Kibbuz und Schabbes
Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 2. Kapitel
Tobias Kriener schreibt aus Israel:
7.9.2016
Heute gibt's nicht viel zu erzählen. Den Tag über habe ich meistens im CLD (Center of Learning and Dialogue for Peace) gesessen, den Erklärungen von Nina gelauscht, bewundert, wie schnell Hannah – die interimsweise als Nachfolgerin von Nina in der Position der Assistentin des „Coordinators of Dialogue“ (damit bin ich gemeint – muss ich mich auch erst mal dran gewöhnen, denn eine leibhaftige Assistentin (!!!!!) hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht...) alles begriffen hat, was Nina im Schnellfeuergewehrtempo auf sie niederprasseln ließ – und im Übrigen versucht, mich auf dem Dienstcomputer zurecht zu finden und überhaupt...
Am späten Nachmittag dann der „after-work-trip“ in den benachbarten Kibbuz Beit Ha'Emek zu unserem ersten Treffen mit Avner Shai. Er führte uns durch den Kibbuz und erklärte uns das Phänomen Kibbuz. Beit HaEmek ist 1949 auf einem verlassenen arabischen Dorf gegründet worden; Avner erläuterte, dass damals manche Araber sich darüber freuten, im neugegründeten Staat Israel leben zu können und deshalb blieben, andere sich dagegen entschlossen hätten, ihre Dörfer zu verlassen C wobei sie manchmal von der israelischen Armee ermutigt („encouraged“) wurden; ich bin nicht ganz sicher, ob da evtl. eine Prise Ironie durchzuhören war – denke aber eher nicht...
Unterwegs trafen wir die letzte überlebende Kibbuzgründerin – Rivka –, die uns dann erklärte, sie möge das gar nicht, wenn Leute Heldengeschichten erzählen – dann aber natürlich nur lauter Heldengeschichten erzählte von der Anfangszeit, unter welch schwierigen Bedingungen – kein Strom, kein Wasser, kein gar nix – die Gründergeneration den Kibbuz ausgebaut hat; warum sie ausgerechnet an diesen gottverlassenen Ort geschickt wurden damals vom Staat Israel, weiß sie bis heute nicht (ich hätte da schon so die eine oder andere Idee...).
Außergewöhnlich an Beit HaEmek ist, dass er – so Avner – der einzige nicht-religiöse Kibbuz ist, der eine Synagoge hat; früher wurden die Jugendlichen dort gemeinsam auf ihre Bar bzw. Bat Mitzwa vorbereitet C ganz ähnlich wie unser Konfiunterricht; heute ist das aber alles wohl wieder privatisiert, und jede/r Bar/Bat Mitzwa wird an seinem Geburtstag gebarmitzwat.
Kollektiv sei damals auch das Liebesleben gewesen – das erste Kind, das im Kibbuz geboren wurde, wurde „Gang“ genannt (ich muss ihn noch mal nach dem hebräischen Wort fragen); warum? weil eben alle mit allen geschlafen hätten, und deshalb niemand wusste, wer der Vater des Kindes war – nicht einmal die Mutter.
Im Übrigen habe ich lange nicht mehr einen Kibbuznik mit solcher Überzeugung über die gemeinsame Kindererziehung erzählen hören; die Schattenseiten dieser kollektiven Erziehung kamen bei ihm gar nicht vor.
Wir werden ihn monatlich treffen – und damit werden die Volontär_innen viele Aspekte des Lebens in Israel von einem Vertreter der alten Werte des israelischen Pioniergeistes vermittelt bekommen. Und damit werden sie einen Eindruck davon bekommen, in welchem Geist der Staat Israel aufgebaut wurde, und wie weit die heutige Wirklichkeit sich von diesem Gründergeist entfernt hat.
In jedem Fall wurde für die Volontär_innen deutlich, wie viel vom Gemeinschaftsgeist der Kibbuzim auch für die Gründer Nes Ammims Vorbild war – und bis heute das Leben in der Gemeinschaft von Nes Ammim bestimmt (wir wollen mal hoffen, dass sie das aber nicht übertreiben – besonders mit Blick auf ihr Liebesleben).
Auf der Rückfahrt entspann sich dann noch ein intensives Gespräch über die Frage, wer Jude/Jüdin ist – Naomi ist z.B. Jüdin, weil ihre Mutter Jüdin ist; ob man Jüdin werden kann; ob Judentum eine Religion oder einen Nationalität ist; wie das funktioniert mit der israelischen Staatsbürgerschaft und dem Jüdisch-sein; wie das ist mit der Anerkennung von Konversionen bei nicht-orthodoxen Rabbinern usw. usf. – also all die schönen, talmudisch-kompliziertesten Probleme in diesem Zusammenhang wurden gleich auf den Tisch gelegt. Ich weiß gar nicht genau, wie wir drauf kamen – ich glaube, der Anblick des gelbgestrichenen Tores am Eingang zu Beit HaEmek erinnerte die Volontärinnen im Auto an eine Diskussion über das Tor von Nes Ammim; dass dieses Tor eine umstrittene Sache ist, habe ich auch in anderem Zusammenhang schon gehört – aber ich muss noch mal versuchen rauszufinden, was genau der umstrittene Punkt dabei ist – das habe ich nicht so ganz verstanden. Ich halte euch auf dem Laufenden.
Das Fahrrad ist da!!
8.9.2016
Seit heute bin ich wieder Fahrradfahrer! Ein nettes, kleines Faltrad – es kriegt noch Schutzbleche und einen kleinen Gepäckträger; die Bremsen müssen noch etwas besser eingestellt werden. Aber es ist einfach nett, jetzt flink mal von der Kreuzung bei Regba nach Nes Ammim radeln zu können. Und ich freue mich schon drauf, nächste Woche in aller Ruhe Netanja erkunden zu können
Heute Morgen hätte ich's schon gut gebrauchen können, denn da der erste Bus erst um 6:30 Uhr geht, Katja aber um 4 Uhr in der Nacht angekommen ist, bin ich um kurz nach fünf zu Fuß losgegangen; ich hatte gehofft, dass ein Frühpendler mich bis zur Kreuzung mitnehmen würde – aber ich sehe wohl zu furchteinflößend aus ... aber es war schön, in der Morgendämmerung zu gehen und die Sonne über den galiläischen Bergen aufgehen zu sehen, und immerhin weiß ich jetzt: zu Fuß dauert's eine gute 3/4 Stunde. Mit Katja traf ich mich in Tel Aviv, wo ich einen Termin in der Botschaft hatte, um den Antrag für das Dienstvisum abzugeben; das ging alles reibungslos; die deutsche Botschaft hat einen wunderschönen Arbeitsplatz im 19. Stockwerk über dem Häusermeer von Tel Aviv.
Leider bin ich mit dem fotografieren noch zu langsam – es waren so tolle Motive – aber ich war immer zu spät: zum Beispiel das absolute Klischee der israelischen Frau – mehrmals: eine Schönheit mit langen schwarzen Haaren, die lässig eine Wumme umhängen hat, die einem Arnold Schwarzenegger alle Ehre machen würde; oder das Chaos vor den Ampeln, wenn sich die zahlreichen Fahrräder mit Elektromotor nach vorne drängeln.
Auf dem Hinweg habe ich ein paar Fotos aus dem Zug von den Staus auf der nebenan verlaufenden Autobahn gemacht: das muss man wirklich sagen: in Sachen Eisenbahn haben die Israelis einen Quantensprung gemacht; dass das relativ kleine Netz nicht elektrifiziert ist, ist zwar eines Hightech-Landes unwürdig – und die Dieselschwaden in den Bahnhöfen sicher der Gesundheit nicht zuträglich; aber zwischen Haifa und Tel Aviv ist man richtig zügig unterwegs; beim Komfort muss man nur kleine Abstriche machen – mal wieder wegen der Klimaanlage, die im Zug für Temperaturen wie am Südpol sorgt.
Heute Nachmittag hatten wir den ersten Workshop mit Chana Zwaiter von der Organisation Kaleidoscope – da wird es sicher noch Interessanteres von zu erzählen geben als heute; deshalb lasse ich's hier dabei. Dann gab Nina – Rainers Assistentin, die mich in der vergangenen Woche eingeführt hat – zum Abschied einen aus. Und gleich gibt's noch den bar-evening – da werde ich allein hingehen, denn Katja ist schon vor der Tagesschau eingeschlafen (guckt sie im Internet).
Bis denne – Tobias
Schabbes
10.9.2016
Gestern – am Freitag – habe ich ganz früh die Impfung bekommen – diesmal aber völlig unspektakulär: alle Rechnungen waren bezahlt, alle Stempel gestempelt, sodass tatsächlich die Krankenschwester nur noch die Spritze zu setzen brauchte, und nach fünf Minuten war ich wieder draußen.
Länger brauchte es dann, um eine Ha'aretz zu finden (die einzige renommierte Tageszeitung Israels): der freundliche junge Mann mit „orientalischem Hintergrund“ (analog unserm „Migrationshintergrund“) in dem Laden in Akko, in dem ich nach Ha'aretz fragte, gab mir im Brustton der Verachtung dieses Elitenprodukts zu verstehen: „Be kol Akko lo timtzah ät haaretz“ (in ganz Akko wirst du keine Ha'aretz finden).
Und so war es.
Auf dem Rückweg habe ich sie aber dann doch noch gefunden im Buchladen an der Kreuzung von Regba. Damit war der Schabbat gerettet – denn ein Schabbat ohne Ha'aretz ist kein richtiger Schabbat.
Ich bin aber kaum dazu gekommen, sie zu lesen, weil wir am Freitag mit Hausbesichtigung beschäftigt waren, und am Samstag mit Übergabe der Geschäfte der Dialogkoordinatorin an Katja. Immerhin haben wir's am Samstagvormittag kurz in den Supermarkt im benachbarten arabischen Dorf Masra'a geschafft und ans Meer, wo Katja beim Schwimmen Glück getankt hat, während ich im Schatten einen Kaffee schlürfte.
Tobias Kriener, September 2016
Ein Fortsetzungs-Tagebuch auf reformiert-info. Von Tobias Kriener
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