Erev Schabbat in Har Chalutz

Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 68. Kapitel


Von Tobias Kriener

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Gestern hatte ich einen wunderschönen Abend in Har Chalutz (Katja ist an diesem Wochenende in Jerusalem mit der KLAK unterwegs - dabei hat sie auch viel Spaß ...). Unsere Freunde Nurit und Amitai aus Jerusalem haben an diesem Wochenende Enkeldienst dort in einem dieser jüdischen Dörfer hoch oben auf den galiläischen Bergen mit atemberaubendem Blick auf die Bucht von Haifa und die Küstenebene bei Akko und Naharijah.

Der Zufall wollte es, dass an diesem Freitag Abend Kabbalat Schabbat war. Har Chalutz ist von Leuten aus dem Reformjudentums gegründet wurde. Daher ist bis heute einmal im Monat reformierter Kabbalat Schabbat Gottesdienst. Der Rabbiner für Har Chalutz ist Or Zohar. Er war natürlich überrascht, mich zu sehen, weil ich mich nicht angekündigt hatte. Aber er hat sich richtig gefreut, und stellte mich dann der Gemeinde als "meinen Freund Tobias aus Nes Ammim" vor - worüber wiederum ich mich natürlich sehr gefreut habe.

Ich mag ja die Art, wie er die traditionellen jüdischen Gebete mit seiner Gitarre begleitet, sehr - ruhig, innig, zu Herzen gehend. Im ersten Teil des Gottesdienstes gibt er der Gemeinde Gelegenheit, etwas einzubringen, wofür man dankbar gewesen ist im Verlauf der Woche. Nurit und Amitai sagten da, dass sie sich freuen, dass ich zu Besuch da bin. Worauf ich selbstverständlich erwiderte, wie sehr ich mich freue, bei ihnen zu Gast zu sein. Gegen Ende kann jede/r jemanden benennen, der krank ist - da habe ich meinen Schwiegervater und meine Schwägerin genannt, die derzeit beide in schweren Situationen im Krankenhaus sind. Und vor dem Kaddisch kann jede/r die Namen von Verstorbenen nennen - die entweder kürzlich verstorben sind, oder derer an einem Jahrestag gedacht wird. Wieder mal bemerkens- und liebenswert, wie diese Reformjuden einen Goj voll und ganz integrieren in ihren Gottesdienst - mehr noch: Amitai und Nurit sagten mir nachher, wie traurig sie darüber sind, die Teilnehmerzahlen an den Gottesdiensten in diesem Dorf so stark zurückgegangen sind (mit den anwesenden Frauen haben sie den Minjan gerade so voll gekriegt; die Männer allein waren nur 5) - und wie froh sie deshalb waren, dass ich die Gottesdienstgemeinde verstärkt habe ...

In seiner kurzen Drascha zur Paraschah "Bo" teilte er uns einen sehr interessanten Kommentar Raschis (des bedeutenden mittelalterlichen Bibelauslegers aus Frankreich, der Torah in Mainz und Worms lernte) mit - und seine Gedanken dazu: "Bo" heißt bekanntlich "komm". Der erste Satz des Wochenabschnitts (Exodus 10, 1) wird aber allgemein übersetzt (übrigens auch von der BIGS): "Geh zum Pharao". Die Frage, die sich natürlich stellt, ist: Warum steht hier "komm" - wo doch offensichtlich gemeint ist, dass Mose zum Pharao hin gehen soll. Raschi versteht das so, dass Mose zunächst zu dem "Pharao" in ihm selber "kommen" muss und die Auseinandersetzung mit ihm (d.h. mit sich selber) führen muss, bevor er zum realen Pharao gehen und mit ihm in die Auseinandersetzung eintreten kann: Erst mal muss man die eigenen Tendenzen zur Tyrannei bekämpfen, bevor man zu jemand anderem gehen und ihm Tyrannei vorhalten kann.

Und dem fügte er dann noch eine aktuelle Anmerkung hinzu, aus Anlass der bevorstehenden Abschiebung von 35.000 afrikanischen Flüchtlingen: Diesen Plan (zu dem u.a. gehört, dass Leute dafür bezahlt werden sollen, Flüchtlinge, die sich verstecken, aufzuspüren und den Behörden zu melden ...) versteht er als eine Art "Selbstpharaonisierung" Israels.

Anschließend haben wir im Hause von Nurits und Amitais Tochter mit den vier Enkeln lecker gegessen, bevor ich schließlich zu Bachs Kantate "Ich habe genug" in das Lichtermeer am Fuß der galiläischen Berge hinein nach Nes Ammim zurück gefahren bin. Wie gesagt: Ein wunderschöner Abend ...


Tobias Kriener