Für uns gestorben?

Ein Gemeindevortrag von Georg Plasger, Siegen

© Andreas Olbrich

Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit für die, die nicht glauben, bestätigt Plasger. Warum hat Gott gerade am Kreuz seine Liebe gezeigt? Warum nicht anders?

Liebe Gemeinde,

„Sie hört sich so harmlos an, diese Frage. Aber sie hat es in sich. Und sie wird ganz verschieden beantwortet. … Warum wurde Jesus gekreuzigt? Hier meine Antwort: Weil die Mächtigen Jesus mitsamt seiner Botschaft beseitigen wollten..

Andere sehen das anders. Zum Beispiel so: Weil Gott ein Sühneopfer brauchte wegen der Sünden der Menschen. Stellvertretend für uns litt er die Strafe und stillte so Gottes Zorn. Ich halte diese Antwort für falsch, obwohl viele Christen in dieser Richtung ihre Antwort suchen.

Nein, was wäre das für ein grausamer Gott, der ein Menschenopfer braucht, um damit seinen Zorn zu stillen! Und die Sache wird noch unappetitlicher, wenn dieser Mensch sein einziger Sohn ist!“

Mit diesen Sätzen beginnt eine der umstrittenen Andachten, die der im Ruhestand befindliche Bonner Superintendent Burkhard Müller in diesem Frühjahr im WDR gehalten hat.[1] Diese Andachten haben viele Gemeindeglieder beunruhigt. Sie haben die Kirchenleitung der Rheinischen Kirche zu in meinen Augen nicht nur glücklichen Reaktionen veranlasst. Die Frage, um die Burkhard Müller kreist, ist so neu nicht – und doch immer wieder brisant. Das Kennzeichen der Christen ist das Kreuz, der entscheidende Bezugspunkt ist, jedenfalls wenn wir auf Paulus achten, der Gekreuzigte. Und nun hat Müller mit vielen Menschen sehr liebgewonnenen Ansichten aufgeräumt. Schauen wir uns in einem ersten Schritt Müllers Argumente einmal genauer an.

Argument 1:

Zum klassischen Grundsatz: „Jesus starb, um uns die Sünden zu vergeben.“ sagt  Müller: „…ich glaube das nicht. Ich glaube an die Vergebung der Sünden, aber ich glaube nicht, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist. … Gott hatte seinem Volk Israel schon Hunderte von Jahren, bevor Jesus in diesem Volk geboren wurde, gesagt: Gott ist der, der dir alle deine Sünde vergibt. Das klingt fast wie eine Definition Gottes. Er hat damals nicht gesagt: Leider müsst ihr noch ein paar Jahrhunderte warten, bis Jesus zur Vergebung der Sünden am Kreuz gestorben ist.“

Dieses Argument besagt: Sünden vergeben – das geht ohne diese grausame Tat. Sünden vergeben, das ist Gottes Wesen. Und deshalb ist die Deutung, dass erst der Tod Jesu die Sünden vergibt, gar nicht nötig.

Argument 2:

„Jesus ist nicht gestorben, um uns von unseren Sünden zu befreien. Er ist gestorben, weil die Mächtigen ihn nicht leben lassen wollten. Wir sollten nicht an einen Gott glauben, der zürnt und Rache sucht. Wir sollten an den Gott der Liebe glauben. Eine Liebe, wie Jesus sie gepredigt hat. Und für deren Wahrheit er bis zum Tode eingestanden ist.“ „Ein Gott, der ein Menschenopfer möchte, ist grausam. Mein Gott ist so nicht. Er verabscheut Menschenopfer.“

Das Argument ist hier das Gottesbild. Gott ist Liebe. Und Müller kann sich nicht vorstellen, dass Gott durch das Kreuz versöhnt werden muss, dass Gott den Tod seines Sohnes braucht, um nicht mehr sauer auf die Menschen zu sein, denen er vergeben will.

Argument 3:

Warum haben denn die frühen Christen diese merkwürdige Vorstellung entwickelt? Das lässt sich nach Müller erklären mit der jüdischen Umwelt. „Natürlich hatten die ersten Christen besondere Probleme damit, dass ihr Herr gekreuzigt worden war. Dieser Tod war eigentlich sinnlos. Aber sie versuchten, mit Bildern und Formeln diesem Tod dann doch einen Sinn zu geben. Sie fanden solche Bilder im Jerusalemer Tempel. Dort wurden Opfertiere getötet und es floss Blut, wie bei der Kreuzigung. So deutete man den Tod Jesu als eine Art Opferung.“

Etwas scharf gefasst sagt Müller hier, dass der alttestamentliche Hintergrund der letztlich in Müllers Augen archaischen Opferrituale unnötigerweise von den frühen Christen als Interpretament übernommen wurde. Die Anbindung ans Alte Testament – verständlich, aber nicht nötig, so Müller. Andere Bilder sind plausibler, und passen mit dem Gottesbild Müllers besser überein.

Gott kann doch Sünden einfach so vergeben. Gott braucht doch so etwas nicht. Wir brauchen, um den Tod Jesu zu verstehen, keine Anknüpfung an alttestamentliche Sühnevorstellungen.

Nun sind Müllers Ansichten nicht etwa neu. Es ließen sich in den letzten Jahrhunderten immer wieder Positionen finden, die so oder ähnlich reden.

I. Zum ersten Argument Müllers: Gibt es die Sündenvergebung erst im Neuen Testament?

Ich möchte Ihnen einen ganz kleinen Abschnitt aus dem Werk vorstellen, auf das sich Müller in seinen Andachten immer wieder kritisch bezieht: Es ist das Werk Cur Deus homo von Anselm von Canterbury. Anselm versucht der Frage nachzugehen, weshalb denn Gott in Jesus Christus Mensch wurde, in den Schoß einer Frau herabstieg, an den Brüsten saugte und schließlich sogar am Kreuz starb – das passt doch gar nicht zu Gott. Anselm geht davon aus – und damit greift er klassische Aussagen des Neuen Testaments auf – dass der Tod Jesu Christi wegen der Sünde der Menschen geschah. Und das Ziel in dem ganzen Werk ist es, Gottes Weg etwas besser zu verstehen.

Mittendrin taucht eine Frage auf, die auch Herr Müller hätte stellen können – und hier stellt sie Anselm an seinen Gesprächspartner Boso. Aber die Frage kennen wir vermutlich auch. Es ist die Frage, die heute immer wieder hochkommt, wenn man das Kreuzesgeschehen bedenkt und sich nicht einfach davon verabschieden möchte. Es ist eine Frage, die wir kennen, und die in den meisten von Ihnen schon mal da war und vielleicht sogar da ist. Diese Frage lautet: „Ob es Gott geziemt, die Sünde durch bloßes Erbarmen, ohne alle Abzahlung der Schuld, nachzulassen“. Also: War es denn nötig, dass Christus gekommen ist und dann sterben müsste, hätte Gott nicht viel einfacher sagen können: Mensch, Du bist zwar ein Sünder, aber ich vergebe Dir Deine Sünde! Und fertig.

Das wäre doch wirklich ein vollkommener Ausdruck von Barmherzigkeit gewesen. Einfach vergeben – und weg ist die Sünde. Und dann wäre der ganze „Umweg“ über das Kreuz, das so vielen Menschen heute Verstehensmühe macht, nicht nötig.

Genau das sagt ja Müller. Gott vergibt aus lauter Barmherzigkeit. Vergeben, das ist nun einmal Gottes Metier, wie der alte Heinrich Heine am Sterbebett gesagt haben soll. Also: Warum hat Gott dem Menschen seine Sünde nicht einfach vergeben? Dann wäre doch alles okay. Dann wäre des Menschen Zukunft wieder da und Gott könnte seinen Plan zum Ziele führen.

Anselm fragt also Boso, ob das nicht der einfachere Weg sei: ohne alle Abzahlung der Gott genommenen Ehre die Sünde nachzulassen? Dann würde ja auch deutlich werden, dass Gott keine Wiedergutmachung seiner Ehre braucht. Und Boso stimmt auch freudig, beinahe erleichtert ein: „Ich sehe nicht, warum es sich nicht geziemte.“

Und jetzt kommt Anselms Einspruch gegen diese so viele Probleme gar nicht erst aufkommen lassende Lehre: Nein! Das geht nicht! „So die Sünde zu erlassen ist nichts anderes als nicht bestrafen.“ (I,12)

Wer die Sünde nicht tilgt, wer einfach sagt: „Schwamm drüber“, der hat noch nicht verstanden, was die Sünde ist. Wir kommen also nur einen Schritt weiter, wenn wir darüber nachdenken, was denn unter „Sünde“ zu verstehen ist. Es ist deshalb wichtig, hier zu differenzieren. Das ist auch deshalb nötig, weil der Begriff der Sünde eine Verharmlosung erfahren hat, weil Sünde als Verstoß gegen den Schlankheitswahn unserer Gesellschaft verstanden wird oder als Ansammlung von Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung. Was ist also Sünde?

Sünde ist jedenfalls im Horizont des Neuen Testaments nicht zu verstehen mit irgendwelchen Verstößen, Sünde ist kein moralisches Fehlverhalten. Sondern Sünde ist nur zu verstehen in der Beziehung von Gott und Mensch – oder genauer: sie besteht in der Beziehungsstörung von Gott und Mensch. Der Mensch ist, wir sind Gott nicht recht. Wir sind allzumal Sünder. Das ist keine populäre Redweise. Aber es ist beispielsweise für Paulus, aber auch für die ganze Reformation eine entscheidende Erkenntnis, ja man könnte sogar sagen: Die Erkenntnis, dass die Sünde den ganzen Menschen betrifft, dass ich mit jeder Faser meines Lebens Gott nötig habe und ihn selber nicht erreiche, das ist die Zentralerkenntnis der Reformation. Wir haben es nötig, dass wir – und so hat es Martin Luther immer gesagt – gerechtfertigt werden.

Aber wie kommt es zu einer solchen Sicht? Ist sie zu verstehen im Zeitgeist des Mittelalters, wo jeder Mensch ein sehr starkes Sündenbewusstsein hatte? Manches an reformatorischen Aussagen ist gewiss dort zu verorten. Und manche Selbstverständlichkeit, mit der die Reformatoren von der allgemein einsehbaren Sündhaftigkeit des Menschen ausgegangen sind, wohl auch. Dabei war auch schon dem Reformator Johannes Calvin klar, dass die Erkenntnis der eigenen Sünde ein Ergebnis der Gotteserkenntnis ist: Gott selber muss uns zeigen, dass unsere Beziehung zu Gott gestört ist.

Wenn wir einmal ins Neue Testament hineinsehen, dann ist zu sehen, dass die Jünger Jesu auch nicht von einem allgemeinen Sündenbewusstsein ausgegangen sind. Für sie war auch nicht von Anfang an klar, wozu das Kreuz gut war. Sie haben es zuerst als Niederlage verstanden. In der Ihnen allen bekannten Emmausgeschichte ist es ja deutlich: Die auf dem Weg nach Emmaus gehenden sind traurig und sehen im Tod Jesu das Ende. Aber dann gesellt sich zu ihnen ein Begleiter – Jesus, der auferstanden ist. Und der Auferstandene öffnet ihnen die Augen, indem er ihnen die Bibel, das Alte Testament auslegt. Und dann erkennen sie den Auferstandenen.

Das heißt: Ohne die Auferstehung ist das Kreuz nicht verstehbar. Aber weil dieser Jesus von den Toten auferstanden ist, war der Weg ans Kreuz wohl nötig. Und warum war er nötig? Warum stirbt gerade der, der unschuldig ist? Und die Antwort des Paulus – ich muss hier ganz knapp und summarisch reden – er stirbt, weil er unschuldig ist. Weil er sich in den Tod hinein begibt. Er stirbt für die Seinen. Und dann kommt die Frage auf: Ja, wieso war das denn nötig? Und die Antwort: Es ist nötig, damit du lebst. Aber – so lautet dann wieder die Frage – ist denn mein Leben mit Gott gefährdet? Ist denn meine Zukunft nicht klar? Und die Antwort: Wenn Gott seinen Sohn für Dich hat in den Tod gegeben, seinen einzigen Sohn, dann ist Gott das nicht leicht gefallen. Er hat alles dahingegeben, weil er die Rettung des Menschen wollte – deine Rettung.

Die Erkenntnis der Sünde – oder anders gesagt: Die Erkenntnis der Dimensionen der Sünde werden so erst deutlich. Ich bin Gott viel ferner, als ich es gedacht hatte – oder genauer muss man sagen: Ich war Gott viel ferner, als ich es gedacht hatte, denn Gott ist in Jesus Christus an meiner Stelle in den Tod gegangen. Er ist den Weg gegangen, der eigentlich mein Weg war.  In ihm sind wir gestorben, kann Paulus formulieren – und dann auch, dass wir in ihm leben.

Müller hatte formuliert: Gott kann doch Sünden einfach so vergeben. Wer das sagt, obwohl er das neue Testament liest, hat – jedenfalls aus der Sicht von Paulus - seine eigene Situation noch nicht verstanden. Wer so denkt, verstehet den Menschen nicht als erlösungsbedürftig. Aber hier ist mit dem Neuen Testament, insbesondere mit Paulus, zu sagen: In Jesus Christus hat Gott die Welt mit sich selber versöhnt. Und auch Bonhoeffer hat gesagt: Macht die Gnade nicht zur billigen Gnade – Gott hat sich die Versöhnung etwas kosten lassen.

Die Reichweite der menschlichen Sünde, die Tiefe der Todesverfallenheit, so könnte man sagen, steht uns erst im Gekreuzigten vor Augen. Müller hat ja Recht: Aus der Perspektive der Sünde verstehen wir die Notwendigkeit des Kreuzestodes Jesu nicht. Aber aus der Perspektive des Auferstandenen wird sein Weg ans Kreuz als Weg für uns verstanden. Gott ging in die Fremde, um uns heimzuholen. Um uns zu befreien von der Sünde, um uns zu erlösen, um uns zu krönen mit Gnade und Barmherzigkeit.

II. Das Kreuz und die Liebe Gottes. Oder: Gott muss nicht versöhnt werden.

Burkhart Müller hatte in seinen Andachten gesagt, dass das Kreuz mit seinem Gottesbild nicht übereinstimme: Gott muss nicht versöhnt werden. Gott braucht das Kreuz nicht, er braucht kein Menschenopfer, um besänftigt, um versöhnt zu werden. Und ich sage: Recht so, Herr Müller. Sie haben Recht, dass Gott das Kreuz nicht braucht, um versöhnt zu werden. Aber – das sagt auch keiner. Das sagt heute kein ernsthafter Theologe, und das hat auch Anselm von Canterbury, auf den sich Müller immer wieder kritisch bezieht, gar nicht gesagt.

Die erste These Müllers war gewesen: Gott kann doch dem Menschen einfach so vergeben. Und ich habe versucht, deutlich zu machen, dass man das nur sagen kann, wenn man ein optimistisches Menschenbild hat.

Die zweite These setzt weniger beim Menschen als bei Gott an. Wäre es nicht ein viel barmherziger Gott gewesen, wenn Christus gekommen wäre und Gott gesagt hätte: Mensch, Du bist zwar ein Sünder, aber ich vergebe Dir Deine Sünde! Und fertig. Das wäre doch wirklich ein vollkommener Ausdruck von Barmherzigkeit gewesen. Einfach vergeben – und weg ist die Sünde. Und dann wäre der ganze „Umweg“ über das Kreuz, das so vielen Menschen heute Verstehensmühe macht, nicht nötig.

Ich sage hier: Wer so argumentiert, hat noch nicht ausreichend verstanden, was Barmherzigkeit nach dem Zeugnis des Neuen Testaments heißt. Müller hat eine ganz bestimmte Gottesvorstellung: Gott ist Liebe. Und Liebe tötet nicht. Denn das Problem ist, dass dann unser Verständnis von Barmherzigkeit und Liebe zum Maßstab dessen wird, was möglich ist – und woran sich Gott zu halten hat.

Wenn wir in die Bibel schauen, dann stellen wir fest, dass etwa Paulus das ganze Erlösungs- und Versöhnungsgeschehen mit dem Begriff „Rechtfertigung“ ausdrückt. Oder mit dem Begriff der Gerechtigkeit.

Ein zentraler Text der Bibel, der auch schon viele inspiriert hat, steht im Römerbrief. Ich zitiere einmal einige Verse:

„21 Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes erschienen - bezeugt durch das Gesetz und die Propheten -, 22 die Gerechtigkeit Gottes, die durch den Glauben an Jesus Christus für alle da ist, die glauben. Denn da ist kein Unterschied: 23 Alle haben ja gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verspielt. 24 Gerecht gemacht werden sie ohne Verdienst aus seiner Gnade durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist. 25 Ihn hat Gott dazu bestellt, Sühne zu schaffen - die durch den Glauben wirksam wird - durch die Hingabe seines Lebens. Darin erweist er seine Gerechtigkeit, dass er auf diese Weise die früheren Verfehlungen vergibt, 26 die Gott ertragen hat in seiner Langmut, ja, er zeigt seine Gerechtigkeit jetzt, in dieser Zeit: Er ist gerecht und macht gerecht den, der aus dem Glauben an Jesus lebt.“ (Römer 3,21-26)

Alle haben gesündigt, sagt Paulus. Und dann hat Jesus Christus durch die Hingabe seines Leibes – also durch seinen Tod am Kreuz – Gerechtigkeit geschaffen. Gott zeigt seine Gerechtigkeit, indem er den Menschen gerecht macht. Und das ist Barmherzigkeit. Das ist Liebe. Es ist also nicht die Auffassung des Neuen Testaments, als wäre das Kreuz nicht mit der Liebe in Einklang zu bringen, sondern das Kreuz Jesu Christi, die Hingabe Jesu selber für die Menschen – das war ein Akt der schlechthinnigen, der totalen Barmherzigkeit. Und es war ein Akt der Gerechtigkeit, weil Gott damit Recht behält gegen das Unrecht dieser Welt, auch gegen den sündigen Menschen, der ihm ständig nicht ernst nimmt, der ihn missachtet. Gott ist barherzig, indem er den Menschen Recht schafft. Indem er ihn nicht so lässt, wie er ist. Der Mensch wird ein anderer.

Und wenn Sie im Neuen Testament lesen, dass es heißt: Wer glaubt, ist eine neue Kreatur geworden, eine neue Schöpfung – dann gilt das auch im Blick auf Sie und mich. Wir können nicht an uns selber ablesen, dass wir rein geworden sind. Dass wir Gott recht sind. Dass wir – um es mit Luther zu sagen – mit Christus getauscht haben: Er die Sünde, wir das Leben. Das aber wird gerade im Kreuz deutlich. Aber – und das weiß auch Paulus – das ist nicht offensichtlich. Das Wort vom Kreuz ist eine Dummheit, eine Torheit für die, die nicht glauben. Aber für die Glaubenden ist es eine Gotteskraft.

Gott ist Liebe und er zeigt seine Liebe gerade so. Warum gerade so? Warum nicht anders? Weiß ich nicht. Er hat eben diesen Weg gewählt. Und wenn Gott diesen Weg gewählt hat, dann ist es ein guter Weg.

Gott ist barmherzig, weil er dem Menschen Zukunft schenkt. Und er ist gerecht, weil er treu ist, seiner Zusage treu ist – Gerechtigkeit, zedakah ist mit Gemeinschaftstreue zu übersetzen. Und das waren ja auch die großen Entdeckungen im Neuen Testament, dass Gerechtigkeit Gottes nicht die fordernde, sondern die schenkende Gerechtigkeit meint. Gott schenkt dem Menschen Gerechtigkeit. Und das aus Gerechtigkeit, die barmherzig ist, nicht aus einer der Gerechtigkeit widerstreitenden Barmherzigkeit. Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit streiten nicht gegeneinander, sondern umarmen sich, klingen zusammen, stimmen zusammen, machen den Menschen gerecht, geben ihm neue Zukunft. Leben, Gemeinschaft mit Gott.

Es ist nicht entscheidend, ob Gottes Handeln zu dem Gottesbild passt, das wir haben. Sondern ob unser Gottesverständnis sich von den Taten Gottes her versteht. Erst dann ist die Barmherzigkeit richtig verstanden, wenn sie von Christus, vom Kreuz her gesehen wird. Gottes Barmherzigkeit ist keine geschichtslose allgemeine Wahrheit, sondern hat sich in Christus ereignet und ist letztlich dort erst genau zu erkennen. Das Entsprechende gilt auch für die Gerechtigkeit. Gottes Gerechtigkeit wird gerade im Kreuz gefunden. Wer Gott wirklich ist, macht Gottes Weg in Jesus Christus deutlich. Gerade in der Niedrigkeit Jesu, in seinem Tod am Kreuz - da wird Gottes Herrlichkeit erst erkannt. Gottes Liebe ist Weg in die Niedrigkeit, in den Tod, ins Leben. Darin gründet alles.

Das zweite Argument Müllers lautet, dass ein grausamer Gott nicht zu dem Bild passt, das sich Müller von einem liebenden Gott macht. Hier ist für mich deutlich, wie sehr Müller Gott in das Bild presst, was er sich von Gott macht. Es passt doch nicht zu Gott, sagt Müller. Und ich frage: Woher weiß er das? Woher kennt er, was Gott kann und tut. Vielleicht gefällt ihm das nicht. Aber ist das die entscheidende Frage? Wenn ich mir meinen Gott selber zusammenbaue, dann könnte ich so wie Müller argumentieren. Aber dann wäre er nur ein Popanz.

Müller hat Recht damit, dass Gott keine Opfer verlangt, dass Gott nicht versöhnt werden muss. Aber das sagt auch keiner. Oder doch: fast keiner. Es ist billig, so zu argumentieren, weil auch Anselm, dem es immer unterstellt wird, so keinesfalls denkt.

Wie Gott ist, das erkennen wir im Kreuz Jesu Christi: Gott gibt seinen Sohn, sein Teuerstes, um uns zu erlösen. Da ist Gott als gnädiger, als barmherziger und gerechter Gott zur erkennen.

III. Opfer zur Sühne?

Die ersten Jünger haben nach dem Tode Jesu zunächst gedacht, dass alles zu Ende ist. Sie kennen die Geschichten. Erst der auferweckte Jesus Christus, von dem übrigens bei Müller nicht mit einem Wort die Rede ist, öffnet den Jüngern die Augen. Jetzt beginnen sie zu verstehen, dass das Kreuz nicht die Niederlage ist, sondern im Zeichen des Sieges über den Tod zu verstehen, zu interpretieren ist. Dieser Aufgabe stellt sich das Neue Testament. In durchaus verschiedenen Anläufen – und nicht immer deckungsgleich.

Matthäus setzt andere Akzente als Markus, und Paulus andere als Lukas. Aber gemeinsam ist allen, dass sie Antworten auf die Frage, was das Kreuz Jesu Christi bedeutet, mit Hilfe der Tora, der Heiligen Schrift, entwerfen. Das wird deutlich etwa in der Geschichte der Emmausjünger. Der auferstandene Herr erklärt den verzweifelten, dass der Weg ans Kreuz von der Treuegeschichte Gottes zu seinem Volk zu deuten, zu verstehen ist.

Müllers drittes Argument war, dass die Jünger die positive Deutung des Kreuzes aufgrund der im Tempel üblichen Blutopfer entwickelt haben, Opfer, die zur Versöhnung Gottes gedacht waren – so Müller. Auf dieses dritte Argument will ich jetzt noch eingehen.

Dabei beziehe ich mich vor allem auf renommierte Forschungsergebnisse von Otfried Hofius und Bernd Janowski, die alle nicht ganz neu sind. Paulus verwendet in seiner Interpretation des Kreuzes Jesu die Begriffe „katalasso“ und „katallagä“ – das heißt versöhnen und Versöhnung und auch „hilasterion“, das heißt: Sühne – wir haben es eben in Römer 3 gehört. Das Kreuz Jesu Christi schafft Versöhnung. Um diese Vorstellung recht verstehen zu können, ist es - und darauf legt Hofius großen Wert – nötig, das Alte Testament als Bezugsrahmen zu haben.

„Das Verständnis des Christusgeschehens als eines Geschehens der Sühne und Versöhnung erschließt sich nur auf dem Hintergrund des Alten Testaments – nämlich auf dem Hintergrund der alttestamentlichen Traditionen über die kultische Sühne. Die kultische Sühne ist ‚ein Zu-Gott-Kommen durch das Todesgericht hindurch‘ (H. Gese).“[2] Nach Hofius ist also ein sachgemäßes Verständnis der Versöhnung und der Sühne – er sieht ja beides zusammen – nur zu gewinnen auf dem Hintergrund des alttestamentlichen kultischen Sühneverständnisses. Und man könnte auch sagen: Auf dem Hintergrund des durch die neueren Forschungen von Hartmut Gese und seiner Schüler herausgefundenen Verständnisses der Sühne.

Um das zu verstehen, hole ich hier jetzt ein bisschen aus und nehme aus Bernd Janowskis Studien einige Hinweise auf: „Sühne als Heilsgeschehen“[3] und „Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff“.[4] Bernd Janowski hat vor allem durch seine große Studie „Sühne als Heilsgeschehen“ bahnbrechend gewirkt; der Titel ist sprechend: Sühne als Heilsgeschehen.

Zentraler Begriff für Sühne im Alten Testament, zumindest in der Priesterschrift, ist „kaphar“. Nun sagt dieser Begriff aber nicht, wie lange Zeit angenommen wurde, dass kaphar eine menschliche Handlung bedeutet, in der der Mensch den Zorn Gottes zu besänftigen versucht, den Gott aufgrund der menschlichen Schuld hat. Dann wäre kaphar ein menschlicher Versuch, Gott umzustimmen, dann wäre Gott Empfänger der Sühne. Dem ist aber nicht so. Kaphar bedeutet die Vergebungsbereitschaft oder das vergebende Handeln Gottes. Und demzufolge ist die kultische Handlung eine von Gott gestiftete Heilshandlung, die dem Menschen zugute kommt.

Man kann das an der so genannten „Sündenbockerzählung“ aus Levitikus 16 gut verdeutlichen. Dort wird berichtet, dass einem durch Los bestimmten Bock durch Aufstemmen der Hände und Bekenntnis aller Verfehlungen die Sünden aufgeladen werden und dieser anschließend in die Wüste gejagt wird.

Nun ist diese Geschichte oft so verstanden worden, dass der Mensch bzw. das Volk Israel einem andern die Schuld auferlegt, einen anderen sozusagen zum Schuldigen macht und sich selber befreit. Und Gott nimmt dann dieses Opfer, das die Menschen gebracht haben, stellvertretend an. Gott wird eine Sühneleistung stellvertretend gebracht. So ist diese Geschichte oft verstanden worden. Aber das ist – so Janowski und mittlerweile viele andere – falsch. Denn es geht nicht um Selbstentschuldung des Volkes Israel, sondern um einen Akt, in dem stellvertretend etwas geschieht. Aber anders. Denn Gott allein vergibt die Sünde, die Schuld Israels. Und der Ritus verdeutlicht lediglich, dass mit dem in die Wüste gejagten Bock die Sünden fortgetragen werden: „‘Der Bock trägt auf sich alle ihre Verschuldungen fort in eine abgelegene Gegend“ – und ent-lastet damit die Kultgemeinde Israel von ihrer Schuld.“[5]

Urheber des Sühnegeschehens ist Gott und nicht der Mensch. Und nicht Gott wird versöhnt, sondern der Mensch. Dieses Verständnis von Sühne, dass nämlich durch dieses Sühnegeschehen neue Gottesgemeinschaft ermöglicht wird: Der Sündenbock trägt ja mit sich alle Schuld, alle Trennung von Gott in die Ferne, da wo sie nicht mehr belasten können, dieses Verständnis von Sühne ist ein kultisches Geschehen, was letztlich mit der Vorstellung der Versöhnung korreliert, weil ein gestörtes Verhältnis in Ordnung gebracht wird durch ein stellvertretendes Geschehen. Der Kultus ist sozusagen ein Angebot, sich das göttliche Geschehen zu veranschaulichen, es mit-zuerleben. Religion als Lebensform schafft nicht Wirklichkeit, sondern reagiert auf sie.

Für Hofius ist es wichtig, dass dieser Rückgriff auf das Versöhnungsgeschehen des Alten Testaments eben diese doppelte Dimension, die er in 2. Kor. 5 wahrgenommen hat mit seiner doppelten Dimension von Versöhnungstat und Versöhnungswort, enthält. Urheber der Versöhnung, sozusagen die Versöhnungstat, geschieht alleine durch Gott. Und das ist auch bei kaphar deutlich: Urheber der Versöhnung ist Gott, Gott wird nicht versöhnt, sondern hat die Versöhnung gewirkt durch die Entsühnung. Und deutlich wird das im geschehen des Kultes: Dort wird erkennbar, verdeutlicht, symbolisiert, illustriert, für den Menschen fassbar, was Gott tut und getan hat. Der Kult bewirkt nicht die Versöhnung, sondern bekennt sie.

Neben dieser Sündenbockerzählung, die die Struktur von Sühne im AT gut zeigt, erinnert Hofius und erinnern neben ihm andere vor allem an Deuterojesaja und da besonders an Jes 52,13 – 53,12, das so genannte Gottesknechtslied; hier ist explizit die Rede vom Sühnetod des einen. Und dieser Abschnitt ist in der neutestamentlichen Deutung als Interpretationsmuster verwandt worden, um den stellvertretenden Kreuzestod des einen zu verstehen.

Die Bezugnahme auf das Alte Testament beim Kreuzesgeschehen geschieht nicht, wie Müller es behauptet, um mittels der Opferterminologie Gott als zu Versöhnenden dazustellen. Sondern ganz anders. Das übrigens im NT nur ganz selten vorkommende Wort „Opfer“ (v.a. im Hebräerbrief) meint das nicht. Und die im Tempel dargebrachten Opfer dienen nicht dazu, um Gott zu versöhnen, sondern stellen die Versöhnungstat Gottes dar.

Gott wird nicht versöhnt – er versöhnt. Das ist die zentrale Aussage des Neuen Testaments, wenn es den Kreuzestod Jesu Christi als „für uns geschehen“ interpretiert. Und das ist auch die zentrale Aussage des Alten Testament, dass er seinem erwählten Volk treu ist und treu bleibt – auch da, wo es von dem gewiesenen Weg abweicht. Gott ist treu.

Das übersteigt unser menschliches Denkvermögen. Und es ist auch jetzt nicht so, dass ich genau sagen könnte: Darum war das Kreuz nötig. Folgende Gründe sind es.

Nein, wenn wir vorm gekreuzigten Christus stehen, dann ist das Staunen über den Weg Gottes das Erste. Und darum sind die Karfreitagslieder zu großen Teilen so passend, weil sie nicht in einer Zuschauerhaltung einherkommen, sondern fragen: Herr, was habe ich verbrochen …

1. Herzliebster Jesu, was hast Du verbrochen,
daß man ein solch scharf Urteil hat gesprochen?
Was ist die Schuld, in was für Missetaten
bist Du geraten?

2. Du wirst gegeißelt und mit Dorn gekrönet,
ins Angesicht geschlagen und verhöhnet;
Du wirst mit Essig und mit Gall getränket,
ans Kreuz gehenket.

3. Was ist doch wohl die Ursach solcher Plage?
Ach, meine Sünden haben Dich geschlagen!
Ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet,
was Du erduldet.

4. Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe:
Der gute Hirte leidet für die Schafe;
die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte,
für seine Knechte.


[1]  Die Andachten von Burkhard Müller finden sich in: http://chrismon-rheinland.de/cpr/docs/mueller_andachten.pdf; weitere Texte zum Thema: http://www.chrismon-rheinland.de/cpr/suehneopfer_dossier.html .

[2] Otfried Hofius, Versöhnung, in: Theologische Beilage 1.89 (in: RKZ 130/189), 2-4, 2f.

[3] Neukirchen 1982.

[4] Stuttgart 1997.

[5] Bernd Janowski, Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff,  Stuttgart 1997, 36.


Prof. Dr. Georg Plasger / Siegen