sehen? Alles, was - ich sage nicht: nach jener ursprünglichen Schlichtheit, sondern - überhaupt nach irgendeinem anständigen Mittelmaß geartet ist, das wird verächtlich beiseitegeschoben. Allgemein findet nur das Billigung, was nach Üppigkeit und nach der Verderbnis der Zeit schmeckt.“ (IV,5,18)

Die von Calvin in der Institutio im Gegenzug gegebenen Stichworte zum Bild des Raumes lauten: Der Zweck des Raumes ist das gemeinsame Gebet. Es handelt sich um ein öffentliches Kirchengebäude, das der wahren Andacht dient und dabei kein Gepränge haben soll. Es ist keine Wohnstätte Gottes und verfügt über keinerlei Heiligkeit (Institutio III, 20, 30). Das von Ernst Wolf und Martin Albertz 1941 herausgegebene „Kirchenbuch. Ordnungen für die Versammlungen der nach Gottes Wort reformierten Gemeinden deutscher Zunge“ konkretisiert das so:

„Die nach Gottes Wort reformierte Kirche hat sich in ihren Versammlungen der Erkenntnis bewusst zu bleiben – ‚Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten‘ (Jh. 4, 24). Gott ist Geist und darf nicht vergegenständlicht werden, weder im Bild noch im Sinnbild – ‚Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen usw.‘ (2. Mose 20,4). ‚Gott wohnt nicht in Tempeln mit Händen gemacht‘ (Apg. 17, 24.7,48), sondern in seiner Gemeinde (1. Kor. 3,16, Eph. 2,21). Sie wird erbaut zu Gottes Haus (1. Petr. 2, 5), indem sie sein Wort und seinen Geist empfängt.

Als solche ist sie in ihrer Gesamtheit nicht geteilt in Priester und Laien, zugleich das königliche Priestertum (aller Glaubenden) (1. Petr. 2,5.9). Gottes Ehre und Gegenwart wird durch das Wort verkündigt, durch nichts anderes, durch kein Bild oder Sinnbild (Kruzifix, Monstranz, Kerzen u.a.), aber auch durch keine ‚sprechende‘ Formung oder Tönung des Raumes. Der öffentliche Versammlungsraum ist an und für sich ebenso wenig heilig wie das Kämmerlein, die Häuslichkeit der Familie, jeder öffentliche Saal, die Waldlichtung, die Talschlucht, das Schiffsdeck ... Es gibt keine betonten, mit Heiligkeit ausgestatteten Räume im Raum, sei es ‚Sakristei‘ oder Altar oder Chorraum.

Das Wort allein wirkt alle Erbauung, d.h. Auferbauung der Gemeinde zum Tempel Gottes. Raum und Raumgestaltung dienen ausschließlich dem Zweck, das Wort Gottes vernehmbar zu machen. Das Wort kommt zur Verlesung: der Raum sei hell und nicht ‚mystisch‘ dunkel. Damit ist keineswegs gefordert, dass reformierte Kirchen grundsätzlich kahl und kalt sein müssten. Form und Färbung können im Versammlungsraum der Gemeinde Gottes so wenig entbehrt werden, wie sie Gottes Schöpfung fehlen.

Aber sie haben lediglich dienende Bedeutung. Das Fehlen von Form und Farbe kann genauso stark dem Worte Gottes den Eingang wehren, wie ihre Auffälligkeit und Aufdringlichkeit ... Das Wort kommt zur Aussprache: der Raum biete eine bestmögliche Akustik ... Der Raum sei so gestaltet, dass die Gemeinde sich zugekehrt ist, als eine Einheit und Geschlossenheit unter dem Wort sich selbst zum Bewusstsein kommt, rings um die dem Mittelpunkt des Raumes nahe Kanzel und um den Abendmahlstisch. Auch dieser Grundsatz erfordert den Grundrisse des Ovals, Kreises, Polygons, Quadrats.“

Kapelle von Tadao Ando in Osaka © Attila Bujdosó, wikimedia cc-by-sa 2.5

Hier wird noch einmal bündig zusammengefasst, worum es geht. Nebenbei gesagt: Die so benannten Kriterien problematisieren auch sehr viel von dem, was bis heute stillschweigend als scheinbar unproblematisch für den Kirchenraum angesehen wird. Es geht eben nicht um die stille Andachtsstätte, sondern um einen gemeinschaftsstiftenden Raum, der als öffentlich und für die Öffentlichkeit gedacht ist. Der Raum ist keine leere Schachtel, sondern muss derartig inszeniert sein, dass das gemeinsame Gebet (Institutio III, 20, 30) gefördert wird.

Der Verzicht auf die Ausschmückung ist kein religiöser Selbstzweck und auch kein Gesetzeswerk, er darf nicht zur demonstrativen Geste des Verzichts verkommen. Er ist vielmehr positiv gesetztes Gestaltungselement. Es geht also nicht um die Inszenierung einer Erhabenheit im ästhetisch-reduzierten Modus religiöser Überwältigung. Die elementare Schlichtheit dient nicht der Erzeugung eines mystischen Gefühls, hier sei etwas Religiöses präsent.

Es geht im reformierten Kirchenbau explizit nicht um die „Sakralität der Leere“, in der dann doch das Heilige wieder vorfindlich ist, jetzt eben nur in einem leergeräumten Raum. Das ist zum Beispiel die große Gefahr beim Kirchenraum der so genannten „Kirche des Lichts“ von Tadao Ando. Hier wird das Religiöse als Heiliges wieder räumlich verdinglicht und nicht kommunikativ evoziert. Man bringt das Heilige nicht ein, sondern wird mit ihm konfrontiert. Das ist gerade nicht der Sinn der Geste des weißen Raumes.

Wenn man heute über die Bedeutung des weißen Raumes in der reformierten Tradition spricht, kommen in der Regel selbst Vertretern der Gemeinden nur apologetische Argumente in den Sinn. Im besten Falle begründet man den weißen Raum unter Verweis auf die Tradition mit der erforderlichen Konzentration auf das Wort Gottes bzw. auf die Predigt. Normalerweise entschuldigt man sich aber eher für die zurückhaltende Gestaltung der reformierten Räumlichkeiten, so als ob hier ein kulturelles und/oder sinnliches Defizit vorläge.

Dass es aber substantielle Gründe für diese Raumgestaltung geben könnte, die nicht nur historisch, nicht nur theologisch, sondern ganz konkret in der Ästhetik des Raumes begründet sind und die aus der ästhetischen Sache heraus den White Cube auch für die Gestaltwerdung des reformierten Glaubens nahe legen, wird viel zu selten beachtet und argumentativ vertreten. Das ist in der Sache aber gar nicht einzusehen, denn der Zuwendung zum weißen Raum liegt, wie wir gesehen haben, mehr zugrunde als nur der negative Aspekt der Verweigerung und der Unterlassung prunkvoller Kirchenausstattungen (den man ja mit den Zisterziensern oder anderen Armutsbewegungen des Mittelalters teilt). Es ist eine Form der bewussten Gestaltsetzung, sozusagen eine Geste, die zugleich einen Frei-Raum für die Menschen eröffnet.


Andreas Mertin
Gedanken zu einer theologischen Ästhetik

Von Ulrich Zwingli, Johannes Calvin und Karl Barth geschult wirft Andreas Mertin einen reformierten Blick auf die Kunst von ihrem Anfang in steinzeitlichen Höhlen bis zur Gegenwart. Der Medienpädagoge und Ausstellungskurator nimmt das Bilderverbot als Kultbilderverbot ernst. Das zweite Gebot sei jedoch kein Kunstverbot.
 

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