Gottes Wort ist nicht gebunden

Predigt zu 2.Timotheus 2,8-9 und zur 6. These der Barmer Theologischen Erklärung

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Ihr Lieben,

heute Morgen soll es in der Predigt um die 6. These der „Barmer Theologischen Erklärung“ und einen der beiden Bibeltexte gehen, den sie auslegt. Ich lese uns den Bibelvers und die These, die wir schon als Bekenntnis gesprochen haben noch einmal (im Gesangbuch auf der Seite 1380):

„Gottes Wort ist nicht gebunden“. (2.Timotheus 2,9)

Der Auftrag der Kirche,
in welchem ihre Freiheit gründet,
besteht darin, an Christi Statt
und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes
durch Predigt und Sakrament
die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten
an alles Volk.

Wir verwerfen die falsche Lehre,
als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit
das Wort und Werk des Herrn
in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter
Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.

Schauen wir zunächst auf das Bibelwort: Gottes Wort ist nicht gebunden! Gottes Wort lässt sich nicht in Fesseln legen. Das sagt kein gutsituierter Pastor, der alle Vorzüge einer freiheitlich demokratischen Grundordnung genießt und sich auf eine Kanzel stellt, um ungefährdet von Christus und seiner Befreiung zu erzählen. – Das schreibt ein Apostel, der um des Evangeliums willen in Fesseln gelegt ist. Das ist eine ganz andere Nummer! Da liegt einer in Ketten, weil er von der Freiheit der Kinder Gottes erzählt, weil er den Menschen ihre Befreiung verkündet, weil er ihnen sagt, dass sie Gott mehr gehorchen sollen als den Menschen, und er ist bereit, seine eigene äußere Freiheit dafür aufs Spiel zu setzen.

Wofür würdest Du Dich in Ketten legen lassen? Was wäre Dir so wichtig, dass Du bereit wärst, Deine Freiheit dafür zu riskieren? Ich weiß es selber nicht. Vielleicht, hoffentlich für meine Familie, für meine Frau, meine Kinder, für Menschen, für die ich mich verantwortlich weiß und ohne die ich nicht sein will. Es muss etwas sein, was mir am Ende wohl wichtiger als ich selber es mir bin.

Für den Apostel ist das Evangelium von Jesus so wichtig und dass es nicht nur ihm, sondern allen Menschen gilt. Er schreibt Timotheus:

8 Richte deine Gedanken ganz auf Jesus Christus aus
– auf ihn, der von den Toten auferstanden ist,
den versprochenen Retter aus der Nachkommenschaft Davids.
Von ihm handelt das Evangelium, das mir anvertraut ist.
9 Und weil ich diese Botschaft verkünde,
habe ich viel Schweres durchzumachen
und bin jetzt sogar wie ein Verbrecher gefesselt.
Aber Gottes Wort kann man nicht in Fesseln legen. (2.Tim. 2,8f)

Als man 1934 in Barmen um Leben oder Tod der Kirche Jesu Christi gekämpft hat – um weniger ging‘s da aus Sicht der Synodalen nicht! – da bekam dieses Bibelwort neue Brisanz und Kraft und Klarheit. Seit einem guten Jahr versuchten Teile der Kirche und der nationalsozialistische Staat damals die altbewährte, unheilige Koalition von Thron und Altar wiederzubeleben und Gottes Wort Ketten anzulegen. Ein Zugochse sollte es sein – für die Einheit von Volk und Vaterland, für Reich und Führer. Man wollte das Evangelium einfangen, an die Leine nehmen, es verzwecken für eigenmächtig gewählte Wünsche und Pläne.

Den Synodalen damals und vielen Christen in den bekennenden Gemeinden war aber eines klar geworden: Wir müssen um die Freiheit des Wortes Gottes kämpfen. Wenn wir Adolf Hitler und alles, was mit ihm kommt, zu einer Offenbarung Gottes erklären, dann ist es aus mit der Kirche Jesu Christi. Und dafür, dass das nicht geschieht waren sie bereit, etwas zu riskieren. Mehr noch als die Synode als ganze, haben Einzelne etwas riskiert. Schaut Euch die Ausstellung in der Gemarker Kirche an und lasst Euch an diese Menschen erinnern. Warum haben sie nicht gesagt: Das kann doch jeder sehen, wie er will. Ich bleib still und heimlich Christ? Das aufrichtige Gebet im stillen Kämmerlein war ja niemandem verboten. Warum zogen sie sich nicht ins Private zurück? Warum kämpften sie um ihre Kirche?

Ihr Lieben,
ich glaube das taten sie, weil sie der festen Überzeugung waren, wenn die Kirche aufhört, das Evangelium von Jesus Christus frei zu verkünden, wenn sie aufhört, die Botschaft von der Gnade Gottes allen Menschen auszurichten und in Mitmenschlichkeit zu leben, wenn sie mitmachen würde bei der Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen, bei der Einteilung der Menschen in erste, zweite und dritte Klasse, dann wäre nicht nur etwas in der Zeit, sondern dann wäre etwas für die Ewigkeit verloren. Dietrich Bonhoeffer hat es zwei Jahre später sehr pointiert auf den Satz gebracht: „Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche trennt, trennt sich vom Heil.“

So hoch hing das damals.
So wertvoll war das Wort Gottes.
So wichtig war der Erhalt der Kirche Jesu.

Ich werde darum immer skeptischer, wenn man heute der Synode damals vorwirft, sie habe ja „nur an die Kirche“ gedacht und nicht an Juden, Kommunisten, Roma und die vielen schon damals massiv Bedrängten und zum Teil Verfolgten. Ja, man hätte schon 1934 mehr sagen können und müssen. Aber das macht mir das, was gesagt wurde, nicht weniger wichtig. Denn es erinnert mich an etwas, was mir vielleicht verloren gegangen wäre, wenn man 1934 den Kampf nicht so konzentriert nach außen und vor allem nach innen um die Kirche Jesu geführt hätte:

Es ist nicht egal, was in der Kirche verkündet wird.
Es ist nicht egal, wer der Herr der Kirche ist. Und ob sich irgendwer oder irgendetwas an dessen Stelle setzt oder gesetzt wird.
Es ist nicht egal, ob die Kirche zu einem Religionsverein verkommt, der sich in einer spirituellen Nische einrichtet und über das restliche Leben andere Herren bestimmen lässt.
Es ist nicht egal, wer der Kirche die Gestalt vorgibt, in der sie sich organisiert. Es ist nicht egal, welchen Auftrag sie wahrnimmt.

Ihr Lieben, was ist Gottes Wort, was ist Jesus Christus den Menschen wert, welchen Raum hat er im eigenen Leben und im Leben der Welt – darum ging es damals, Wenn ich mir das heute klar mache, bleibt mir das im Hals stecken. Was vielen heute kaum mehr einen Pfifferling wert ist, was zur Geschmacks- oder Ansichtssache erklärt wird, das war ein Frage, die Menschen zu Blutzeugen hat werden lassen, zu Märtyrern. Manchem Historiker und Theologen, der über diese Synode und ihr Bekenntnis hochintellektuell den Stab bricht, muss man wohl schon mal sagen: „Klug geschissen ist noch lange nicht Recht geredet.“

Wir alle, die wir zur Kirche gehören, alle, die in ihr und an ihr arbeiten, die in ihr ein Zuhause gefunden haben, dürfen eins nicht vergessen: diese Kirche, diese Versammlung von Menschen, die sich unter Gottes Wort stellen, diese organisierte Gruppe von Menschen, die Jesus Christus als ihren Herrn bekennt, hat einen Auftrag von Gott, dem Allerhöchsten: Wir sollen an Christi statt die freie Gnade Gottes allem Volk verkündigen. An Christi statt!

So hoch hängt die Kirche als ganze! So hoch hängt jede Gemeinde! Diese Würde hat sie! Darum muss man um sie kämpfen – nach außen, wenn man sie funktionalisieren will. Und nach innen, wenn der Herr der Kirche und der Auftrag der Kirche in Vergessenheit gerät. Denn wenn wir aufhören, unseren Auftrag wahrzunehmen, wenn er uns egal wird, wenn uns das Wort von der freien Gnade Gottes, die allen Menschen gilt, nichts mehr wert ist, dann stellen wir nicht irgendein Programm ein. Dann geht nicht irgendein Sender wegen mangelnder Einschaltquoten vom Netz, dann lassen wir Christus verstummen!

Und das diesmal nicht, weil uns jemand zum Schweigen brächte, sondern weil wir ihn verschweigen. Seht, Kirche hört auf Kirche zu sein, wenn sie das tut. Christen hören auf Christen zu sein, wenn sie von ihrem Glauben nicht reden. Oder lasst es mich barmherziger sagen, weil Gott barmherzig ist: Christen hören auf Christen zu sein, wenn sie aufhören von ihrem Glauben reden zu wollen, wenn sie aufhören nach Worten zu ringen, die von ihrer Hoffnung Zeugnis geben und von ihrem Trost erzählen, wenn sie aufhören von Gott Orientierung zu erhoffen und zu erbitten und seinen Weg tastend zu gehen.

Juckt uns das noch? Macht uns das Sorge? Ich meine jetzt nicht, ob es uns Sorge macht, dass die Kirche zahlenmäßig immer kleiner wird, dass die Gemeinden schrumpfen und an gesellschaftlicher Prägekraft verlieren. Ich meine, macht es uns Sorge, dass die Kirche so sehr mit sich und so wenig mit Christus beschäftigt ist?

Richte deine Gedanken ganz auf Jesus Christus aus – auf ihn, der von den Toten auferstanden ist, den versprochenen Retter aus der Nachkommenschaft Davids, sagt der Apostel. In Barmen sagte man: Schaut auf Christus, das eine Wort Gottes. An seiner Statt, im Dienste seines eigenen Wortes und Werkes hat die Kirche die Botschaft von der freien Gnade Gottes an alles Volk auszurichten. Und jetzt kommt für mich ein entscheidender Punkt: Darin, dass die Kirche, darin, dass Du und ich diesen Auftrag wahrnehmen, darin, dass wir uns an diesen Auftrag binden, besteht unsere Freiheit! Unsere Freiheit besteht in dieser Bindung. Lösen wir uns davon, werden wir unfrei. „Gottes Wort ist nicht gebunden.“ Willst Du Freiheit, dann binde dich an dieses Wort. Binde Dich an Christus. Nichts anderes soll Deine Sorge sein, als diese Bindung zu halten.

Ach wäre das doch wahr. Bei mir und in meiner Kirche. Wäre das wirklich unsere Sorge. Was sagt Christus heute! Wie wird er erkennbar Herr meines Lebens, Herr unserer Kirche? Wie gestalten wir unsere Kirche und unsere Gemeinden, dass sie Botschafterinnen der freien Gnade Gottes sind?

Ich danke Gott, dass wir Menschen in unserer Kirche haben – in allen Bereichen bis in unsere Verwaltung hinein – die diese Sorge kennen und teilen, die darum ringen, dass die Gestalt, die wir uns geben, diesem Auftrag dient. Und ich klage es Gott, dass wir trotzdem so viel, so unendlich viel Kraft, Zeit und Geld für Dinge einsetzen, deren Bezug zu unserem Auftrag manchmal nur noch mehr als mühsam oder gar nicht mehr zu erkennen ist, dass wir gerade in unseren Leitungsgremien eine Unfreiheit spüren, die schon fragen lässt, ob wir auch ganz andere Bindungen eingegangen sind, die uns gefangen nehmen.

Luther hat mal von der „Babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ gesprochen – und er meinte damit die Gefangenschaft, in die sich die Kirche selber begibt, die sie sich selber schafft. Befreiung daraus kam in der Reformation durch eine Neuentdeckung der Freiheit, zu der Christus befreit, durch eine Neuentdeckung des Wortes Gottes! Des selben Wortes, das uns heute irgendwie ein „alter Hut“ scheint. In den Gottesdiensten erwartet man es noch irgendwie, aber traut man ihm wirklich noch was zu?

Ihr Lieben,
damals in Barmen hat man erlebt, dass die Bindung an Christus von den Gemeinden eingeklagt wurde. Der bayerische Bischof Meisner, eine wichtige Figur der Deutschen Kirche damals, sagte: „Die Synode muss nach Barmen, denn dort sind die Gemeinden dafür!“ Ich bete und arbeite dafür und wünsche mir, dass wir uns viel mehr und mutiger Gedanken darüber machen, wie wir die Gemeinden wieder befreien, damit sie all ihre Kraft auf die Bindung an Christus und ihren Auftrag setzen können, Menschen in die Freiheit der Gnade Gottes zu rufen. Kirche verändert sich von unten. Nicht mit einem Masterplan, sondern sozusagen in der unkontrollierbaren Kraft des Geistes Gottes.

Das ist ein Wagnis. Wir verlieren Sicherheiten, wir verlieren auch Kontrolle, vielleicht in manchen Bereichen auch Qualität oder zumindest Professionalität. Vielleicht erleben wir mehr Druck und weniger Gefälligkeit von außen, weil wir nicht mehr so „kompatibel“ sind. Viele unserer kirchlichen Vorschriften haben auch damit zu tun, dass wir uns staatlich kompatibel halten und daraus eine Menge Möglichkeiten gewinnen. Vielleicht erleben wir die neue Freiheit als Einschränkung, aber ich bin gewiss, wir gewinnen mehr.

Wir gewinnen an Glaubwürdigkeit in der Welt,
wir gewinnen an Vertrauen auf Christus, weil wir uns weniger auf andere Sicherheiten und Absicherungen verlassen,
wir gewinnen an Hoffnung auf Gottes Reich, die doch genau dann wächst und ihre Kraft entfaltet, wenn man aufhört, Zukunft nur dem Berechenbaren zuzutrauen.

Ihr Lieben, was wollte ich in dieser Predigt?

  • Nicht mehr und nicht weniger als dass wir Gottes Wort etwas zutrauen, es wertschätzen, es nicht belanglos machen oder machen lassen. Dass wir um und für es kämpfen.
  • Nicht mehr und nicht weniger als dass wir unserer olle Kirche und ihre Gemeinden nicht aufhören zu lieben und um ihre Reformation zu beten und an ihr zu arbeiten.
  • Nicht mehr und nicht weniger als dass jeder von uns zu einem bekennenden Christenmenschen wird, der die wunderbarste Nachricht der Welt gehört hat: „Jesus Christus ist bei Dir. Er, der von den Toten auferstanden ist, der versprochenen Retter aus der Nachkommenschaft Davids ist mit Dir.“ Und dass wir diese Botschaft von der freien Gnade Gottes, die allen Menschen gilt, nicht verschweigen.

Amen

Gehalten in der Ev.-reformierten Gemeinde Ronsdorf am 10.07.2016


Pfr. Dr. Jochen Denker