Mit gleichem Maß

Einspruch! - Mittwochs-Kolumne von Georg Rieger


Von Steve Evans from India and USA - Flickr, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=189160

Nicht erst der neuerliche Vorstoß für ein Burkaverbot zeigt: Wir würden den Muslimen gerne helfen, ihre Religion besser zu verstehen. Aber haben wir denn unsere eigene verstanden?

Wenn wir Christen ehrlich sind, haben nicht unsere religiösen Einsichten uns zu der liberalen Gesellschaft geführt, in der wir heute leben. Es war die Aufklärung, die den Anstoß dazu gegeben hat, Staat und Kirche voneinander zu trennen und gesellschaftliche Entwicklungen dem Zugriff der Religion zu entziehen.

Nach und nach haben sich Bereiche des Lebens aus traditionellen Regelwerken befreien können. Wenn es zum Beispiel die Frauenbewegung nicht gegeben hätte, sähe es wohl heute noch ganz anders aus. Das sei denen hinter die Ohren geschrieben – Frauen wie Männern – die verächtlich von „Emanzen“ sprechen und im nächsten Satz die Unterdrückung der Frauen im Islam anprangern.

Gleiches gilt für die Sexualmoral, die ohne aufklärerische Romantik und sexuelle Revolution noch ungefähr da stecken würde, wo muslimische Frauen heute zu kämpfen haben. Sex vor der Ehe ist eine Selbstverständlichkeit. Überhaupt der Wechsel von Lebenspartnern. Ist uns eigentlich gar nicht klar, wie lange es her ist, dass sowas gar nicht ging?

Und es ist ja nicht so, dass die Gleichberechtigung und Freizügigkeit nicht immer wieder auch in Frage gestellt würde. Im Sinne einer kritischen Hinterfragung mancher Entwicklungen ist das sogar zu begrüßen. Eine Vielzahl der vermeintlich besorgten Kulturkritiker wünschen sich aber eigentlich nur die Zeiten enger Regelwerke und männlicher Dominanz zurück. Von einer tiefen Einsicht in die Gleichberechtigung von Männern und Frauen und einer verantwortungsvoll gestalteten Freiheit kann keine Rede sein.

Wenn also muslimische Regeln zu kritisieren sind, dann ist in der Argumentation kein Grund zur Überheblichkeit.

Dass für muslimische Männer und Frauen die westliche Reizüberflutung ein Problem darstellt, ist nachvollziehbar. Dass wir sie von unserer relativ freizügigen Lebensweise überzeugen wollen auch. Dass wir die Rechte der Frauen im Blick haben, selbstverständlich. Aber zum Recht der Frau gehört es eben auch, sich zu verhüllen. Darauf hat unlängst die Bloggerin Antje Schupp hingewiesen.

Die Dinge sind also komplizierter und erfordern Einfühlungsvermögen und eine gewisse Demut. Was wir uns selbst eben erst errungen haben und was noch nicht einmal in der eigenen Gesellschaft wirklich verwurzelt ist, kann nicht für Menschen aus anderen Kulturen zum Integrationskriterium erklärt werden.

Auch was die Reformwilligkeit islamischer Geistlicher angeht, darf nicht mit ungleichem Maß gemessen werden. Auch in unseren Konfessionen treiben Fundamentalisten ihr Unwesen und hetzen gegen jegliche Form der Liberalität. Sowohl die katholische Weltkirche als auch der deutsche Protestantismus schmücken sich aktuell mit aufgeschlossenen und reformfreudigen Spitzenvertretern. Doch war das nicht immer so und kann sich schnell wieder ändern.

Sowohl für als auch gegen ein Burkaverbot – also die Vollverschleierung – sprechen gute Gründe. Sie sollten vernünftig und unaufgeregt diskutiert werden. Ein Verbot ist allerdings selten ein überzeugendes Signal für die Integration in eine freie Gesellschaft. Die hat ihre eigenen Wege, Menschen für sich zu gewinnen. Und die lässt ihnen aus eigener Erfahrung auch Zeit zur Einsicht.

Schon wieder so eine Burkadiskussion - von Antje Schupp

Der Staat darf die Burka nicht verbieten - Kolumne auf Causa / Der Tagesspiegel von Heinrich Schmitz