Fragment

pixel.theologie – Wort VII


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Das Fragment ist ein theologischer Fachbegriff. Wer jetzt an ein Stück Papyrus mit Wortfetzen eines Evangelisten denkt, liegt falsch.

Nicht in der Exegese neutestamentlicher Schiften, sondern im Nachdenken über den Menschen von heute in der Praktischen Theologie ist das Fragmentarische ein Leitmotiv.

Henning Luther prägte den Terminus Mitte der 80er Jahre bei seinem Nachdenken über Ich-Identität. Nicht Vollständigkeit, Ganzheit, Einheitlichkeit und Kontinuität sollte Ziel einer gut entfalteten Ich-Identität sein. Den Aspekt der Dynamik pries Luther, um uns vor „fixierenden Menschenbildern“ zu bewahren, geschweige denn in Vorurteile über uns selbst oder andere zu verfallen.

Glaube hieß für Luther, „als Fragment zu leben und leben zu können“. Nur die Sünde sei aus auf „vollständige und dauerhafte Ich-Identität“. Allerdings sei das Fragment der christlichen Identität mehr als ein Bruchstück, da es über sich hinausweise. Die Vollendung steht noch aus.
Bibelkundige denken jetzt sofort an das Stückwerk menschlicher Liebe, das Paulus besingt (1. Korinther 13,1-12).
In bildungsbürgerlichen Ohren schwingt im Wort „Fragment“ der „Torso“ aus Rilkes Gedicht mit seinem berühmten Schluss „Du musst dein Leben ändern“.
Und die Bonhoeffer-Fans erinnern sich, wie der Theologe des Widertsands, selbst im Gefängnis sitzend, in seinem Leben, in seiner Generation, das Unvollendete, Fragmentarische besonders stark empfand. Bonhoeffer tröstete sich: „Aber gerade das Fragmentarische kann ja auch wieder auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen. Daran muss ich besonders beim Tode so vieler meiner besten ehemaligen Schüler denken. Wenn auch die Gewalt der äußeren Ereignisse unser Leben in Bruchstücke schlägt wie die Bomben unsere Häuser, so soll doch möglichst sichtbar bleiben, wie das ganze gedacht und geplant war…“

Für mich heute, also im Februar 2016, ist Henning Luther leuchtend aktuell. 1985 schrieb er:
„Angesichts abgebrochener und zerstörter Lebensläufe anderer also angesichts der verhinderten Identität anderer muss das Ideal einer vollständigen und gelingenden Ich-Identität befremdlich klingen. Es wäre nur um den Preis des Verdrängens und der Verhärtung gegenüber anderen denkbar…
In jeder Begegnung mit anderen wird unsere Identität neu herausgefordert.“

Literatur
Henning Luther, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen (1985), in: ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Radius-Verlag Stuttgart 1992, 160-182, hier S. 169f.

Barbara Schenck, 19. Februar 2016

Liste der Worte aus pixel.theologie

(Stand 19. Februar 2016)

Barmherzigkeit

Fragment

Geduld

Genießen

Scham

Schnee

Wunder