Albrecht Thiel: Erziehung zur Freiheit II
Calvins Selbstverständnis als Prediger
Das Wort, mit dem er die Gemeinde unterweist, empfängt er vorher selbst als Belehrung. Nicht er muß die Predigt als rhetorische Leistung „machen“ [1], sondern hat in ihr als treuer Zeuge das vorher gesagte Gotteswort nachzusprechen[2]..“ Reflektiert ist dies in einem Abschnitt in einer Predigt über Dtn 6: „Das ist, als wenn ich auf die Kanzel stiege und ich es wagte, gar keinen Blick ins Buch zu werfen und ich mir eine frivole Einbildung zurechtschmiedete und sagte: ‘Ach ja, wenn ich dahin kommen werde, wird Gott mir genug geben, worüber ich sprechen kann.’ Und wenn ich es wagte, nicht zu lesen, nicht zu denken an das, was ich vorbringen muß und ich hierhin käme, ohne gut vorüberlegt zu haben, wie man die Heilige Schrift zur Erbauung des Volkes anwenden kann - dann wäre ich ein anmaßender Mensch und Gott würde mich verwirrt machen in meiner Kühnheit.“ [3].
Der Prediger ist das Instrument, durch das Gott zu Wort kommt[4]. Eindrucksvoll das Bild des von einem Fürsten beauftragen Botschafter: „...die Diener Gottes (...) rechnen sich nichts zu, sondern sie zeigen, wozu sie bestellt sind, welcher Auftrag ihnen gegeben ist (...). Wenn jemand von einem Fürsten geschickt wird und er die ganze Autorität hat zu tun, was ihm im Auftrag anbefohlen ist, nimmt er den Namen des Fürsten wie geliehen...“ [5].
Darum haben die Prediger auf Gott zu hören und „...nicht das Volk mit ihren Erfindungen zu amüsieren.“ [6]. Entsprechend fordert Calvin, „...daß alles, was vom Menschen ist, niedergelegt wird, so daß ich in Wahrheit bekennen kann, daß alles, was ich ausspreche, von Gott ist und daß ich es aus ihm geschöpft habe.“ [7]
Grundzüge der Homiletik Calvins
Reihenpredigt
Calvin hat seit seinen Anfängen in Genf biblische Bücher Kapitel für Kapitel „durchgepredigt“. Nach welchen Maßstäben hat er die Bücher für die Reihe ausgewählt? Oft ist es wohl so, daß er die Grundstimmung des Buches in einer gewissen Analogie zur Situation in Genf nachempfindet. Beispiel: In den Predigten über das Deuteronomium geht er von ähnlichen Ausgangspunkten aus: Wie Gottes Wort einst in unüberbietbarer Klarheit am Sinai laut geworden ist, so haben die Menschen jetzt durch die Reformation Evangelium und Gesetz wieder in ihrer ursprünglichen Form hören können[8]. Doch in beiden Fällen reagieren sie statt mit Gehorsam mit Widerspruch, Ablehnung und Gleichgültigkeit. Darum muß es zu einer zweiten Unterweisung kommen. Diese ist von dem pädagogischen Bemühen sowohl Gottes als auch seines Predigers gekennzeichnet, den widerstrebenden Menschen doch noch zu seiner Bestimmung hinzuführen.
Zur Sprache der Predigten
Die Predigten sind dogmatisch reflektiert, aber keine Dogmatik-Vorlesungen. Sie versuchen, im kleinen (Textabschnitt) wie im großen (biblisches Buch) dem Text zu folgen. Ein Punkt folgt auf den anderen - der Hörer wird hineingenommen in ein lineares Denken[9], das ihn selbst auf den Weg bringt[10]. Die Predigtgedanken gehen schrittweise über einzelne Stufen voran, von denen keine überflüssig ist[11].
Predigten haben nicht zu glänzen, sondern zu vermitteln. Darum - so ein Sprachforscher - „erfand“ [12] Calvin den kurzen Satz (auch wenn dies in der stenographischen Nachschrift kaum mehr erkennbar ist). Es war eine an den lateinischen und griechischen Klassikern reflektierte Einfachheit[13].
Seine Sprache ist arm an ausschmückenden Adjektiven[14]- hier ist er dem Journalismus näher als vielen Predigten unserer Tage. Sie ist direkt und alles andere als akademisch. Hinter dieser sprachlichen Form liegt eine theologische Grundentscheidung: Wir Menschen können uns Gott in seiner Majestät nicht vorstellen. Es gilt: „Er muß sich erniedrigen und muß Weisen zu reden gebrauchen, die für unsere Einfachheit geeignet sind und für die Beschränktheit unserer geistigen Fähigkeiten.“[15]. Das ist die Figur der acccommodation, die sich quer durch Calvins Theologie zieht. Für die Predigt sieht dieser Prozeß des Herabsteigens Gottes in die Welt unserer Faßbarkeit z.B. so aus: „Gott macht sich gleichsam ähnlich einer Amme, die nicht zu einem kleinen Kind spricht, wie sie es zu einem Erwachsenen täte (...) unser Herr hat sich so auf vertraute Art und Weise uns angepaßt.“[16].
Dies ermöglicht Calvin die Freiheit zu einer Sprache, die nahe an der Lebenswirklichkeit der Menschen ist. Er gebraucht Bilder aus verschiedenen Lebensbereichen: Besonders häufig sind solche von der Schule und dem Lehrer[17]: Gott als Lehrer, der die Gemeinde immer wieder im ABC, also im Elementaren, unterweisen muß, das Christenleben als eine Art Examen Gottes, die Wege und Prüfungen Gottes als Ausdruck seines pädagogischen Handelns.
Anthropologisch wichtig und bezeichnend ist das Bild vom Zügel, der Menschen angelegt werden muß[18]. Zwar geht Gott auf den Menschen zu - der Mensch aber zieht immer wieder von Gott weg. Was Gott tut, ist keine Laissez-faire-Pädagogik, sondern ein Kampf, mit dem er die Menschen auf die rechte Bahn bringen will.
[1] In der Predigt über 1. Tim 3, 1-4 vom Dezember 1554 (CO 53, 257-272) karikiert Calvin diese Haltung, mit der sich der Prediger selbst in Szene setzt: „Denn der Heilige Paulus will nicht, daß man hier nur ein Zurschautragen macht und daß ein Mensch sich zeigt und daß jeder ihm applaudiert und sagt: Oh ja, gut gesprochen, oh das große Wissen, oh der subtile Geist!“ (CO 53, S. 266, Übersetzung durch den Vf.))
[2] In Calvins Worten: „Niemand soll sich anmaßen, sich aufzudrängen und zu sagen ‘Ich werde sprechen’. Der heilige Petrus möchte, daß wir sicher sind, daß, wenn wir auf die Kanzel gehen, daß wir dann zeigen sollen, daß Gott uns sendet und daß wir die Botschaft tragen, die er uns anvertraut hat, so daß ‘er spricht’ (sagt er) ‘laß ihn als Gottes Wort sprechen’. (1. Pt 4, 11)“. Zit. n. Thomas Henry Louis Parker, Calvin’s Preaching.
[3] Predigt über Dtn 6, 15-19, CO 26, 473f, Übersetzung durch den Vf.
[4] „Im Dienste Gottes gibt es keinen Orator, nur ein Organ.“ - S. Csikesz,, Die wichtigsten methodischen Elemente in der pastoralen Predigt bei Calvin (Zusammenfassung) in: Kálvin és a kálvinizmus, Debrecen 1936, 235-274. S. 271.
[5] Predigt über Dtn 3, 12-22, CO 26, S.66. Übersetzung durch den Vf. So auch Parker: „Der Prediger ist ein Botschafter durch die Kraft seiner Botschaft. In dieser Hinsicht ist die Substanz des Bildes die Wiederholung jenes der ‘Schule Gottes’.“ (wie Anm. 22, S. 29)
[6] „...ne d’amuser le peuple à leurs inventions.“ - Predigt Nr.4 (CO 25, S. 647).
[7] „...que tout ce qui est de l’homme, soit mis bas, tellement que ie puisse protester en verité, que tout ce que ie prononce, est de Dieu, et que ie l’ay puisé de luy.“ - Predigt über 2. Tim 2, 14-15 von Anfang Juni 1555 (CO 54, 139-152), S.146.
[8] Für beide Situationen gilt: „Nun aber, wenn Gott uns die Gnade und das Vorrecht gegeben hat, daß wir gerufen worden sind, sein Wort zu hören, und daß es in seiner puren Einfachheit veröffentlicht worden ist, erkennen wir, daß wir um so mehr verpflichtet sind, ihm zu dienen und ihn zu hören...“ (CO 26, S. 138. Übersetzung durch den Vf.)
[9] Siehe dazu Francis Higman, Linearity in Calvin’s Thought. Calvin Theological Journal 26 (1991), 100-110. S. 110.
[10] Die Computer-Konkordanz zur Institutio verstärkt auch von den dort gebrauchten sprachlichen Bildern her den Eindruck der Linearität. Am häufigsten ist das Bild vom Weg gebraucht: In der Auflage von 1539 129mal, in der von 1559 sogar 179mal. (Siehe ebd., S. 109, A. 19) Lyrischer Thomas Parker: “Die Predigten sind wie Flüsse, die sich stark in eine Richtung bewegen, immer mit Strudeln und Gegenströmungen, jetzt donnernd in Katarakten, dann ein ruhiger Spiegel der Ufer und des Himmels, aber niemals still, niemals stagnierend.“ (Wie Anm. 22, S. 132).
[11] Von daher schließt Francis Higman auf die gesamte Theologie Calvins: „Für Calvin ist Theologie kein statisches Element, sondern eine Reise, ein Fortschritt, eine Erforschung.“ (Wie Anm. 29, S. 110)
[12] Francis Higman: „Um es aufs Einfachste hinzustellen: Calvin erfand den kurzen Satz. Anstatt zu versuchen, das ganze Programm zugleich zu entfalten, macht er einen Punkt, geht dann zu dem nächsten weiter, dann zu dem nächsten, und so weiter.“ (ebd., S. 106).
[13] Er bezog sich dabei auf Cicero und Quintilian, in der Form sogar auch auf Aristoteles. In seinem Kommentar über Senecas „De clementia“ beruft sich Calvin ausdrücklich auf die Genannten. (Siehe Alexandre Ganoczy und Stefan Scheld, Die Hermeneutik Calvins. Geistesgeschichtliche Voraussetzungen und Grundzüge. Wiesbaden 1983. S. 184) Ähnlich auch Rodolphe Peter, Rhétorique et prédication selon Calvin. Revue d’Histoire et de Philosophie Religieuses 55 (1975), 249-272. S. 250.
[14] Thomas Parker: „...ein Mann mit Calvins literarischen Fähigkeiten legt die Bedeutung auf Verben und Nomina.“ (Thomas H.L. Parker, The Oracles of God. An Introduction to the Preaching of John Calvin. London 1945. S. 77). - Das entspricht im übrigen heutigen Kommunikationstheorien für (homiletische) Rundfunkbeiträge.
[15] „...il faut qu’il s’abbaisse, et qu’il use de façons de parler qui soyent propres à nostre rudesse, et à la debilité de nos esprits.“ (CO 28, S. 441)
[16] „Dieu s’est fait quasi semblable à une nourrice, qui ne parlera point à un petit enfant selon qu’elle feroit à un homme...nostre Seigneur s’est ainsi familièrement accommodé à nous.“ (ebd.)
[17] Erwin Mülhaupt: „Besonders häufig gebraucht ist das Bild von der Schule und vom Lehrer. [...] Christus der Lehrer, die Christenheit zeitlebens die Schüler, bald mit dem a-b-c des Christentums beschäftigt, dann wieder im Examen unter Gottes Wort stehend, das Christenleben die Schule Gottes - solche Wendungen kehren immer wieder.“ (wie Anm. 17, S. 57f)
[18] „tenir en bride“ Siehe ebd., S. 60f.
©Dr. Albrecht Thiel
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