Palmsonntagsprozession und Sederabend in Jerusalem
Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 43. Kapitel
Tobias Kriener erzählt:
11.04.2017
Sonntag sind wir zur Palmsonntagprozession nach Jerusalem gefahren. Um pünktlich um 10.30 Uhr zum Gottesdienst in der Erlöserkirche zu sein, sind wir - in Erwartung der gewohnten Staus bei der Einfahrt nach Jerusalem - sehr zeitig um 6.00 Uhr losgefahren. Aber - oh Wunder: Es gab auf der gesamten Strecke nirgends auch nur den Hauch eines Staus.
Wir kamen völlig glatt durch, waren um 9 Uhr am Jaffator und hatten die Parkgarage dort praktisch für uns. So hatten wir reichlich Zeit bis zum Beginn des Gottesdienstes noch Kaffee zu trinken oder durch die Altstadt zu schlendern. Was war los? Nun: Es sind Pessachferien, und anscheinend ist halb Israel aus Reisen im Ausland. Diese Entlastung des Verkehrs machen nicht einmal die um diese Zeit verstärkt anrückenden Touristenscharen wett. Man kann glatt den Eindruck bekommen, dass Israel ist in diesen Tagen praktisch leergefegt ist.
Nach dem Gottesdienst wie immer Gelegenheit zu Kontakten im Kreuzgang der Erlöserkirche - inzwischen komme ich mir schon wieder in gewisser Weise zu Hause hier vor, denn viele Leute treffe ich zum wiederholten Mal - von einigen muss man sich schon wieder verabschieden, weil ihre Zeit hier bereits abgelaufen ist! Und ich bin inzwischen bereits über ein halbes Jahr hier. Die Zeit rast...
Für die Prozession konnten die Volos frühzeitig einen Logenplatz auf der Mauer des muslimischen Friedhofs beziehen, die den Weg zu Löwentor säumt. Es herrschte eine entspannte, heitere Stimmung; ich hatte den Eindruck, dass die palästinensischen Christen eine Art kleinen Regionalkirchentag feiern: Man genoss die noch sehr milde Sonne, verzehrte das mitgebrachte Picknick, bearbeitete das Smartphone, schwatzte, fotografierte, ließ sich von schwungvollen arabischen Weisen aus den Lautsprechern beschallen, ich traf im Gewimmel meinen Arabischlehrer Achmad und später entdeckte Katja unsere „Brot-Kollegin“ Anisa aus Beit Sahour; auf ihrem T-Shirt präsentierte sie die politischste Botschaft dieses Nachmittags („Teach Peace“ mit einem Kreuz an der Stelle des T, einem Davidsstern an der Stelle des ersten A und einem Halbmond an der Stelle des C).
Die Prozession war dann vor allem geprägt von fröhlichem Singen und Musizieren. In den vergangenen Jahren muss es nach Aussage meines Vorgängers Rainer Stuhlmann wesentlich politischer zugegangen sein.
Dieses Jahr konnte ich kein einziges Plakat mit politischer Aussage entdecken. Auffällig waren dagegen die vielen Gruppen von Teilnehmern aus dem Ausland, die die verschiedensten Musikstile bis hin zu lateinamerikanischen Sambarhythmen beisteuerten. Friedlich und ausgelassen singend zogen sie alle nach Jerusalem ein und wir hinterher - und dann zurück zu den Autos.
(Mein Fotoapparat-Problem konnte ich übrigens noch nicht lösen; die Fotos im Anhang konnte ich machen, weil mir Rainer dankenswerterweise seine Kamera zur Verfügung gestellt hat!)
Auf dem Rückweg holten Katja und ich dann noch meine Cousine Karin mit ihrem Mann Andreas vom Flughafen ab und waren zur durchaus zivilen Zeit von 23.00 Uhr wieder zu Hause in Nes Ammim.
Nach einem hektischen Vormittag, an dem viele Sachen erledigt werden mussten (und konnten), fuhren Katja und ich dann gestern gleich wieder nach Jerusalem zur Feier des Seder-Abends am Vorabend des Pessachfestes bei unseren Freunden Chaja und Schmuel. Diesmal kamen wir nicht so problemlos durch (die Autobahn 1 nach Jerusalem war aufgrund von Unfällen stauverseucht) und haben die Alternativstrecke nach Jerusalem durch Modi'in und die Westbank genommen, etwa 20 Kilometer Straße, die völlig von Mauer, Stacheldraht, Wachtürmen und Checkpoints eingerahmt ist - ein niederschmetternder Anblick, selbstverständlich aus Sicht der Palästinenser_innen, die dahinter leben; aber ich finde, dieses Straßenbild eröffnet auch für die Israelis, die diesseits leben, keine erfreuliche Perspektive; so sieht es aus, wenn man sich darauf einrichtet (bzw. meint, nicht anders zu können, als sich darauf einrichten zu müssen), auf ewig hinter der berühmten Jabotinskyschen „eisernen Mauer“* zu leben.
Auf dieser Straße kamen wir wiederum glatt durch - hatten sogar noch Zeit nach Talita Kumi in Beit Jala zu fahren, um die Wanderschuhe abzuholen, die ein Volontär beim Westbankseminar im Bus hatte liegen lassen.
Das Besondere am Seder-Abend bei Schmuel und Chaja ist, dass sie zusätzlich zur traditionellen Pessach-Haggada noch ein Liedheft erstellen, für das sich jeder der Gäste ein Lied wünschen darf. Wir waren ausdrücklich aufgefordert, ein Lied aus unserem Gesangbuch auszuwählen - wir nahmen dann EG 648 „Wir haben Gottes Spuren festgestellt“, dass erstens gänzlich unchristologisch ist - also auch von Leuten mitgesungen werden kann, die nicht glauben, dass Jesus der Messias ist - und zudem in der 2. Strophe sehr deutlich die Befreiungsbotschaft von Pessach aufnimmt.
Schmuel verändert auch den Text der Aggada selber an ein paar Stellen, um sie an heutige Verhältnisse bzw. seine Bedürfnisse anzupassen. Z.B. sagt er statt: „Gieße deinen Zorn aus über die Gojim (d.h. die Menschen aus den anderen Völkern), die dich nicht kennen...“ „Gieße deine Liebe aus über die Gojim, die dich kennen...“ Und wir waren gebeten, zu zwei der Psalmen aus dem Hallel (Ps 113 + 114) ein paar Gedanken aus unserer Sicht zu äußern. Alles keine großen, weltbewegenden Dinge - aber genau bedachte Aufmerksamkeiten, die den Gästen ermöglichen, von ganzem Herzen das Gedächtnis der Befreiung Israels mitzufeiern.
Wenn es nach Schmuels Vater gegangen wäre, der - obschon bereits in den 80ern - intellektuell hellwach ist und am liebsten bis in die Morgenstunden hinein lernen würde, hätte es noch länger gedauert als bis 2 Uhr in der Nacht. Zwischendurch dämmerte ich ein paar Mal ein, Katja legte sich für ein paar Minuten hin, die Töchter ließen gelegentlich den Kopf auf den Tisch fallen - nur Schmuel und Chaja und der alte Mosche Herr und seine Frau hielten unverdrossen durch.
Jetzt waren die Straßen natürlich absolut leer, und wir schafften es in der Rekordzeit von gerade einmal 2 Stunden zurück nach Nes Ammim.
* Die eiserne Mauer (Wir und die Araber) - ein Essay Ze'ev Jabotinskys (1923).
Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, April 2017
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