Lasst uns Lobbyisten werden!

Einspruch! - Mittwochs-Kolumne von Georg Rieger


Foto: Rieger

Es ist das Privileg des Kolumnisten, über alles schreiben zu dürfen, wenn es nur mit der nötigen Ironie geschieht und also nicht so ganz ernst zu nehmen ist. Die Frage, welche Partei bei der bevorstehenden Bundestagswahl zu wählen ist, ist dagegen komplett Spaß frei und also ein Kolumnentabu.

Nicht aber die Frage, warum in unserem Land kaum mehr jemand die Partei wählt, die ihre bzw. seine Interessen vertritt. Parteiprogramme werden eh nur noch für den Papierkorb gedruckt. Doch auch die Parteitags- und Sonntagsreden enthalten doch nichts wirklich Substantielles.

Meine Familie hat an einem Meinungsbildungsprozess teilgenommen, der von „campact! – Bewegt Politik“ organisiert wird. In unserem Haus haben wir mit allen Mitbewohner*innen Themen gesammelt, sortiert und diskutiert und eine Prioritätenliste erstellt. In einer zweiten Runde durften wir konkrete Forderungen aufstellen. Die Fragen waren völlig offen und es gab keinerlei Vorgaben, die in eine bestimmte politische Richtung deuteten. Trotzdem stimmen die Forderungen unserer kleinen Community fast identisch mit denen überein, die nun als Ergebnis von bundesweit über 1.200 Diskussionsrunden und insgesamt 75.000 Teilnehmenden veröffentlicht worden sind. www.campact.de

An erster Stelle stehen Forderungen zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Im Gesundheitssystem, bei der Rente. Auch gegen den weit verbreiteten Lobbyismus und die Steuerflucht globaler Unternehmen wendet sich die Stimmung. Das zweite brennende Thema ist die Umwelt, die Förderung erneuerbarer Energien und der Ausstieg aus der Kohleverbrennung, die Förderung des Bahnverkehrs. Auch Massentierhaltung und Plastikmüll werden angeprangert.

Klar, solche Meinungen sind die eines bestimmten Milieus – eben solcher Leute, die sich an Umfragen und Diskussionsrunden beteiligen. Menschen aus anderen Teilen der Gesellschaft können bisweilen ihre eigenen Interessen nicht so klar formulieren. Ansonsten wären die Ergebnisse freilich noch viel radikaler. Die Abgehängten und Chancenlosen unserer Gesellschaft möchten klar einen größeren Teil vom Kuchen. Doch die Umverteilung hat eben keine Lobby.

Die Parteien, die sich am 24. September um die Gunst der Wähler/innen bewerben, haben es von daher leicht. Sie brauchen sich nicht um die Themen kümmern, die doch die größte Brisanz im Land haben. Oder besser: hätten. Erbschaftssteuer erhöhen? Vermögenssteuer wiedereinführen? Steuerschlupflöcher stopfen? Fehlanzeige! Bildungsoffensive? Reform des Lohngefüges? Tempolimit? Fehlanzeige! Und selbst sich Schlagworte wie Gerechtigkeit auf die Fahnen schreiben, werden es nach der Wahl wieder vergessen haben, weil dann wieder andere Interessenvertreter um die Gunst der Abgeordneten buhlen.

Es wird nicht anders gehen, als dass wir uns eben diese Volksvertreter vorknöpfen, sie bearbeiten, sie unterstützen, sie ermutigen. Denn daran fehlt es: an dem Mut, endlich die Wahrheit zu sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Wir dürfen nicht einen großen Teil der Bevölkerung in der Perspektivlosigkeit sitzen lassen und sie sich selbst überlassen. Jedenfalls nicht, wenn wir nicht die Folgen spüren wollen, die sich ja mehr und mehr schon jetzt abzeichnen: dass Menschen den Hass auf Andere zum Ausweg aus ihrer Situation erkehren.

Die Gerechtigkeit und Umweltschutz brauchen eine Lobby. Und dafür dürfen wir uns nicht zu schade sein, die zu bilden. Als Mitglieder unserer Gemeinden und Kirchen, aber auch als Privatpersonen. Die Politikerinnen und Politiker müssen spüren, dass wir das von ihnen verlangen, dass sie sich für eine Gesellschaft einsetzen, die solidarisch miteinander und schonend mit der Umwelt umgeht.  

Georg Rieger