Trugschluss Leitkultur

Mittwochs-Kolumne - Paul Oppenheim


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Das sei vorausgeschickt: Längst nicht alles, was Thomas de Maizière am 30. April in der „Bild am Sonntag“ von sich gegeben hat, ist verkehrt. Verkehrt ist aber, dass er dafür den Begriff „Leitkultur“ verwendet, und verkehrt ist die Gesinnung, die dahinter steht.

Im Begriff „Leitkultur“ stecken nicht nur das Wort „Kultur“ und das Verb „leiten“, wie der Innenminister meint, sondern vor allem Überheblichkeit und das Bewusstsein der Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen. Ein Mann, der solch einen Namen trägt, sollte wissen, dass man von anderen Kulturen auch ganz viel lernen kann. Vor etwa 300 Jahren haben die Deutschen von seinen hugenottischen Vorfahren unendlich viel dazu gelernt. Was heißt da also Leitkultur?

Aus den Worten de Maizieres, wie aus den Reden der allermeisten konservativen Politiker unseres Landes wird deutlich, dass sie aus dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte wenig Lehren gezogen haben. Sie glauben, dass es für Menschen anderer Sprache, anderer Herkunft, anderer Kultur oder Religion hierzulande nur die Alternative gibt: Assimilation oder Rückkehr in ihre Heimat.

Geht es nicht schnell genug voran, wird der Assimilationsdruck erhöht. Manchmal wird fälschlicherweise in diesem Zusammenhang von „Integrationsmaßnahmen“ gesprochen,  dabei geht es eben nicht um die Integration, sondern um die Assimilation der zugewanderten Mitbürger. Das erklärte Ziel ist die Wiederherstellung einer möglichst homogenen Gesellschaft. Dazu muss sich die mitgebrachte Kultur wandeln und der „Leitkultur“ angleichen. „Assimilation“ bedeutet dem etymologischen Ursprung nach „Gleichmachung“.

Mit Assimilation haben wir in Deutschland Erfahrung. Der deutsche Jude ist dafür das Beispiel par excellence. In keinem anderen Land der Welt waren Juden gründlicher assimiliert als in Deutschland. Deutsche jüdischen Glaubens sprachen in aller Regel kein Jiddisch, trugen keine Kippa, hörten keine Klezmer-Musik. In ihren Synagogen erinnerte Vieles an einen evangelischen Gottesdienst mit deutscher Predigt, Orgelmusik und dem Rabbiner im schwarzen Talar. Die Tatsache, dass Deutsche jüdischer Herkunft wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch vollkommen assimiliert waren, ist hinlänglich bekannt. Dass Sie trotzdem als Erste zur Zielscheibe des nationalsozialistischen Rassenwahns wurden, dass sich ausgerechnet gegen sie der primitive Antisemitismus ihrer Mitbürger entlud, das muss sich jeder in Erinnerung rufen, der heute einen Begriff wie „Leitkultur“ in den Mund nimmt.

Das erste, was die Nationalsozialisten taten, war aus den assimilierten Mitbürgern fremde Wesen zu machen. Aus denen, die meinten dazu zu gehören, wurden über Nacht Ausgestoßene und Fremde. Männer die Sigismund, Herbert oder Walter hießen, mussten sich Israel nennen und Frauen, die Anna, Gertrud oder Amalie hießen, erhielten zwangsweise den Vornamen Sara. Wie konnte so etwas geschehen?

Wer sich genauer mit der Situation der assimilierten Juden im Deutschland der Weimarer Republik beschäftigt, wird auf ein eigenartiges Phänomen stoßen. Die meisten von ihnen waren zwar assimiliert, aber sie waren nicht integriert. Trotz rechtlicher Gleichstellung blieben sie in den Augen der anderen eine Minderheit, die man auf Abstand hielt. Meistens blieb man unter sich und merkte es nicht, bevor es zu spät war. Daraus sind Lehren zu ziehen.


Paul Oppenheim, Hannover, 10. Mai 2017