Geh hin und lerne!

Predigt zu 5. Mose 5,1.


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...Ich glaube, darum geht es bei lebendigem Lernen: Nicht nur Antworten auf alle Fragen, sondern mehr noch Fragen auf alle Antworten zu finden...

Liebe Gemeinde,

Geh hin und lerne! Als Kind hätte diese Aufforderung für mich einen drohenden Charakter gehabt. Lernen war mit viel Angst verbunden. Wer nicht gespurt hat, kriegte damals noch Schläge mit dem Lineal auf den Handrücken, musste in der Ecke stehen oder wurde vor der ganzen Klasse bloßgestellt. Lernen war eine saure Pflicht und hatte nichts von der Süße, die ostjüdische Kinder beim Abschlecken der in Honig getauchten Buchstaben empfunden haben müssen. (Wie süß ihr Unterricht danach war, sei dahingestellt).

Immerhin, trotz aller schwarzer Pädagogik: ich habe gelernt zu lernen. Dadurch habe ich mich später – auch dank der Studentenbewegung - von der erlittenen Erziehungsmethodik und manchen Lerninhalten verabschieden können. Ich habe Lust bekommen, auf andere Weise Neues zu entdecken oder Bekanntes neu zu verstehen. Das gilt auch für das Judentum und die jüdischen Menschen, denen ich begegnet bin. Und ich bin dankbar, dass ich teilhabe an einem Lernprozess, der noch längst nicht zu Ende ist, so wie Lernen insgesamt nie aufhört.

Geh hin und lerne! Heute hat diese Aufforderung für mich nichts Bedrohliches mehr. Sie weist vielmehr auf einen Weg, den sicher auch viele von Ihnen gerade im Blick auf das Judentum, vielleicht auch den Islam schon lange gegangen sind und immer noch gehen: Ein Weg, der zu anderen Menschen hinführt, der uns lehrt, uns ihnen zu öffnen, von und mit ihnen zu lernen was uns verbindet und auch, was uns unterscheidet, aber hoffentlich nicht trennt. Ein Weg der Verständigung, der für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft bitter notwendig ist.

Geh hin und lerne! Auch in dem Bibelvers, den ich für meine Predigt gewählt habe, spielt Lernen eine zentrale Rolle. Er steht in Dtn 5,1 und lautet: „Und Mose rief ganz Israel zusammen und sprach zu ihnen: Höre Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernt sie und bewahrt sie, dass ihr danach tut.“

Das Wort Gottes hören, lernen, bewahren, tun: Diese Aufforderung fasst perfekt zusammen, was Judentum ausmacht. Aus gegebenen Anlass möchte ich mich jetzt allerdings auf das Lernen konzentrieren und einige Lesefrüchte zu seiner Bedeutung im Judentum mit Ihnen teilen. Nur am Rande möchte ich zuvor anmerken, dass Gottes Wort lernen auch eine Formulierung ist, die im HK ausdrücklich vorkommt! Sie steht dort in Frage 103 und dient als fundamentale Charakterisierung christlichen Gottesdienstes, denn dort soll ich als erstes Gottes Wort lernen.

Nun haben viele von Ihnen sicher eigene Erfahrungen mit jüdischen Gelehrten gemacht, sei es im Lehrhaus oder auch bei anderen Begegnungen. Und vielleicht haben Sie dabei auch erlebt, dass man in der jüdischen Auslegungspraxis sehr genau auf jedes Detail eines Textes schaut, ihn zugleich aber oft sehr fantasievoll (und für uns manchmal sehr überraschend) deutet. Akribie und Fantasie: das ist eine exegetisch hoch spannende und anregende Kombination, die manche christlichen Theologen inzwischen auch zu würdigen wissen. Jüdische Gelehrte haben also gefragt, warum Lernen – auf Hebräisch lamad – mit L – hebräisch lamed - anfängt. Ein Zufall ist für sie ausgeschlossen, zumal die Verwandtschaft zwischen lamad und dem lamed selbst für nicht hebräisch sprechende Menschen sofort hörbar ist.

Die Antwort auf diese Frage knüpft an der Beobachtung an, dass das L im hebräischen Alphabet eine besondere Stellung hat. Es steht an 12. Stelle, also genau in der Mitte der 22 hebräischen Buchstaben und bildet mit den rechts und links benachbarten Buchstaben das Wort melech: König. Schon das haben die Gelehrten als einen Hinweis auf den hohen Rang des Lernens im Judentum herausgestellt. Aber wenn Sie das Blatt mit dem hebräischen Alphabet betrachten, sehen Sie noch eine andere Besonderheit: Das Lamed ist der einzige Buchstabe, der aus den Kästchen, die die anderen Buchstaben umschließen, nach oben hin herausragt – ein bisschen wie das Periskop eines U-Boots.

Auf dieser Beobachtung basiert ein wichtiges Element jüdischer Lernphilosophie. Man könnte sagen: Lernen heißt da: ein wenig über die vorgegebenen Kästchen hinauszugehen. Um das tun zu können und erst recht, um zu merken, dass man das tut, muss man allerdings wissen, was in den Kästchen steht.

Auf den Glauben bezogen könnte man sagen: Wir brauchen das, was uns vom Wort Gottes vorgegeben ist. Wir brauchen die Schrift und die Tradition als Basis für das Verstehen unseres Glaubens. Und diese Basis ist vielfältig – so wie es die Buchstaben des ABC sind. Da gibt es also viel zu lernen. Aber unser Bemühen, das Wort Gottes zu verstehen, darf sich nicht auf das beschränken, was uns vorgegeben ist. Sonst verkommt unser Glaube zu einer zeitlosen Wahrheit, die wenig mit dem zu tun hat, was Menschen heute bewegt. Das lamed, das über die vorgegebenen Kästchen hinausragt erinnert daran, dass das Verständnis des Glaubens immer auch über den Rahmen von Schrift und Tradition hinausreichen muss, dass es immer auch darum geht zu fragen, was heute „dran“ ist. Isaac Bashevi Singer beschreibt in seiner Erzählung Yentl – die Verfilmung mit Barbara Streisand kennen sicher manche von Ihnen – eine Szene, wo die Studenten der Yeshiva von ihren bedeutenden Lehrern schwärmen. „Mein Lehrer“, sagt einer, „weiß auf jede Frage 10 Antworten.“ Yentl erwidert stolz: „Mein Vater weiß auf jede Antwort 10 Fragen!“ Ich glaube, darum geht es bei lebendigem Lernen: Nicht nur Antworten auf alle Fragen, sondern mehr noch Fragen auf alle Antworten zu finden. Nur so kann es gelingen, von Schrift und Tradition her neue, zeitgemäße Bezüge zu gegenwärtigen Themen herzustellen. Eine Herangehensweise, die der Lebendigkeit von Gottes Wort Rechnung trägt, und die Sie in jeder guten Predigt erleben.

Aber Gottes Wort in diesem Sinn lernen ist nicht nur Sache von Experten, sprich von Theologen. Mose hat ganz Israel damit beauftragt, und unsere Reformatoren haben ganz ähnlich die Verantwortung der ganzen christlichen Gemeinde für die Auslegung der Bibel herausgestellt. Auch Sie als Gemeinde haben die Aufgabe, danach zu suchen, wie Schrift und Tradition mit den Fragen unserer Zeit verbunden werden können. Lernen hat immer auch einen gemeinschaftlichen Aspekt! Im jüdischen Lehrhaus, im beith hamidrasch sitzen deshalb immer mindestens zwei Lernende zusammen und diskutieren lautstark einen Text – das ergibt einen Lärmpegel, der meinen Lernpegel allerdings deutlich senken würde.

Ich komme zu einer 2. Frucht jüdischen Nachdenkens über das lamed im Blick auf das Lernen:

Aus den 3 Konsonanten, die das Wort lamed bilden – also dem l,m und d, hat Rabbi Akiva den Satz geformt: lev meivin daat: zu Deutsch: ein Herz, das versteht.

Rabbi Akiva geht es offenbar darum, dass sich Lernen nicht in einer möglichst großen Ansammlung von Kopfwissen erschöpft, sondern dass das Herz immer beteiligt sein muss. Das kann „learning by heart“ bedeuten, ein Auswendiglernen, das das Gelernte tief verinnerlicht und es zusammen mit wachsender Lebenserfahrung zu einem großen Schatz an Weisheit macht. Das kann aber auch darauf hinweisen, dass Wissen nie kaltes Wissen sein darf, das Menschlichkeit außer Acht lässt. Dementsprechend kann ein anderer jüdischer Ausleger sagen: Lernen braucht immer auch das Herz Evas, sprich: ein weibliches Herz. Ich verstehe das so, dass er damit auf das Erbarmen anspielt, das racham, das im hebräischen seinen Sitz im Mutterleib hat.

Lernen in diesem Sinn wird dann niemals zu einem elitären Herrschaftswissen, mit dem einer ganz allein für sich glänzt und andere beschämt, unmündig hält oder ausnutzt. Es ist ein Lernen, das sich mit anderem Wissen ergänzt, das sich über Schwächere nicht erhebt, sondern bereit ist, von jedem zu lernen, auch von denen, die vielleicht nicht über so viel akademische Bildung, wohl aber über eine Menge Herzensbildung verfügen. Mit so einem menschlichen, andere wertschätzenden Lernen wird eine Gemeinschaft zusammengehalten – etwas, was wir dringend brauchen in Kirche und Gesellschaft!

Ein 3. Gedanke zum Zusammenhang von dem Buchstaben lamed mit lamad, das lernen aber auch lehren bedeutet. Dazu muss man wissen, dass im Hebräischen jeder Buchstabe zugleich einen Zahlenwert besitzt. Ohne die Berechnung in diesem Fall im Einzelnen erklären zu wollen: Nach Auffassung einiger jüdischer Gelehrter entspricht der Zahlenwert des Buchstaben lamed genau dem Zahlenwert der 4 Buchstaben des Gottesnamens, der im Judentum nicht ausgesprochen wird. Was bedeutet das? Lernen und Lehren spiegelt etwas von Gott. Denn natürlich ist Gott ein großer Lehrer, aber in der jüdischen Tradition wird er bisweilen auch als Lernender dargestellt. In einem Buch des Talmud (auch in diesem Namen steckt lamad drin) wird der Tageslauf Gottes beschrieben: Er beginnt mit 3 Stunden Studium der Tora! D.h. Gott selbst lernt Tora! Aber weil die Fortsetzung so wunderbar ist, möchte ich sie ganz weitererzählen: Nach dem Torastudium richtet Gott 3 Stunden lang die Welt, und wenn er feststellt, dass sie Zerstörung verdient hat, erhebt er sich von seinem Thron der Gerechtigkeit und setzt sich auf den Thron der Barmherzigkeit. Danach erhält Gott 3 Stunden lang die Welt von den Hörnern der Stiere bis zu den Eiern der Läuse und schließlich spielt er 3 Stunden lang mit dem Meeresungeheuer, dem Leviathan. Aber wie gesagt: Gott selbst beginnt seinen Tag mit dem Studium der Tora, nach der er, wie es an anderer Stelle heißt auch die Welt geschaffen hat.

So schön diese Schilderung ist: Für uns leichter nachvollziehbar wird Gottes Lernen in den biblischen Passagen, in denen Gott aus eigenen Stücken zu neuen Einsichten kommt wie z.B. nach der Sintflut, oder wo er sich durch menschliches Bitten verändern oder sich von Menschen etwas sagen lässt und danach handelt. Das geschieht mehrfach im Gespräch mit Mose und auch mit Josua, das wird sichtbar in Gottes Reaktion auf die Buße Ninives, und im NT lernt Jesus ganz deutlich von der hartnäckigen kanaanäischen Frau, dass er doch nicht nur zu den Kindern des Hauses Israel gesandt ist. In all diesen Passagen wird deutlich: Überall, wo in der Bibel von einem „Lernprozess Gottes“ die Rede ist, ist dieser mit Gottes Herzen, mit Gottes Barmherzigkeit verbunden.

Ein vorerst letzter Gedanke: Das hebräische lamed ist zugleich eine Präposition, die eine Richtung angibt. Gottes Wort Lernen ist also nicht nur ein Selbstzweck. Es muss auch zu etwas führen, es muss auf ein Tun zielen. Hören, lernen, bewahren, tun heißt es Dtn 5,1. In der jüdischen Tradition ist das Ziel des Lernens die aktive Liebe zu Gott und zum Mitmenschen, wie es das Doppelgebot der Liebe fordert, das Jesus aus der Schrift, sprich dem AT zitiert. Auch die Zusammenfassung des Judentums, die der Toragelehrte Hillel einem Nichtjuden auf einem Bein stehend gibt, zielt auf das Tun: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora, sagt er, alles andere sind Erläuterungen. Aber dann entlässt Hillel den Mann mit den Worten: Nun geh hin und lerne...

Damit könnte sich der Kreis schließen. Sie haben gesehen, wie die jüdische Akribie, die sich auf einen einzigen Buchstaben konzentriert, eine ganze Fülle von kreativen und zugleich tiefsinnigen Assoziationen zum Thema Lernen freisetzt. Aber Lernen geschieht nicht im luftleeren Raum. Gegenwärtig erleben wir in vielen Teilen der Erde ein äußerst lernfeindliches Aufblühen von Populismus und religiösem Fundamentalismus – oft sehr eng miteinander verbandelt. Mit ausgeklügelter, manchmal auch fromm aufgeladener Propaganda wird Angst verbreitet, kritisches Denken unter Verdacht gestellt, und die Gesellschaft gespalten. Es ist zutiefst beunruhigend, diese Entwicklung zu verfolgen, nicht nur, aber auch in Israel. Das Lamed, das – wie Sie gesehen haben - für ein offenes und menschenfreundliches Lernen steht, muss in diesen Zeiten m.E. auch ganz klar für ein lo stehen, für ein Nein zu gefährlicher Volksverdummung und zu der damit einhergehenden Aufstachelung zu Hass und Gewalt.

Geh hin und lerne: Das Motto der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit ist in unserer Gegenwart höchst aktuell. Wir brauchen die Bereitschaft, auf fremde Menschen zuzugehen und von und mit ihnen zu lernen, statt in eigenen Vorurteilen zu verharren. Wir brauchen ein kritisches Denken, das gefährliche Gedanken auch in ihrer gut bürgerlichen Tarnung entlarvt. Wir brauchen ein Lernen, das sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengibt. Wir brauchen Lehrer, die zu Fragen ermutigen.

Wir alle müssen auf dem Weg bleiben und weiterlernen!

Predigt gehalten zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in Frenswegen, März 2017


Pfr. Sylvia Bukowski, März 2017 in Frenswegen