Bizarres an der Sperrmauer

Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 34. Kapitel

Screenshot aus dem Artikel Barta'a im engl. WIKIPEDIA

Ost- und West Barta'a - Profit vom freien Handel als Mittel gegen Terrorismus?

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Inhalt Tagebuch

Tobias Kriener erzählt:

10.2.2017

Gestern waren wir den ganzen Tag mit Lydia Aisenberg unterwegs. Noch eine von diesen Frauen an oder jenseits der Pensionsgrenze, die anscheinend nicht damit ausgelastet sind, ihre (in ihrem Fall 10!) Enkelkinder zu betreuen, sondern auch noch die Zeit und die Power haben, sich für Frieden zwischen Israelis und Palästinenser_innen einzusetzen. In ihrem Fall als Mitarbeiterin von Giv'at Havivah, dem Bildungswerk des HaShomer HaZa'ir, der linkeren der beiden großen Kibbuzverbände. Ihr Kibbuz Mishmar HaEmek, den sie uns am Vormittag zeigte, gehört dem HaShomer HaZa'ir an.

Sie wurde in Wales geboren. Weit und breit war ihre Familie die einzige jüdische. Und ihre persönliche Geschichte zeigt (wieder mal), dass man nicht gleich den Holocaust bemühen muss, um die Notwendigkeit des Staates Israel zu erklären: Sie war im Großbritannien der 50er und 60er Jahre als Schulkind und dann später, als sie Wohnung und Job suchte, unverhohlener Diskriminierung als Jüdin ausgesetzt. Darum ist sie nach Israel eingewandert und hat sich, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, in einem der linkeren Kibbuzim niedergelassen.

Nach einem kleinen Rundgang im Kibbuz – u.a. zum ersten Holocaustdenkmal überhaupt in Israel – und einer Gesprächsrunde vor ihrem Häuschen in warmer Frühlingssonne hat sie uns dann nach Barta'a mitgenommen, einem arabischen Dorf auf der grünen Linie im „Kleinen Dreieck“ mit ganz besonderer Geschichte: Bei den Waffenstillstandsverhandlungen in Rhodos 1949 ist dieses Dorf durch die Waffenstillstandslinie geteilt worden:

Der westliche Teil landete im Staat Israel, der östliche in Jordanien – mit allen Konsequenzen, die das für die Menschen hatte; Trennung von Familien usw. Durch die Eroberung der Westbank 1967 kamen die Leute dann wieder zusammen – und stellten fest, wie fremd sie sich geworden waren – ein bisschen so wie Wessis und Ossis bei uns. Und schließlich ergibt sich durch den Bau der Sperranlage heute wieder eine besonders bizarre Situation: Die Sperrmauer verläuft 3 km innerhalb der Westbank (wegen dreier israelischer Siedlungen östlich von Barta'a) – Barta'a ist also nicht wieder geteilt. Aber weil Ost-Barta'a in Area B liegt und damit unter palästinensischer Verwaltung ist, und West-Barta'a eine Kommune in Israel, ergeben sich unverhoffte Geschäftsmöglichkeiten: Z.B dadurch, dass Ost-Barta'a keine Steuern zahlt, weil die palästinensischen Steuerbehörden einfach keinen Zugang haben durch die Sperranlage.
Deshalb haben sich viel Geschäfte hier angesiedelt: Ost-Barta'a ist Boomtown. Dafür ist die Infrastrultur völlig heruntergekommen – es gibt ja niemanden, der sich z.B. darum kümmert, die Straßen auszubessern.
Bizarr auch die Tatsache, dass die Grenze natürlich nicht sichtbar ist: Jeder kann ungehindert aus Ost-Barta'a nach West-Barta'a (also in den Staat Israel) gehen – man merkt ja gar nicht, dass man die Grenze überschreitet. Dennoch haben Ost-Barta'aner natürlich kein Aufenthaltsrecht in Israel – ebenso wenig die Leute, die mit israelischem Passierschein durch die Sperranlage aus der Westbank nach Ost-Barta'a pendeln. Eigentlich ein Rieseneinfallstor für Terroristen. Dennoch kamen hier bisher keine Selbstmordattentäter durch – weil so viele Leute von der bizarren Situation profitieren, und damit wäre natürlich schlagartig Schluss, wenn jemand diesen Zustand für einen Anschlag ausnutzen würde.
Woraus man natürlich den Schluss ziehen könnte, dass man Terrorismus am effektivsten bekämpft, indem man den Leuten den Anreiz gibt, von friedlichem Handel und Wandel zu profitieren. Dem steht allerdings das ideologische Interesse der Groß-Israel-Lobby entgegen.

Nach dem Lunch in einer Humusbude in Barta'a führte Lydia uns dann noch zum Checkpoint und an ein paar Aussichtpunkte mit wunderbar malerischen Blicken auf das samarische Bergland mit seinen Dörfern – durchzogen vom allgegenwärtigen Lindwurm der Sperranlage.

13.2.2017

Jetzt ist das Zwischenseminar fast geschafft. Hier noch schnell ein kleiner Nachtrag – muss ich schnell erzählen, weil's mal wieder so schön war bei den Reformierten:

Freitag waren wir in Kirjat Tiv'on, wo uns Or, der Rabbiner der Reformgemeinde dort, in seiner ruhigen, klaren, persönlich berührenden Art erklärt hat, was Reformjudentum ist, was es für Probleme hat in Israel mit dem orthodoxen Establishment, vor allem aber von den vielen Möglichkeiten, die er hat und sucht, Menschen zu erreichen: Ganz ohne Jammern und Klagen, ohne die Anderen schlechtzumachen – so etwas hat er einfach nicht nötig.

Und dann haben wir an der Kabbalat Schabbat teilgenommen. Or war, bevor er die Rabbinerausbildung gemacht hat, Musiker. Er hat den Gottesdienst mit seiner Gitarre begleitet – sehr schlicht, sehr innig – geradezu meditativ – wunderschön.
Er hatte mich gebeten, die Drascha zu machen – was ich gerne getan habe. Diesmal war ich so früh dran, dass ich die Zeit hatte, den Text von Miri – einer der beiden Frauen im Hoteloffice – sprachlich überarbeiten zu lassen. Sie haben sich darüber sehr gefreut, und natürlich darüber, dass wir da waren, haben uns gleich zu allen möglichen Anlässen eingeladen und wollten uns beim anschließenden Kiddusch gar nicht gehen lassen – und wir wären auch gerne noch länger geblieben – aber es standen noch Mentorengespräche auf dem Programm, weshalb wir zurückmussten.

Ich hänge mal den Text meiner Drascha an.

Parashat HaShavua „Beshalach“ (Exodus 14,10 – 17,16)

The portion of the week that is read on this Shabbat begins and ends with the miraculous saving of the people of Israel from it's foes's attempts to destroy it.

The foe at the beginning of the weekly portion is Pharao, the king of Egypt -  not the Egyptian people as I'd like to stress! – who is drowned in the Red Sea by means of the miraculous parting and returning of the waters.

The foe at the end of the reading portion is “Amalek” – a people that befalls the people of Israel without any reason – absolutely "out of the blue" -  and Israel is again saved by miracle as well as by cleverness. The miracle is that Israel is winning as long as Moses holds his arms up; the cleverness is that Aaron and Hur hold his arms up when he is getting tired. Here we hear the well-known words: “I will utterly put out the remembrance of Amalek from under heaven.” (Ex 17, 14)

The Haftarah – the reading from the prophets – corresponds with the two stories about the wonderful saving of Israel.  It's chapters 4 and 5 of the book of Judges, the story of the surprising victory over the army of Jabin, the king of Chatsor. Deborah – the woman beeing both prophet and judge – together with Barak is victorious over the army of Sisera, the commander in chief of Jabin's army, which is techologically way superior over the army of the Israelites : It has 900 iron chariots – the tanks of ancient times – whereas the army of Deborah and Barak has not a single one. So the victory over Sisera's army is given to Israel again by way of a wonder: Adonaj confused Sisera and all his chariots and his whole camp  - thus we read in vers 15.

Sisera flees from the battle and reaches the tent of Chever the Kenite and his wife Yael. She invites him and gives him to drink and a place to rest. But as soon as he has fallen asleep she kills him by driving a tent peg through his head. Thus is fulfilled the prophecy of Deborah that we read in vers 9: “Adonaj will hand Sisera over to a woman.”

I (and my wife, of course) have a very intimate relation to this story because we called our first daughter Yael. We didn't think too much about it and didn't mean to attach a deeper meaning to it; the name just sounds nice, and we knew some Yaels from the times that we spent in Israel. So we decided to give her this name.

When my aunt heard that we gave our daughter this unusual name she wantd to know more about it and opened her bible and read the story in Judges 4 and 5. Then she sat down and wrote a long letter in which she explained at length and in detail why she doesn't agree at all that we gave our daughter the name of a woman that did such a horrible deed. Her resumee was: “Pfui – so etwas tut man nicht!” Tut – it's really not proper to do such a thing.

Now I had to justify our decision a little more at length and in depth. So I delved into the exegesis of chapters 4 and 5 of the book of Judges and took the opportunity to put them in the center of my sermon on the next Sunday in the church I was serving at that time as a pastor.

My conclusion is that it's very much adequate to call a non-Jewish girl – a girl from the other nations – the daughter of Christian parents – by the name of Yael.

The first and very simple reason is that Yael is not Jewish – she doesn't belong to the Jewish people. So it's a non-Jewish name – a name perfectly suitable for non-Jews.

The second reason is more significant: Yael's deed certainly isn't “nice” - it's a cruel deed, this can't be denied. But there are situations where you can't refrain from extreme actions in order to prevent an even bigger mischief. There are situations where one has to kill a villain in order to protect people who are innocent.

The most reknown example for such a situation is the assassination attempt on Adolf Hitler on July 20th 1944. The assassins of July 20th 1944 are the role model for another, for a new Germany. Yael belongs to this special kind of people who take upon themselves the awkward task to carry out a violent act in order to save a great number of people from crimes against humanity.

If you read the story of Yael from this perspective it turns out that Yael is sort of the very first “Righteous among the Nations”. And from there it follows that it's of course appropriate to call our first daughter Yael: After the Woman who saved Israel from a cruel villain and who therefore deserves that her name is remembered for all times – and not only through the Jewish girls that bear her.

 


Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, Februar 2017
Leben in Israel zwischen Golan und Sinai, Mittelmeer und Jordan, unter Juden, Muslimen, Christen, Agnostikern,Touristen, Freiwilligen - Volontären, Israelis, Palästinensern, Deutschen, Niederländern, Schweden, Amerikanern undundund

Ein Fortsetzungs-Tagebuch auf reformiert-info. Von Tobias Kriener
 

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