Jad vaShem und Breaking the Silence
Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 45. Kapitel
Tobias Kriener erzählt:
26.4.2017
In der letzten Woche ist so viel passiert, dass ich keine Zeit gefunden habe, das aufzuschreiben - heute geht's endlich, aber es nötigt mich, zwischen sehr verschiedenen Themen hin- und herzuspringen. Ob dabei ein großer Bogen herauskommen kann?
Letzten Donnerstag waren wir in Jad VaShem - ein ganzer Tag, vollgepackt mit Informationen. Besonders beeindruckend für mich das Gespräch mit Ruth, die das Warschauer Ghetto überlebt hat – wundersamer Weise haben auch ihre Schwester und ihre Eltern es überlebt. Es war ein wohlbehütetes Elternhaus. Mit dem Einmarsch der Deutschen (der Deutschen - das klingt so distanziert - es liegt ja auch eine lange Zeit zurück - aber: zu „den Deutschen“ gehöre eben heute ich), also: mit dem Einmarsch der Soldaten des Landes, dessen Bürger ich knappe 80 Jahre später bin, wurde dieses gebildete, liebevolle Elternhaus erbarmungslos zerstört: Der Vater musste seine Bibliothek den Gaunern überlassen, als sie zum Umzug ins Ghetto gezwungen wurden; die Mutter erbettelte sich, dass sie das Klavier mitnehmen konnte - aber in den Lebensverhältnissen des Ghettos verlor es sehr schnell seine Bedeutung. Ja, es ist ein Wunder, dass die gesamte Kleinfamilie überlebt hat. Aber es ist kein Happy-End - ihnen wurde alles genommen, ohne Grund, ohne Sinn. Sie erzählt es ganz schlicht, ihre Traurigkeit ist deutlich spürbar, sie erzählt ohne zu klagen oder anzuklagen. Sie erzählt schließlich auch davon, wie sie ihren Mann gefunden hat in Schweden, nach dem Krieg, von ihren Kindern und Enkeln - was aber natürlich das Vorangegangene nicht ausgleichen kann.
Unser Guide ist wohlinformiert, umgänglich, freundlich. Er bleibt ganz in der Geschichte und enthält sich jedes Versuchs, politische Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Ist vermutlich ganz gut so, denn er wohnt in Gusch Etzion, dem Gebiet südwestlich von Jerusalem in der Westbank, wo vor 1948 fünf Kibbuzim lagen, die im Unabhängigkeitskrieg zerstört wurden und 1967 wieder errichtet wurden - Keimzelle der Siedlerbewegung in der Westbank.
Wir beschließen den Tag mit einer kleinen Gedenkzeremonie im „Tal der Gemeinden“; Worte aus den Psalmen und von Nelly Sachs ermöglichen uns, nach all dem, was auf uns eingestürmt ist und uns sprachlos gemacht hat, unser Mit-Leid, unsere Mit-Trauer zum Ausdruck zu bringen und so wieder ein wenig Fassung zu gewinnen.
Am Wochenende dann ist Chillen mit Schuli angesagt, die uns zu Ostern besuchte: Dazu gehört Frühstück auf der Terrasse (was uns am nächsten Morgen eine Ameisenplage einträgt, die wir aber mit gründlichem Wischen des Bodens und dem Ausstreuen von Backpuler in den Griff kriegen. Backpulver mögen sie in der Tat gar nicht ...), Strand in Shavei Zion und Sonnenuntergang an der Strandpromenade in Akko mit Abendessen im Uri Buri.
Am Montag ist Jom HaShoa - der Gedenktag für die Opfer des Judenmords. Um 10 Uhr ertönt die Sirene. Wir fahren zur Zomet Regba, der vielbefahrenen Kreuzung an der Autobahn 4, um mitzuerleben, wie der Verkehr für 2 Minuten anhält und die Fahrer_innen aussteigen. Auch ein unerwartet berührender Moment für mich, vielleicht deshalb, weil eben auch der beinamputierte Bettler, der tagein, tagaus - in brütender Sommerhitze ebenso wie in nasskaltem Winterwetter - auf der Verkehrsinsel auf und abfährt, um Almosen einzusammeln, sich aus seinem Rollstuhl erhebt, die Kappe abnimmt und aufrecht im Gedenken verharrt.
Der Jom HaShoa ist kein Feiertag - deshalb ist (es ist montag) abends wie immer Arabischkurs. Weil ich da ohnehin große Schwierigkeiten habe mitzuhalten, beschließe ich, die 4 Unterrichtseinheiten nicht sausen zu lassen - und stattdessen auf die große Gedenkfeier in Lochamei HaGetaot zu verzichten, obwohl in diesem Jahr Ex-Bundespräsident Joachim Gauck teilnimmt und spricht.
Kirjat Arba
Und am Tag drauf dann fuhren wir mit „Breaking the Silence“ nach Hebron. Morgens mussten wir wieder sehr früh raus: Um 5 Uhr zum Bahnhof nach Akko, von da mit dem Zug nach Tel Aviv. Weil wir früher dran waren als erwartet, hatten die Volos Gelegenheit, in der Morgensonne auf den Stufen vor der Busstation noch ein bisschen Schlaf nachzuholen, bis Merphie und Adi, unsere Guides, kamen.
Auf der Busfahrt nach Hebron dann setzte Merphie uns sehr strukturiert und klar verständlich auseinander, wie die Besatzung funktioniert. Auf dem Weg ins Zentrum von Hebron kommen wir durch Kirjat Arba, die Siedlung am nördlichen Rand der Stadt. Hier stiegen wir kurz aus, um in den Meir-Kahane-Park zu gehen - ja, so ist es: Die Stadtväter von Kirjat Arba haben einen Park nach diesem jüdischen Rassisten benannt, dem die Teilnahme an den israelischen Knessetwahlen in den 80ern verboten wurden (nachdem er eine Legislaturperiode in der Knesset gesessen hatte) aufgrund seines rassistischen Wahlprogramms. Auf dem Widmungsstein der Stadt wird er als „Heiliger“ und „Märtyrer“ (er wurde in New York auf offenen Straße erschossen) gefeiert. Natürlich wusste ich das vorher - es hat mich also nicht überrascht. Aber: Geschrieben und geredet wird viel über die Siedlerbewegung im Allgemeinen und über die Geschichte von Kirjat Arba im Besonderen. Das bleibt abstrakt - eine Frage der politischen Diskussion. Aber es so in Stein gemeißelt vor sich zu sehen, mit dem Stadtwappen von Kirjat Arba oben darüber, als unverbrämtes Signal: So denken wir, so sind wir drauf - das ist doch noch mal etwas anderes.
Im Park dann der Grabstein von Baruch Goldstein, der 29 Muslime beim Gebet erschoss. Auch er wird als „Heiliger“ und als Märtyrer bezeichnet, der um der „Heiligung des Namens“ willen „ermordet“ worden sei. Immerhin: Es gibt nur noch diesen Grabstein; das Monument, das man darum herum erbaut hatte, um ihn pompös feiern zu können, wurde nach Erlass eines entsprechenden Gesetzes durch die Knesset abgerissen
Breaking the Silence
Danach fuhren wir dann ins Zentrum von Hebron, in die Geisterstadt, die dort entstanden ist, weil für die Sicherheit der vier Siedlungen im Zentrum von Hebron die Bewegungsfreiheit für die palästinensischen Bewohner der Stadt stark eingeschränkt wurde. Koninzidenz der Ereignisse: Auf dem Weg erreicht mich die Whatsapp von Katja, dass der israelische Premierminister Netanjahu damit gedroht habe, einen Termin mit unserem Außenminister Siegmar Gabriel abzusagen, sollte dieser dabeibleiben, ein Gespräch mit Vertretern von BeTselem, Schalom Achschav und Breaking the Silence zu führen.
Wir setzen unseren Weg fort: Alles sehr beeindruckend, was Merphie erzählt - aber die leere Straße, die Stille hat auch etwas Idyllisches. Die Sonne scheint - kräftig, aber in der Höhenluft doch nicht allzu heiß. Merphie referiert über die strukturelle Ungleichheit und Ungerechtigkeit der Besatzung, was sie mit den jungen israelischen Soldaten macht, darüber, dass immer die Palästinenser die Leidtragenden sind: Wenn Baruch Goldstein ein Massaker verübt, wird über die Stadt eine 2-wöchige Ausgangssperre verhängt, ebenso, wie wenn ein palästinensischer Sniper ein Baby in einer der Siedlungen im Stadtzentrum von Hebron erschießt. Ja, es ist ungerecht; ja, die Besatzung muss aufhören. Merphie hat Recht - Breaking the Silence hat Recht - es ist ein schöner Tag, ein spannender Study-Trip - das Leben ist schön für Volontäre aus Nes Ammim. Mit anderen Worten: Ich bleibe seltsam unberührt. Merphie ist ja auch keine Hetzerin - sie wiegelt nicht auf - sie berichtet einfach nur ganz sachlich.
Wir sind kurz vor unserer letzten Station, wo wir auch noch einen palästinensischen Aktivisten treffen wollen. Da wird die Sache dann doch noch ganz persönlich - und dafür sorgt Zahal, die „Armee zur Verteidigung Israels“: Am soundsovielten Checkpoint auf der Strecke dürfen wir nun nicht mehr durch. Merphie diskutiert mit den beiden Soldaten am Checkpoint - Adi steht mit ihrem Handy daneben und filmt. Der Soldat beruft sich auf den Kommandeur; Merphie will den Kommandeur sprechen und den Befehl sehen, mit dem die Straße vor uns zur militärischen Sicherheitszone erklärt wurde; Adi telefoniert mit dem Rechtsanwalt von Breaking the Silence. Alles ganz unaufgeregt: Das komme öfter vor - kennen sie.
Wir nutzen die Zeit, setzen uns in den Schatten, ich hole meine Hummus- und Olivenvorräte raus und lasse die Volos am Schmaus teilhaben. Ein ranghöherer Soldat kommt, diskutiert mit Merphie und Adi - wir lassen es uns schmecken. Schließlich kommt das Kommando: Hier könnt ihr nicht warten bis euer Rechtsanwalt sich meldet - wir werden von 3 Soldaten bis an den Fuß der Steigung zurück begleitet.
Dort warten wir dann noch ein Weilchen, bevor wir uns schließlich auf den Rückweg machen. Wir kommen wieder am Checkpoint vor Beit Hadassah vorbei, noch 20 Meter, dann wären wir an unserem Bus, der dort auf uns wartet - und nun dürfen wir da nicht weiter. Nicht vor - nicht zurück? Nein, nein - wir sollen nur einen Umweg den Berg hinauf machen. Lamah? Kacha! (Warum? Darum!) Befehl von oben. Darauf aber will sich Merphie nicht einlassen. Wieder Diskussionen - Telefonate. Eine Viertelstunde später dürfen wir dann doch zu unserem Bus, unter der Auflage, dass wir Hebron unverzüglich verlassen. Dürfen wir an der Machpela noch die Toiletten benutzen? Ja, sicher - Zahal besteht ja nicht aus Unmenschen.
Wie gesagt: Damit wird ein Info-Trip doch noch zur persönlichen Angelegenheit: Zahal sieht in uns ein Sicherheitsrisiko, d.h. nein - natürlich tut Zahal das nicht; Zahal mag nur Breaking the Silence nicht und legt ihnen Steine in den Weg. Dass sie, indem sie sich gegen uns stellen, uns gegen sie aufbringen - ist ihnen anscheinend egal. Was soll's. Ist ja auch nicht wichtig. Ebenso wenig, wie es für Netanjahu wichtig ist, mit dem deutschen Außenminister zu reden. Die Sicherheit - oder was der zuständige Kommandeur oder der amtierende Premierminister dafür hält bzw. dafür ausgibt - ist wichtig. Der Eindruck, den ausländische Besucher bekommen, ist demgegenüber natürlich unwichtig - selbst diplomatische Beziehungen zweitrangig.
Es war keine große Sache - nichts für eine Pressemitteilung oder eine Beschwerde bei der deutschen Botschaft. Es hat nur ein ganz klein bisschen nachfühlbar gemacht, was Besatzung bedeutet: Der da mit der Uzi in der Hand kann mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Argumentieren gibt's da nicht. Auch verbriefte Rechte sind wenig wert: Breaking the Silence hat sich 2008 ja vor dem Obersten Gerichtshof das Recht erstritten, Gruppen durch Hebron zu führen. Aber wenn der Kommandeur am 6. oder 7. Checkpoint meint, hier geht's nicht mehr weiter, dann geht's nicht mehr weiter.
Fragen und Fragen
Das Zauberwort ist „Sicherheit“. Soll ich doch noch den großen Bogen wagen?
Ist dieses Sicherheitsbedürfnis nicht gerechtfertigt, weil sich nur so verhindern lässt, dass den Ruths von heute in ihren beschaulichen Lebensverhältnissen etwas Ähnliches passiert wie der Ruth in Warschau im September 1939, als die deutschen Horden ihr behütetes Zuhause von einem Tag auf den anderen auslöschten? Wer soll verhindern können, dass sich so etwas wiederholt, wenn nicht Zahal?
Ist das nicht die Lehre aus der Geschichte - einen Tag nach dem Jom HaZikaron, dem Shoa-Gedenktag? So empörend ich die Zustände in Hebron finden mag - so angewidert ich bin von der Verehrung Kahanes und Goldsteins durch die Siedler in Hebron und Kirjat Arba - wer bin ich, dass ich mir ein Urteil darüber erlauben könnte, wie Zahal für die Sicherheit der jüdischen Bürger Israels sorgt?
Oder gehe ich damit nur einem zynischen politischen Kalkül auf den Leim?
Besser ganz die Finger lassen von jeder historischen Bezugnahme? Der verbrecherische Krieg Deutschlands 1939 ist das eine - und die Situation in Hebron, in der Westbank, im Nahen Osten hat damit nichts zu tun. Heute gehen wir nach Jad VaShem - morgen nach Hebron - und kehren dann wieder nach Nes Ammim zurück und fördern den Dialog ... warum eigentlich?
Nes Ammim wurde mal gegründet, um nach der Shoa ein neues Kapitel aufzuschlagen. Dialog zwischen Christen und Juden zu beginnen und zu entwickeln. Von daher das Anliegen, Dialoge hier im Land zu fördern. Führt eine Linie von den Anfängen Nes Ammims zu unserem gegenwärtigen Anliegen, Dialog zu fördern? Und wenn man meint, dass es da einen kausalen Zusammenhang gibt - was bedeutet das: für die Dialogarbeit - für das Studienprogramm - für das Leben in Nes Ammim - für die Positionierung, evtl. auch für die politische Stellungnahme Nes Ammims angesichts der israelischen Besatzung?
Ich merke, wie unangenehm es mir wird, diese Fragen zu stellen. Man könnte ja sehr gut ein hochinteressantes Studienprogramm machen, ohne an diese Fragen zu kommen. Wenn man allerdings Jad VaShem und Breaking the Silence im Studienprogramm hat - und dann noch so dicht hintereinander, wie es jetzt ausgekommen ist -, dann stellen sich unweigerlich diese unbequemen Fragen ... Also besser die Finger lassen von Breaking the Silence, um gar nicht an diese Fragestellungen zu rühren? Um unsere Position im Land nicht zu gefährden? Oder ist das schon wieder viel zu verschwörungstheoretisch gedacht?
Auf dem Rückweg wurden wir diesmal am Checkpoint bei der Einfahrt nach „Israel proper“ „randomly“ (? - ist uns bisher noch nie passiert ...) rausgefischt. Der - superfreundliche! - Sicherheitsbeamte schaute uns sehr genau an, um rauszufinden, ob die Passbilder auch mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Die Visa interessierten ihn überhaupt nicht ... Eine seltsame Kontrolle. Ist das jetzt schon Verfolgungswahn, wenn ich vermute, dass das kein Zufall war, sondern ein weiteres kleines „Harassment“ von Breaking the Silence?
Um 16.00 Uhr dann die Eilmeldung auf der SZ-App: Gabriel ist tatsächlich bei seinem Programm geblieben - hat Breaking the Silence und andere nicht wieder ausgeladen -, und Netanjahu hat seine Drohung wahrgemacht und den Termin mit Gabriel gecancelt. Natürlich war das ein ganz gezieltes „tackling“ von Gabriel, ein Treffen mit den beiden Gruppen zu vereinbaren, die derzeit im Mittelpunkt der Kritik durch die Regierung stehen - und wegen denen vor ein paar Wochen schon der belgische Premierminister diplomatische Verstimmungen in Kauf nahm. Dass Natanjahu mit einem solch rüden „foul“ darauf einsteigt, spricht wiederum für sich.
Volker Beck, Vorsitzender der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe dazu: „Gesprächsverbote gehen gar nicht... Ich hoffe, dass die israelische Regierung erkennt, dass auch die Existenz von sehr kritische Organisationen wie Breaking the Silence und B’Tselem Israels Anspruch als einzige Demokratie im Nahen Osten untermauert.“ Aufgrund seiner Kontakte in die Knesset vermutet er aber, dass eine Deeskalation möglich gewesen wäre, um den Termin zu retten, die aber vom (deutschen) Außenministerium hintertrieben worden sei...
Die DIG (Deutsch-Israelische Gesellschaft) dagegen betätigt sich als Dreckschleuder gegen Breaking the Silence: „Breaking the Silence prangert an, legt aber seine Quellen nicht offen. Damit können israelische Behörden die Vorwürfe und Anschuldigungen nicht überprüfen.“ Das haben wir nun wirklich von Merphie gelernt an diesem Tag: dass es nicht darum geht, durch Abstellen von vereinzelten Missständen die Besatzung zu „humanisieren“, sondern dass es nur darum gehen kann, sie zu beenden. Denn: Eine „humane“ Besatzung gibt es nicht - selbst wenn sie von der denkbar „moralischsten Armee der Welt“ organisiert werden würde.
Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, April 2017
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