Du Gott der Vergeltung, erscheine!

Predigt zu Psalm 94


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Liebe Gemeinde!

In den letzten Wochen ist Ihnen hier das Vater Unser ausgelegt worden, und keiner von Ihnen würde wohl bestreiten, dass dieses Gebet, das Jesus selbst gelehrt hat, ein Gebet ist, das jeder Christ kennen und beten sollte. Und nicht zuletzt von den Reformatoren – Luther und Calvin nehmen sich an diesem Punkt nichts – hören wir, dass die Psalmen ein ganz besonders kostbarer Gebetsschatz sind, aus dem wir uns reichlich bedienen sollten. Als reformierte Gemeinde tun Sie das schon mit den gesungenen Psalmen, die zu Ihrer Tradition gehören. Und bestimmt fallen bestimmt auch sofort Psalmen ein, die Sie persönlich besonders lieben und oft nachsprechen – nicht nur Psalm 23.

Aber gilt die Empfehlung der Reformatoren, den Schatz der Psalmen zu nutzen wirklich für alle Psalmen? Genauer gefragt: Kann man als Christ auch Psalm 94 beten? Ich lese ihn vor:

Lesung Psalm 94

1 HERR, du Gott der Vergeltung, du Gott der Vergeltung, erscheine!
2 Erhebe dich, du Richter der Welt; vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!
3 HERR, wie lange sollen die Gottlosen, wie lange sollen die Gottlosen prahlen?
4 Es reden so trotzig daher, es rühmen sich alle Übeltäter.
5 HERR, sie zerschlagen dein Volk und plagen dein Erbe.
6 Witwen und Fremdlinge bringen sie um und töten die Waisen
7 und sagen: Der HERR sieht's nicht, und der Gott Jakobs beachtet's nicht.
8 Merkt doch auf, ihr Narren im Volk! Und ihr Toren, wann wollt ihr klug werden?
9 Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen?
10 Der die Völker in Zucht hält, / sollte der nicht Rechenschaft fordern – er, der die Menschen Erkenntnis lehrt?
11 Aber der HERR kennt die Gedanken der Menschen: sie sind nur ein Hauch!
12 Wohl dem, den du, HERR, in Zucht nimmst und lehrst ihn durch dein Gesetz,
13 ihm Ruhe zu schaffen vor bösen Tagen, bis dem Gottlosen die Grube gegraben ist.
14 Denn der HERR wird sein Volk nicht verstoßen noch sein Erbe verlassen.
15 Denn Recht muss doch Recht bleiben, und ihm werden alle frommen Herzen zufallen.
16 Wer steht mir bei wider die Boshaften? Wer tritt zu mir wider die Übeltäter?
17 Wenn der HERR mir nicht hülfe, läge ich bald am Orte des Schweigens.
18 Wenn ich sprach: Mein Fuß ist gestrauchelt, so hielt mich, HERR, deine Gnade.
19 Ich hatte viel Kummer in meinem Herzen, aber deine Tröstungen erquickten meine Seele.
20 Du hast ja nicht Gemeinschaft mit dem Richterstuhl der Bösen, die das Gesetz missbrauchen und Unheil schaffen.
21 Sie rotten sich zusammen wider den Gerechten und verurteilen unschuldiges Blut.
22 Aber der HERR ist mein Schutz, mein Gott ist der Hort meiner Zuversicht.
23 Und er wird ihnen ihr Unrecht vergelten / und sie um ihrer Bosheit willen vertilgen; der HERR, unser Gott, wird sie vertilgen.

Viele Psalmen sind in unserem Gesangbuch abgedruckt. Dieser Psalm nicht. Und auch die Stellen in anderen Psalmen, in denen von Feinden die Rede ist und der Wunsch nach Rache und Vergeltung zum Ausdruck kommt, sind im Gesangbuch ausgelassen. Vielleicht, weil die Herausgeber – anders als die Reformatoren - der Meinung sind, dass solche Gebete, die andere Menschen anklagen und Gottes Gericht über sie anrufen, für Christen nicht statthaft sind. Sie mögen ihren Platz im AT haben mit dessen strafenden Gott, aber sie seien doch nicht mehr vereinbar mit dem Gott der Liebe, den das NT verkündet, und an den wir uns halten.

Aber Vorsicht: Auch im NT ist von den Tagen der Rache zu hören, an denen alles erfüllt werden wird, was geschrieben steht und in Offb 6,10 hören wir ausdrücklich die Bitte um Gottes rächendes Eingreifen. Da schreien die Märtyrer Gott laut entgegen: „Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“  Und Jesus selbst redet an vielen Stellen vom Gericht, das er selbst ausüben wird, und wo Heulen und Zähneklappern bei allen sein wird, die Gottes Willen nicht befolgen.

So einfach ist das also nicht, alles, was nicht in unser harmlos friedliches Gottesbild passt, ins Alte Testament zu verschieben und Christen Gefühle von Wut, Empörung und Rachedurst im Gebet zu verbieten. Zumal, wenn Sie ehrlich sind: empfinden Sie solche Gefühle nicht auch manchmal?

Die Zustände, die in dem Psalm zu solchen Reaktionen führen, gibt es schließlich immer noch! Immer noch werden Unschuldige gequält und getötet, immer noch leiden ganze Völker unter der Gewalt und der Skrupellosigkeit einiger weniger, die das Sagen haben. Und immer noch scheinen die Gewalttäter, vielleicht besonders die mit Schlips und Kragen, zu glauben: der Herr sieht`s nicht, der Gott Jakobs beachtet es nicht. Denken Sie da nie: Denen sollte mal alles richtig heimgezahlt werden, was sie anderen antun! Diese Verbrecher! Die dürfen doch nicht so einfach davonkommen!

Zwei Faktoren machen das himmelschreiende Unrecht, das Menschen anrichten, in meinen Augen noch zusätzlich schlimm: Die erste Einsicht: Es sind nicht nur die Gottlosen, wie Luther sie nennt, die so brutal handeln, nicht die Atheisten, nicht die, die jedenfalls nicht zu uns gehören. Unsere Geschichte zeigt: Oft waren es gerade die, die christlich sozialisiert waren, die sich vielleicht sogar ausdrücklich als Christen bezeichneten, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Ich nenne nur einige wenige Beispiele: Bei uns waren es die, die sich selbst stolz deutsche Christen nannten, die kein Mitleid kannten mit den Juden, nicht einmal mit den Getauften, als sie dem Rassenwahn der Nazizeit zum Opfer fielen. In Ruanda, einem Land mit mehr als 95% christlicher Bevölkerung, sind in einem Völkermord eine Million Menschen von Christen! ermordet worden. Im Kongo hat sich eine Miliz the Lords Army genannt und bis in die jüngste Zeit tausende Frauen systematisch vergewaltigt und viele andere Verbrechen verübt und dabei sogar Kinder gezwungen, als Soldaten des Herrn mitzumachen. Ich könnte noch endlos fortfahren im Aufzählen solcher Furchtbarkeiten, die man sich, wie gesagt, nicht einmal dadurch auf Distanz halten kann, dass man sie den anderen, den Gottlosen oder wie es heute gern geschieht, den barbarischen Muslimen in die Schuhe schiebt. Auch Menschen, die sich Christen nennen, handeln, als ob Gott ihre Verbrechen nicht sähe, als ob es ihm nichts ausmachte, was sie anrichten, und ausgerechnet die, die meinen, das christliche Abendland gegen Flüchtlinge und Muslime verteidigen zu müssen, reden mit einem Hass und einem Zynismus, als würde Gott sie nicht hören, als ließe er seinen Namen ungestraft lästern.

Der zweite verstörende Faktor, der alles Schreckliche noch schlimmer macht ist: Viele der Verbrechen, die Menschen zugrunde richten, verstoßen nicht einmal gegen das Gesetz! Die brutale Ausbeutung der Näherinnen in Bangladesh ist nicht gesetzeswidrig! Die Spekulation mit Ackerboden, die vielen Bauern im Globalen Süden die Existenzgrundlage raubt, ist legal! Genauso der Handel mit tödlichen Waffen: Auch er ist meistenteils nicht verboten, obwohl er viele Staaten, wie etwa Saudi Arabien, aufrüstet, in denen Menschenrechte einen Dreck gelten und die Terrorgruppen finanzieren. Schon Berthold Brecht hat beklagt: Es gibt viele Arten, menschliches Leben zu zerstören. Leider sind die wenigsten verboten. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Beter dieses Psalms vor Gott einklagt, dass das Recht endlich zur Gerechtigkeit zurückkehrt, und nicht, wie Luther übersetzt: dass das Recht Recht bleiben muss.

Dieser ganze Psalm bringt den Schmerz und die Wut über das Unrecht und die vielen ungesühnten Verbrechen zum Ausdruck, denen Menschen ausgesetzt sind. Es ist vor allem ein Psalm derer, die nicht so bequem und abgesichert leben wie wir, die sich nicht in die heile Welt des Privaten zurückziehen können, wenn alles draußen zu schlimm wird, die sich nicht ablenken können mit irgendwelchen Vergnügungen. Es sind die Wehrlosen, die, die keine starke Lobby bei den Menschen haben, die Gott mit diesem Psalm in den Ohren liegen, sich endlich vor aller Welt zu zeigen, seine Gerechtigkeit durchzusetzen und die skrupellosen Menschenverächter in ihre Grenzen zu verweisen, damit die merken was für Narren sie sind, wenn sie glauben, sie dürften ohne Rücksicht auf andere alles tun, was ihnen passt und was ihrem Vorteil dient. „Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen? Der die Völker in Zucht hält, sollte der nicht Rechenschaft fordern?“

Die Empörung, die Wut über die heillosen Zustände, denen die Beter dieses Psalms ausgeliefert sind, ist gepaart mit einem tiefen Vertrauen, dass Gott die Macht hat, ihnen Recht zu verschaffen, dass er die aus den Fugen geratene Welt in ein heilsames Gleichgewicht bringen kann. Das ist das Ziel der Vergeltung, die sie von Gott erflehen, darauf soll seine Rache hinauslaufen: Auf eine neue Gerechtigkeit, in der es keine Verlierer mehr gibt, in der niemand mehr um sein Recht und sein Glück betrogen wird. Im Hebräischen klingt übrigens auch anders als im Deutschen in dem Wort für Rache eher der Gedanke an Recht mit als das ungezügelte, von Emotionen bestimmte Zurückschlagen und Strafen, das wir mit Rache verbinden.

So sehr dieser Psalm also zuerst ein Gebet von Opfern lebensbedrohlicher menschlicher Gewalt und Ungerechtigkeit ist, so glaube ich doch, dass auch wir dieses Gebet nachempfinden und nachsprechen können. Auch wir erleben manchmal Kränkungen, die uns zutiefst verletzen und in hilfloser Wut zurücklassen, auch wir sind bisweilen ungerechten Entscheidungen ausgesetzt, gegen die wir uns nicht wehren können. Dann kreisen unsere Gedanken um Rachefantasien und wir finden keine Ruhe mehr. Meist schämen wir uns für solche negativen Gefühle. Aber auch sie dürfen wir vor Gott ausbreiten. Und erst Recht dürfen wir diesen Psalm mitbeten, wenn wir uns anrühren lassen von dem Leid, das anderen Menschen angetan wird, wenn wir uns noch nicht damit abgefunden haben, dass das Recht des Stärkeren so oft triumphiert, wenn wir uns noch empören können über Unrecht, auch wenn es im Mantel der Legalität daherkommt. Der Psalm gibt auch unserer ohnmächtigen Wut Ausdruck, oder vielleicht besser der wütenden Ohnmacht, die uns so oft überkommt, wenn wir selbst von Ungerechtigkeit betroffen sind, oder wenn wir das, was um uns herum und in der Welt geschieht, an uns herankommen lassen.

Empörung und Wut gehören zu unserem Menschsein, solange wir noch ein Rechtsempfinden haben. Beides gehört auch zu unserem Glauben, solange wir ihn nicht mit Unterwerfung unter ein blindes Schicksal verwechseln. Denn der Glaube an den Gott Israels, den Gott der Gerechtigkeit und der Befreiung schärft unsere Sinne noch mehr dafür, wie sehr unsere Wirklichkeit dem Willen Gottes widerspricht, und öffnet uns die Augen, was Menschen Gott antun, wenn sie einander so viel Leid zufügen. Der Psalm leiht uns Worte auch für den Wunsch nach Rache und Vergeltung. Aber er gibt diesen negativen Gefühlen eine klare Richtung. Sie gehören ins Gespräch mit Gott, nicht in unseren Umgang mit anderen Menschen. Und sie überlassen Gott, was er daraus macht. In dem Psalm kommt auch das Vertrauen zum Ausdruck, dass Gott das Richtige tun wird. Das hat der Beter des Psalms selbst schon erfahren: Wenn ich sprach: mein Fuß ist gestrauchelt, so hielt mich, Herr, deine Gnade. Ich hatte viel Kummer im Herzen, aber deine Tröstungen erquickten meine Seele. Denn du hast ja nicht Gemeinschaft mit dem Richterstuhl der Bösen, die das Gesetz missbrauchen und Unheil schaffen.

Wer in diesem Vertrauen Gott seine Wut und seine Empörung über erlittenes oder beobachtetes Unrecht ausbreitet, kann davon absehen, die Rache selbst in die Hand zu nehmen. Wer sich Gott gegenüber alles von der Seele redet, wird vom ständigen Kreisen um Hassgedanken befreit und muss nicht versuchen, nach eigenem Maßstab Vergeltung zu üben. Der kann sich darauf verlassen: Gott hört, Gott erhört auch solche Wut und Empörungsgebete, die nach Rache, die nach Recht schreien. Aber er tut das auf seine Weise. Unser Gott ist gerecht. Er paktiert nicht mit den Gewalttätern. Er schließt keine faulen Kompromisse. Das ist wahr. Aber seine Gerechtigkeit ist – Gott sei Dank – auch voller Gnade. Gott hat keinen Gefallen am Tod des Gottlosen. Das schärft er besonders dem Propheten Ezechiel immer wieder ein. Er ist nicht auf die Vernichtung des Gewalttäters aus. Gottes Gerechtigkeit ist barmherzige Gerechtigkeit. Sie zielt darauf, dass allen Menschen geholfen wird. Allen. Auch denen, die wir wegen ihrer Verbrechen zutiefst verabscheuen, denen wir keine Veränderung mehr zutrauen, die für uns gestorben sind. Gott hat die Macht Tote aufzuerwecken. Er hat die Macht alles zu ändern. Auch die steinernen Herzen von Menschenschindern. Er kann sie durch menschliche Herzen ersetzen. Und wenn es am Ende des Psalms heißt, Gott möge den skrupellosen Gewalttätern ihr Unrecht vergelten und sie um ihrer Bosheit willen vertilgen, so wird Gott diesem Wunsch heilsam umwandeln: Ja, die Bosheit wird er vertilgen, aber die Täter wird er zur Umkehr rufen, damit sie in ein neues Leben finden. Jesus hat uns gelehrt, darauf zu vertrauen. Deshalb gehört in unser Gebet nun auch die Bitte für die Gewalttäter, für die skrupellosen Ausbeuter, für die, die Würde und Recht anderer Menschen mit Füßen treten. Gott möge ihnen ein menschliches, ein berührbares, ein mitfühlendes Herz geben und ihre Kraft auf das Tun des Gerechten richten.

Es ist gut, auch bei diesem Psalm in die Schule zu gehen, auch ihn in der Gemeinde zu beten und damit die Stimme zu erheben für die vielen Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeit, die zum Schweigen gezwungen sind. Und es ist gut, auch mit den Worten dieses Psalms Gott zu drängen, seine Verheißungen endlich zu erfüllen, so dass alle Welt es sehen kann. Maranatha: Herr komme bald.

Amen


Pfarrerin Sylvia Bukowski, Wuppertal