Vom Nutzen von Fremdheitsgefühlen
Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 46. Kapitel
Tobias Kriener erzählt:
1. Mai 2017
Gestern war Gedenktag für die Gefallenen und die Terroropfer. Weil auch zwei Nes Ammimniks zu den Opfern gehören - der eine wurde beim Trampen entführt und ermordet; der andere starb beim Entschärfen einer Bombe im Gazastreifen - fährt eine Delegation von Nes Ammim an diesem Tag auf den Soldatenfriedhof in Naharija, wo Peter Chanoch Deneman beerdigt ist, und in den Kibbuz Chanita ganz im Norden an der Grenze zum Libanon, wo Jonathan Vermeulen begraben liegt.
Der Tag wurde vorgestern Abend durch das Heulen der Sirenen um 20.00 Uhr eingeleitet. Im Eingang zum Chader Ochel steht eine Tafel mit Fotos der Verstorbenen und einem kurzen Lebenslauf, sowie ein Blumenstrauß und zwei Kerzen.
Um 9.00 Uhr gestern Morgen fuhren wir nach Naharija, wo wir unseren mitgebrachten Blumenstrauß aufs Grab legten und von einer Soldatin der Einheit, in der Peter gedient hatte, begrüßt wurden. Auch ein Angehöriger von einem der Nachbargräber kam zu uns herüber und erzählte uns die Geschichte von Peter. Sie freuten sich über unser Kommen und darüber, dass Peter in Nes Ammim nicht vergessen ist.
Ähnlich erging es uns in Chanita. Wir legten unseren Blumenstrauß aufs Grab und kamen ins Gespräch mit zwei ehemaligen Kameraden von Jonathan.
Hinzu kam, dass auch ein ehemaliger Freiwilliger aus Holland, der gerade zu Besuch ist in Nes Ammim, und der Jonathan persönlich kannte, uns von ihm erzählen konnte.
In Chanita nahmen wir dann auch an der kurzen Gedenkzeremonie teil, die um 11.00 Uhr wiederum durch Sirenengeheul eingeleitet wurde, woran sich das Verlesen der Namen der Gefallenen, einiger Gedichte und des Kaddisch, des traditionellen jüdischen Gebets für die Toten, anschloss.
Abgeschlossen wurde das Ganze durch das Singen von Hatikva, der israelischen Nationalhymne - mindestens eine Quart zu tief angestimmt durch den Leser des Kaddisch, so dass ich schon überlege, fürs nächste Jahr meine Unterstützung durch Posaune oder Euphonium anzubieten.
Ich gehöre nicht dazu
Wie gesagt: Wir wurden sehr freundlich aufgenommen - spürten, wie sich die, die den Toten persönlich verbunden waren, freuten, dass Nes Ammim ihr Gedächtnis auch bewahrt. Und zugleich fühlte ich sehr deutlich - in Naharija, auf dem Soldatenfriedhof, wo wir von lauter Uniformen umgeben waren, noch stärker als in Chanita, wo es ziviler zuging -, dass in diesem Gedenken die jüdischen (und die mit ihnen bis in den Tod solidarischen nichtjüdischen! - Jonathan Vermeulen ist nie konvertiert und als Christ beerdigt worden) Bewohner Israels in einer Weise verbunden sind, wo wir keinen Zugang haben - keinen haben können. Bei aller Freundschaft, bei allen Gemeinsamkeiten im Theologischen oder in der Beurteilung historischer oder politischer Zusammenhänge, die uns verbinden mögen mit Rabbi Or Zohar, mit den Reformierten in Naharija, mit Schmuel und Chaja, mit den Freunden aus Katjas Kibbuz: dieses Gedenken hat mir - wieder einmal - ganz klar gemacht, dass ich in einer ganz grundlegenden Hinsicht nicht dazu gehöre und nie dazu gehören werde.
Nicht, dass ich das beklagen würde: Ich bin sogar dankbar, daran immer wieder erinnert zu werden, damit ich mir keine Illusionen mache, was meine Stellung hier in Nes Ammim ist: Ich bin und bleibe Zaungast. Mehr nicht. Ich bin zum Hören hier - wobei ich mir durchaus ein Urteil darüber bilden kann und auch aussprechen kann, welche Stimmen ich überzeugender finde ("Breaking the Silence" oder "Im Tirzu", z.B. wenn es um die Darstellung der Situation in Hebron geht...) und denen dann auch Resonanz zu verschaffen versuche - im Studienprogramm wie in der Vermittlung zurück nach Deutschland. Und damit nehme ich natürlich auch in gewisser Weise Einfluss - was die einen begrüßen und die anderen beklagen mögen.
Aber ich gehöre nicht dazu. Und das habe ich zu respektieren.
Abends dann war Feier des Jom HaAtzma'ut, des Unabhängigkeitstages. In Nes Ammim eine sehr unprätentiöse Angelegenheit: Auf der mit blauweißen Wimpeln gezierten Hauptstraße waren eine Reihe von Buden aufgebaut - es gab Freibier und Freicola, Popcorn und gefüllte Weinblätter; unsere Volos buken und verkauften Waffeln; für die Kinder gab es jede Menge Attraktionen. Das zentrale Ereignis war das Anzünden eines Schriftzuges "Atzma'ut 69" - 69. Unabhängigkeitstag. Keine pathetischen Reden, kein Singen von HaTikva, dafür viel zu laute Discomusik. Das ist überhaupt für die Nes-Ammim-Klientel anscheinend immer das Wichtigste: Möglichst laute Musik, damit man sich auf gar keinen Fall verständigen kann.
Weil es viel Auslauf gab, konnte ich diesmal länger als die 2 Anstands-Minuten bleiben, nach denen mich sonst bei den Festen (Chanukka, Purim) die laute Musik immer aus dem Festsaal treibt.
Mal sehen, wie's nächstes Jahr wird: Da gibt's 70 Jahre Unabhängigkeit zu feiern. Und da werden alle sich sicherlich ganz besonders ins Zeug legen wollen.
Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, Mai 2017
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