Annäherung von Christen und Juden im Hören auf die Stimme Gottes

Eine Konferenz von 38 Organisationen macht die Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen in Polen zum Thema

Persönliche Eindrücke vom Treffen des International Council of Christians and Jews (ICCJ) in Krakau - von Sylvia Bukowski

Vom 3. bis 6. Juli dieses Jahres traf sich der International Council of Christians and Jews (ICCJ) zu seiner Jahreskonferenz in Krakau. Der ICCJ ist der Dachverband für 38 nationale Organisationen, die seit mehr als 50 Jahren an einer Erneuerung des christlich - jüdischen Verhältnisses arbeiten und im interreligiösen Dialog engagiert sind.

Die jährlichen Treffen dienen dem Austausch über aktuelle Themen und der gegenseitigen Anregung und Ermutigung. In diesem Jahr wurde die Tagung in Zusammenarbeit mit der Fakultät für Internationale und Politische Studien der Jagiellonen Universität Krakau durchgeführt und stand unter dem Thema: „Religionen und Ideologien. Polnische Perspektiven und darüber hinaus.“

Der Ort war nicht zufällig gewählt. Krakau hat in der polnischen Geschichte immer eine wichtige Rolle gespielt und war vor der Shoa ein Zentrum jüdischen Lebens und jüdischer Kultur. Gleichzeitig liegt es nur 60 km entfernt von Auschwitz, dessen Name überall in der Welt für den deutschen Massenmord an den europäischen Juden steht. Sowohl eine historische Stadtführung mit unterschiedlichen Schwerpunkten, u.a. auch auf den Spuren von Papst Johannes Paul II, stand daher auf dem Plan, als auch eine Fahrt nach Auschwitz und ein gemeinsames Gedenken in Birkenau.

Ein besonderes Gewicht wollte die Tagung jedoch auf die Gegenwart legen und das wiedererwachende jüdische Leben und die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden in Polen würdigen. Dieses Anliegen wurde durch Grußworte hochrangiger Vertreter aus der Politik, der römisch katholischer Kirche und der jüdischen Gemeinschaft Polens unterstrichen. (Das Fehlen von VertreterInnen aus den protestantischen Minderheitskirchen war für mich als evangelische Pfarrerin sehr auffällig und wurde auf Anfrage mit deren geringen Einfluss erklärt).

Was ich gelernt habe

Erstens: Es findet ein Prozess tief reichender Erneuerung im Verhältnis von Christen und Juden in Polen statt.

Mir war bekannt, dass das Verhältnis zwischen Juden und Christen in Polen in der Vergangenheit nicht unbelastet war. Ich dachte dabei vor allem an den tief im Christentum verwurzelten Antijudaismus. Durch den Vortrag von Prof. Zdzislaw Mach, wurde mir klar, dass auch soziologische Faktoren für die Ausgrenzung der Juden in Polen eine Rolle spielten, z.B. die über lange Zeit rückständige, agrarisch geprägte Gesellschaft Polens, in der die Juden der Kollaboration mit dem Adel beschuldigt wurden, das Fehlen eines städtischen Bürgertums, das die Integration gebildeter und wohlhabender Juden erleichtert hätte, und schließlich das polnische Nationalbewusstsein, das durch die leidvolle Teilungsgeschichte geprägt und z.T. messianisch überhöht wurde und sich allem „Fremden“ verschloss. Auch aus diesem Grund nahmen viele Polen keinen Anteil an dem jüdischen Leid unter der nationalsozialistischen Besatzung. Wer Juden rettete – und immerhin sind 25% der „Gerechten aus den Völkern“ Polen – tat das aus humanitären Gründen und nicht, weil die Juden zu den Ihren zählten.

Dementsprechend problematisch war das Schicksal der überlebenden Juden. Auf dem Land wurde ihnen vielfach die Rückkehr in ihre Häuser verwehrt, an verschiedenen Orten kam es zu antisemitischen Gewalttaten. Am bekanntesten ist der Pogrom in Kielce, wo nach einem vermeintlichen Ritualmord 41 jüdische Holocaustüberlebende im Volkszorn erschlagen wurden (und 2 Nichtjuden, die rettend einschreiten wollten).

Unter kommunistischer Herrschaft kam es zu keiner nennenswerten Aufarbeitung der polnisch-jüdischen Vergangenheit, geschweige denn zu einer Diskussion über eine Mitschuld an der Ermordung von Juden. Selbst das Massaker von Jedwabne, bei dem polnische Einwohner der Stadt ohne deutsche Beteiligung mehr als 1600 jüdische Nachbarn in einer Scheune verbrannt hatten, blieb lange ohne öffentliches Schuldbekenntnis. Zu stark fühlten sich die Polen selbst als Opfer der Nazibarbarei, als dass sie sich mit dem Schicksal „der Anderen,“ sprich mit dem jüdischen Leid in ihrer Mitte befassen wollten. Zudem bot die Mitgliedschaft vieler in Polen verbliebener Juden in der kommunistischen Partei und ihrer Organe den polnischen Nationalisten einen neuen Vorwand für die alten antijüdischen Ressentiments. (Nach der Shoa und der folgenden Auswanderungswelle vieler Überlebender blieben noch ca. 30 000 von ehemals 3 Millionen Juden in Polen)

Immer wieder irritiert mich, wie wenig wir als „68er“ von dem „linken Antisemitismus,“ der nach 67 auch gern als Antizionismus daherkam, wussten oder wissen wollten. Die große „Säuberungsaktion“ gegen jüdische Parteimitglieder in Polen 1968, ist an den meisten von uns völlig vorbeigegangen.

Nach 1989 begann in Polen mit der Öffnung nach Westen auch eine Wende im Umgang mit der polnisch-jüdischen Geschichte. Man begann, sich mit der ausgelöschten Welt des Judentums und dem jüdischen Leben der Gegenwart zu beschäftigen. (Nach der Shoa und den beiden folgenden Auswanderungswelle vieler Überlebender 1947-51 und 1968 leben noch ca. 30 000 von ehemals 3 Millionen Juden in Polen)

Auch in der Kirche begann ein Prozess des Umdenkens in Bezug auf das Judentum. Der maßgebliche Anstoß dazu stammt, wie alle Referenten der Tagung betonten, von dem „polnischen Papst“ Johannes Paul II. Im Geist von Nostrae Aetate nannte er die Juden „unsere älteren Brüder im Glauben“ und schärfte schon 1980 in der Mainzer Synagoge ein: „Wer Christus begegnet, begegnet dem Judentum.“ Er selbst hatte die Gräuel der deutschen Besatzung in Polen miterlebt und war Zeuge der Ermordung von Juden geworden. Durch seine persönlichen Kontakte mit Überlebenden war er dessen bewusst, dass die Wunde der Shoa noch offen ist. Deshalb versuchte er, in seinen Schriften und in der lebendigen Begegnung mit Juden, das Verhältnis der römisch katholischen Kirche zu Israel grundlegend zu erneuern. Im Geist von Nostrae Aetate nannte er die Juden „unsere älteren Brüder im Glauben“ und schärfte schon 1980 in der Mainzer Synagoge ein: „Wer Christus begegnet, begegnet dem Judentum.“

Der Oberrabiner Polens, Michael Schudrich, würdigt dieses Engagement mit den Worten: „Der polnische Papst Paul Johannes II hat im Kampf gegen den Antisemitismus mehr getan als jeder andere Mensch in 2000 Jahren.“ Die Enttäuschungen, die es auf jüdischer Seite auch mit diesem Papst gibt, kamen auf der Tagung nicht zur Sprache.

1990 formierte sich der polnische Rat von Christen und Juden (PCCJ) und wurde Mitglied vom ICCJ. Aus dieser neuen Zusammenarbeit stammen viele theologische und praktische Anstöße für die Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden. Während die Bischofskonferenz noch zögerte, die Idee eines „Tags des Judentums“ aus Italien zu übernehmen, begann der PCCJ schon 1992, gemeinsame Feiern in Verbindung mit Simchat Tora zu organisieren. Sie finden inzwischen alljährlich in christlichen Kirchen mit jüdischer Beteiligung statt und werden von christlich – jüdischen Seminarveranstaltungen begleitet.

Eine weitere Aktivität des PCCJ ist ein ökumenischer Gebetsweg in Erinnerung an den Warschauer Ghettoaufstand. (An ihm nehmen auch VertreterInnen der protestantischen Kirchen Polens teil) Dabei werden an verschiedenen Stationen, auch am sog. Umschlagplatz, christliche und jüdische Gebete gesprochen.

1998 hat die polnische Bischofskonferenz die Angst vor einer „Judaisierung des Christentums“ überwunden und den „Tag des Judentums“ für alle Gemeinden eingeführt. Er wird am 17. Januar gefeiert und steht ganz bewusst unmittelbar vor dem Beginn der Gebetswoche für die Einheit der Christen, um an die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens zu erinnern. Umfangreiches Vorbereitungsmaterial zu verschiedenen Themen, die im christlich-jüdischen Dialog relevant sind, wird zur Verfügung gestellt. Dadurch soll es den einzelnen Gemeinden ermöglicht werden, diesen Tag als einen wichtigen Denkanstoss wahrzunehmen. (Wieviele es de facto tun, ist eine andere Frage)

Die beharrliche Leidenschaft, mit der die beiden Vorstandsmitglieder des PCCJ, Barbara.Sulek-Kowalska und Stanislaw Krajewski ihre Arbeit vorantreiben, hat mich sehr beeindruckt. Denn auch wenn wenig von den Widerständen und Rückschlägen, mit denen sie konfrontiert werden, die Rede war: es gibt sie. Denn noch längst ist der Erneuerungsprozess nicht in allen Teilen der katholischen Kirche Polens angekommen, immer noch verbreitet z.B. „Radio Maryja“ als fünftgrößter Sender Polens mit ca. 1 Million Hörer öffentlich chauvinistische, rassistische und antisemitische Propaganda.

Was mich bewegt hat

Schon mehrfach habe ich mit Gemeindegruppen Auschwitz besucht. Nun waren viele jüdische TeilnehmerInnen dabei, unter ihnen etliche, deren eigene Familie von der Shoa betroffen war.

Gemeinsam haben wir den Besuch von Auschwitz im Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim begonnen. (Die Polen legen Wert auf die Unterscheidung der Namen für das deutsche KZ und der polnischen Stadt) Einige fanden die Großzügigkeit des Baus und den Komfort, den er bietet „unpassend für die Nähe zu dem größten Vernichtungslager.“ Aber könnte eine spartanischere Einrichtung etwa eine größere Nähe zu dem Grauen herstellen, das Menschen in Auschwitz erlitten haben? Und was ist überhaupt das Ziel eines Besuchs von Auschwitz?

Die Antwort einer Mitarbeiterin des Museums Auschwitz lässt sich in 3 Aspekte bündeln: Es geht um Gedenken im Blick auf die Vergangenheit, um Bewusstseinsschärfung für die Gegenwart und um Verantwortung für die Zukunft.

In dichter, fast poetischer Sprache fasste Prof. Jonathan Webber seine jüdische Sicht auf Auschwitz zusammen und in der ihm eigenen, bewegenden Demut stellte Pfarrer Dr. Manfred Deselaers, Leiter der Programmabteilung des Zentrums, das Hören in den Mittelpunkt: das Hören auf die Stimmen der Erde, in der die Lebenswelt so vieler Menschen untergegangen ist, das Hören auf die Stimme des Herzens, das sich anrühren lässt von der unverheilten Wunde, die Auschwitz hinterlässt, das Hören auf die Stimme anderer, um ein neues Verständnis füreinander zu finden, das Hören auf die Stimme Gottes im Gebet.

Die meisten von uns haben sich anschließend an einer Führung durch das Stammlager beteiligt. Mir ist dabei aufgefallen, wie das demonstrativ laute Schlürfen der coolen Jugendlichen, die uns mit ihrer Gruppe im dichten Gedränge immer vorausgingen, von Station zu Station abebbte und im Todesblock schließlich ganz aufhörte...

Zum Abschluss traf sich unsere Gruppe zu einem Gedenkweg in Birkenau. Betend und meditierend gingen wir entlang der Rampe zu dem Mahnmal nahe den Überresten der Gaskammern. Dort sang Rabbiner Ehud Bandel das El Male Rachamim für alle Opfer und sagte Kaddisch für seine ermordeten Angehörigen. Es war ein Augenblick, der uns allen sehr zu Herzen ging, und das Bild einer jungen, Schleier tragenden Muslima, die mit ihrer jüdischen Freundin gemeinsam weinte, werde ich nicht vergessen.

Mit sehr unterschiedlichen Hintergründen sind wir alle an diesen Ort gekommen, und es ist für mich eine starke und stärkende Erfahrung, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen konnten.

Ausblicke

Am letzten Tag stand zunächst das Thema Gerechtigkeit im Vordergrund. Prof. Dr. Ursula Rudnick und Rabbi David Rosen hielten die Hauptreferate dazu. (Abdruck?) Interessant war für mich, welche Wirkung von dem Schlussimpuls der biblischen Ausführungen von Prof. Rudnick ausging: Statt nur über Gerechtigkeit zu reden, sollten wir etwas Gerechtes tun, konkret Spenden für Bäume in Israel. In Murmelrunden griffen viele TeilnehmerInnen das Thema einer gemeinsame Verantwortung für die ökologische Zukunft unserer Erde auf. Rabbi Rosen unterstrich die höchste Dringlichkeit eines globalen Einsatzes für die Bewahrung der Schöpfung mit dem Vergleich: Was nutzt es, isoliert an einigen Ecken zu reparieren, wenn das ganze Haus einzustürzen droht.

Wieviel Energie einzelne „Problemecken“ verzehren wurde am Nachmittag in einer Podiumsdiskussion über das Kairos Papier deutlich. Eine Annäherung der Standpunkte von Pfarrer Jamal Khader, einem Mitverfasser des Papiers, und Rabbi Ehud Bandel, israelischer Friedensaktivist und Mitbegründer der Organisation „Rabbiner für Menschenrechte“, gelang nicht, und es herrschte eine sehr angespannte Atmosphäre. Eine polnische Sitznachbarin äußerte sich mir gegenüber zu den Ausführungen des Rabbiners sehr verständnislos und nahm höchst emotional Partei für die Palästinenser, so wie ich es in Deutschland auch oft erlebe.
Auch der ÖRK hat dieses Dokument palästinensischer Christen kritiklos unterstützt und verbreitet, was viele meiner jüdischen GesprächspartnerInnen auf der Tagung empört hat. Ich halte es für sehr wichtig, dass wir uns in Deutschland noch eingehender mit diesem Papier beschäftigen, und dass auch in unseren Gemeinden eine Diskussion darüber in Gang kommt. In ihr wird sich die Tragfähigkeit der theologischen Erkenntnisse aus dem christlich jüdischen Dialog ebenso bewähren müssen wie eine wache Sicht für die Leidensgeschichte und die Ängste von Palästinensern und Israelis.

Neben vielen inhaltlichen Denkanstößen, die ich von der Tagung mitgenommen habe, stehen die Menschen, an die ich noch lange gern denken werde, ihre Herzlichkeit und die Offenheit unserer Begegnungen. Es war wie es im offiziellen Rückblick des ICCJ heißt, eine wirklich „erfolgreiche Tagung.“