Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin II

7. Praktische Wirkungen von Calvins Wirtschafts- und Sozialethik
8. Impulse aus der ökumenischen Diskussion
9. Linien einer gegenwärtigen reformierten Wirtschafts- und Sozialethik
10. Freiheit, Gerechtigkeit und Koinonia als theologische Orientierungen
11. Geld und gute Worte 

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7. Praktische Wirkungen von Calvins Wirtschafts- und Sozialethik

 „Wir gehören nicht uns selbst, sondern Gott[28] – in dieser Sentenz lässt sich Calvins Wirtschafts- und Sozialethik prägnant zusammenfassen. Die in Arme und Reiche differenzierte christliche Gemeinde bekennt den lebendigen Gott als ihren Herrn, von dessen Verheißung beide leben und dem sie verpflichtet sind.

Die Frage des Verhältnisses vom Armen und Reichen im Bund mit Gott musste sich praktisch-institutionell bewähren. Statt ihrer offenen oder schleichenden Divergenz gewann im reformierten Protestantismus der Gedanke der Humanitas und der Communio von Menschen Gestalt, die in unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Kontexten leben.[29] So sind aus Calvins wirtschafts- und sozialethischen Überlegungen konkrete Wirkungen hervorgegangen. In Genf wurden neben frühneuzeitlichen Maßnahmen der sozialen Gerechtigkeit u.a. die Hilfe für Glaubensflüchtlinge auf der Durchreise etabliert. Die Genfer Kirchenordnung von 1561, die sich ausdrücklich als „aus dem Evangelium Jesu Christi abgeleitet“ verstand, beschrieb das Amt der Diakonen als den vierten Stand zur Leitung der Kirche und wies diesen die Aufgaben der Güterverwaltung und der Sorge für die Kranken und Armen zu.[30]

Exemplarisch soll der Blick auf die Maßnahmen des humanistischen Adeligen und späteren ostfriesischen Superintendenten Johannes a Lasco gelenkt werden. Dieser beklagte als Schande, in Emden keine geordnete Armenfürsorge durchsetzen zu können und entschloss sich 1549, nach London überzusiedeln. Eingesetzt als Superintendent der Gemeinden protestantischer Glaubensflüchtlinge, verfasste er mit der Londoner Kirchenordnung sein theologisches Hauptwerk, das weit über London hinaus auf den Protestantismus wirkte.[31] Calvins Humanitas- und Communio-Gedanke wurde bei ihm weiter profiliert, indem er die Gemeindediakonie fortentwickelte. Er richtete ein „Amt der Tische für die Bedürftigen“, ein Diakonenamt, ein, um die Not zu lindern. Den Reichen wurde empfohlen, in christlicher Liebe gerne und reichlich zu geben, zumal ihr Besitz Gottes Eigentum sei. Die Armen wurden aufgefordert, die Gaben ohne Scham und mit gutem Gewissen wie aus Gottes eigener Hand dankbar zu empfangen. Der bei Calvin beschriebene gemeinsame Dienst des Armen und des Reichen bekam hier einen institutionellen Charakter: Beide ehrten Gott durch ihre Freigebigkeit bzw. durch ihre gelinderte Not und Dankbarkeit. Für das theologische Verständnis der Armenfürsorge war das Gebet bei der Einführung der Diakone bedeutsam: „Herr Jesu Christe, der du uns dich selbst in uns armen und unsere armen in dir selbst eigentlich befohlen hast, daß man ein besondere Sorge derselbigen in deiner gemeine tragen sol ...“ Der folgende Satz mündet in den Wunsch: „..., auf daß sie (sc. die Diakone) deiner armen unter uns gottseliglich und treulich dienen.“[32] Die Armenfürsorge wurde in der Hinwendung Jesu Christi zu den Armen begründet, als Akt der Nachfolge Jesu Christi motiviert und zum gemeinsamen Dienst der Gemeinde erklärt. Dem entsprach die liturgisch festgelegte Mahnung am Ende jedes Gottesdienstes, der Armen zu gedenken und füreinander zu beten – eine Aufforderung, die die Verpflichtung der ganzen Gemeinde zur Barmherzigkeit zum Ausdruck brachte und auf die Gemeindediakonie zielte. Wieder in Emden angekommen, richtete Johannes a Lasco eine „Diakonie der Fremdlingen-Armen“ gemäß dem Londoner Vorbild ein; andere Institutionen für Sieche, Waise und durchreisende Arme kamen hinzu. In der Emder Kirchenordnung von 1571 findet sich die Maßgabe, dass sich die Gemeinden nicht leichtherzig von den armen Flüchtlingen entlasten sollen, indem sie diese in andere Gemeinden wegloben. All dies sind Beispiele für den Stellenwert, der der Sorge für die wirtschaftlich Schwachen und sozial Entwurzelten eingeräumt wurde.[33]

8. Impulse aus der ökumenischen Diskussion

Es ist das unbestreitbare Verdienst des Katholizismus, der Frage der Armut im II. Vaticanum und in den Sozialenzykliken einen besonderen Stellenwert beigemessen zu haben. Die Öffnung der römischen Kirche zur Welt, die unter dem Leitbegriff des Aggiornamento stand, hat nicht zuletzt in Mittel- und Südamerika Impulse für die Wahrnehmung der sozialen Problematik als Herausforderung für Kirche und Theologie gesetzt. So wird im Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam actuositatem“ (1965) der Auftrag der Kirche, Armut, Leid und Not in allen Formen zu bekämpfen, als verpflichtendes karitatives Handeln und Zeugnis gegenüber der Welt beschrieben.[34] Ähnliches gilt auch für die Konstitution „Gaudium et spes“ (1965).[35]

Die konziliaren Impulse standen im Zusammenhang mit der Befreiungstheologie, die u.a. in den Werken von Leonardo und Clodovis Boff und Gustavo Gutiérrez ihren Niederschlag fand. Diese beschreiben die Notwendigkeit, die soziale Realität wahrzunehmen, die Praxis der Theologie kritisch zu reflektieren und Jesus Christus, der sich mit den Armen und Elenden identifiziert, als Befreier der conditio humana zu verstehen. Die Christuswirklichkeit und die Wirklichkeit der Armen sind die eine Wirklichkeit, der die Nachfolge gilt. Als sozialethische Perspektiven werden beide, die strukturelle Veränderung und die unmittelbare Hilfstätigkeit, benannt. Im Vordergrund aber steht die theologische Frage: Was bedeutet die Existenz der Armen für das Sein und Handeln der Kirche? Gutiérrez fordert: „Nur wenn die Kirche die Armut (...) zurückweist und arm wird, um gegen sie zu protestieren, wird sie in der Lage sein, das zu predigen, was ihr eigen ist, (...) die Offenheit (...) gegenüber der von Gott verheißenen Zukunft.“[36] Die Früchte dieser theologischen Bemühungen liegen in den Dokumenten der Bischofskonferenzen von Medellin (1968) und Puebla (1979) vor.

Das Dokument von Medellin[37] verknüpft die Armutsthematik mit Gerechtigkeit und Frieden, so dass der „Hunger und Durst“ nach Gerechtigkeit und Frieden nicht mehr nur das Fürsorgehandeln aktivieren, sondern strukturelle Veränderungen im sozialen Gefüge nach sich ziehen soll. Die vielfältige Armut der Menschen wird zum Leiden Christi in Beziehung gesetzt. Wie Christus sich arm gemacht habe, so sei auch die Kirche dazu berufen, als arme Kirche zu existieren. Daran hat das Dokument von Puebla[38] angeknüpft. In ihm wird der Abgrund zwischen Reichen und Armen als Sünde gekennzeichnet und eine Umkehr hin zur Selbstidentifizierung mit dem armen Christus und mit den Armen angemahnt. Explizit wird von der „vorrangigen Option für die Armen“ gesprochen und diese christologisch von der Inkarnation und Armut Christi sowie seiner Hinwendung zu den Armen her begründet. Was aber versteht das Dokument konkret unter der „vorrangigen Option für die Armen“? Intendiert ist mehr als nur die Betätigung christlicher Nächstenliebe. Im Blick ist das Streben nach einer umfassenden Gerechtigkeit, die dem Problem der Armut an die Wurzel greift. Die Pointe der „vorrangigen Option für die Armen“ besteht darin, die Armut zum integralen Bestandteil der Christusverkündigung zu machen sowie Glaube und Gerechtigkeit unlösbar aneinander zu binden.

In dreifacher Hinsicht werden durch die Dokumente von Medellin und Puebla der ökumenischen Diskussion Aufgaben gestellt, indem erstens die Analyse struktureller Armut angemahnt, zweitens die Verknüpfung der Armenthematik mit der Gerechtigkeitsfrage eingefordert wird und drittens die „vorrangige Option für die Armen“ eine christologische Begründung findet.

9. Linien einer gegenwärtigen reformierten Wirtschafts- und Sozialethik

Zwar haben sich die Kirchen in Deutschland dem Diskurs über die „vorrangige Option für die Armen“ gestellt, bleiben aber in ihrer theologischen Argumentation gelegentlich unscharf. Im gewiss verdienstvollen gemeinsamen Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) wird die „vorrangige Option für die Armen“ durch die Menschenwürde, die in der Gottesebenbildlichkeit verankert ist, und durch das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe motiviert. Die Argumentation wird jedoch sogleich für kirchliches Agieren funktionalisiert. Die Option für die Armen wird vage zum „verpflichtenden Kriterium des Handelns“ ermäßigt; sie bestehe darin, „Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen“. Der besondere Beitrag der Kirchen sei das Eintreten für das Leitbild gesellschaftlicher Verantwortung.[39] So scharf die soziale Analyse im Einzelnen ist, sie bleibt an der entscheidenden Stelle, an der es erforderlich ist, die Formel von der „vorrangigen Option für die Armen“ theologisch mit Leben zu füllen, blass.

Wiederum ist ein Blick über die Grenzen hilfreich. Die im Reformierten Weltbund zusammengeschlossenen reformierten Kirchen haben spätestens seit ihrer Generalversammlung 1997 in Debrecen/Ungarn das Thema des gerechten Wirtschaftens auf ihre Tagesordnung gesetzt und wirken an einer ökumenisch verantworteten Urteilsbildung zur globalen Wirtschaft mit: „Heute rufen wir alle Mitgliedskirchen des Reformierten Weltbunds auf allen Ebenen zu einem verbindlichen Prozess der wachsenden Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (processus confessionis) bezüglich wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung auf.“[40] Unter dem Motto „Sprengt die Ketten der Ungerechtigkeit“ wird der Zusammenhang von Armut, Gerechtigkeit und Ökonomie theologisch reflektiert und erklärt: „Wir gehören nicht uns selbst. Wir wissen, dass wir in Jesus Christus teuer erkauft sind. Wir wollen niemanden von oben herab behandeln, ausschließen, noch die Gaben irgendeiner Person ... ignorieren. Wir erklären unsere Solidarität mit den Armen und mit allen, die leiden, unterdrückt oder ausgeschlossen werden.“[41] Dieser Prozess wurde weitergeführt und auf der folgenden Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in Accra/Ghana 2004 vertieft mit dem Ergebnis, dass ein „Bekenntnis des Glaubens angesichts von wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischer Zerstörung“ (= „Accra Confession“) das gegenwärtige System der Weltwirtschaft und die Dominanz des „Imperium“ einer harschen Kritik aussetzt.[42]

In diesen Prozessen zeichnet sich als reformierte Grundaussage ab, dass die Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses und der Verkündigung des Gottes, der mit den Verlierern der globalisierten Wirtschaft solidarisch ist, auf dem Spiel stehen. Zwei Folgerungen legt die Debatte gegenwärtig nahe: Erstens ist eine Grundausrichtung an dem, was von den Reichen im Interesse der Armen zu tun ist, deutlich zu erkennen. Dies verbindet sich mit der Überlegung der „vorrangigen Option für die Armen“, die in der besonderen Hinwendung Gottes zu den wirtschaftlich Schwachen gründet. Darin greift die ökumenische Diskussion ein Anliegen auf, das die biblischen Texte ebenso prägt wie Calvins Achtsamkeit für ein humanes Wirtschaften. Zweitens wächst das Bewusstsein dafür, dass Entscheidungen in der Gemeinde reifen müssen und dass ökonomische Prozesse die Gemeinden keinesfalls spalten dürfen.

Das Wirtschaftsleben mitzugestalten und zugleich ein kritisches Bewusstsein für seine Gefahren zu entwickeln, bestimmt folglich die Positionierung des reformierten Protestantismus. Artur Rich, der 1992 verstorbene reformierte Zürcher Wirtschaftsethiker, tritt für eine Ethik der Humanität aus Glauben, Hoffnung und Liebe im Horizont des Reiches Gottes ein.[43] Von hier aus bestimmt er die ethische Dimension des Wirtschaftslebens. Einem Ökonomismus, der die Wirtschaftswelt als System eigengesetzlicher Prozesse betrachtet, stellt er eine Ethik der Ökonomie entgegen, die klarstellt, dass die Wirtschaft um des Menschen willen und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen da ist. Die Frage nach dem Menschengerechten wird damit zur grundlegenden Frage der Wirtschaftsethik. Das Menschengerechte ist durch zwei Grundwerte bestimmt, nämlich durch Freiheit einerseits und durch Solidarität andererseits. Aus christlicher Sicht bestimmt Rich die Lebensdienlichkeit als fundamentalen Zweck jeglichen Wirtschaftens. Konkret bedeutet dies, dass im Wirtschaftsleben mehrere Zwecke gelten und zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen, ohne dass einer dieser Zwecke absolut gesetzt werden dürfe. Es sind dies der humane, der soziale und der ökologische Zweck des Wirtschaftens.

Ausgehend von dieser Sicht bilden Menschengerechtigkeit, ökonomische Sachgerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit das Dreieck einer ethisch verantwortbaren Wirtschaft. Entscheidend ist, dass die christliche Sozialethik die vorgegebene Wirtschaftsform nicht lediglich hinzunehmen, sondern als Aufgabe der aktiven Weltgestaltung im Sinne der Menschenwürde und Nächstenliebe anzunehmen hat. Dabei müssen Theologie und Kirche die sich heute vollziehenden ökonomischen und sozialen Veränderungen in den Industriegesellschaften zur Kenntnis nehmen und kompetent auswerten. Dies geschieht im Rahmen eines christlichen Freiheitsverständnisses, das nicht nur auf die individuelle Freiheit zielt, sondern auch auf Prozesse der Solidarisierung.

Ein zentrales theologisches Anliegen besteht darin, vom Evangelium her danach zu fragen, was in der Welt zu wollen und zu wünschen ist. Das gilt auch für die Frage des gerechten Wirtschaftens. Christinnen und Christen, die sich zur evangelischen Freiheit berufen wissen, werden in Sachen des gerechten Wirtschaftens eine nachdenklich fragende und zugleich pragmatisch konzentrierte Grundhaltung einnehmen, in der die Marktwirtschaft weder verteufelt noch vergötzt wird. Sie werden danach fragen, was es für die Gestaltung der globalen Wirtschaft bedeutet, wenn sie Gott als den Mensch gewordenen Schöpfer und Erhalter allen Lebens bekennen. Sie werden auch danach fragen, was es für den Umgang mit Armen und Reichen bedeutet, wenn sie Gott als den Gott der Gerechtigkeit bekennen. Sie werden die Wirtschaft als „Ökonomie für den Menschen“[44] gestalten. Und sie werden in all ihrem Tun dem gemeinsam auf das geschriebene und verkündigte Wort Gottes hören und von ihm her die Zeichen der Zeit deuten.

10. Freiheit, Gerechtigkeit und Koinonia als theologische Orientierungen

Wie lässt sich die in die ökumenischen Diskussion eingeführte Formel von der „vorrangigen Option für die Armen“ so weiterentwickeln, dass sie nicht zur rhetorischen Stereotype verkommt, sondern ihr theologisches Potenzial zur Geltung bringen kann? Im Anschluss an Calvin sollen nun drei theologische Orientierungen vorgestellt werden. Diese Orientierungen sind von der Überzeugung getragen, dass die Frage des gerechten Wirtschaftens der Vergewisserung durch und der Orientierung am Evangelium als der guten Botschaft von der Befreiung, Gerechtigkeit und Gemeinschaft Gottes bedarf, aus der die Aufgabe der menschlichen Gestaltung von Gerechtigkeit folgt. Es geht dabei um theologische Reflexionen statt um theologievergessenen Pragmatismus, um reformierte Nüchternheit statt um unverbindliche Normativität und eilfertigen Appell.

Als erste Orientierung sei die Gabe der Freiheit genannt. Gemeinsam mit Israel erinnert der christliche Glaube an den Exodus als das Grundgeschehen des befreienden Handelns Gottes. Im Exodus wendet sich Gott seinem armen und in Unfreiheit geknechteten Volk zu, erwählt es zum Volk seines Eigentums und verpflichtet es zur Bundestreue. Diese besteht u.a. darin, das Recht der Armen zu achten – eine Verpflichtung, die ausdrücklich mit der Erinnerung an Gottes befreiende Tat im Exodus begründet wird – und des Armen für immer zu gedenken. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments beginnt Jesus sein Werk in Aufnahme von Jes 61,1f. als Verwirklichung des Jubeljahres, also der Heilszeit, in der es gilt, den Armen das Evangelium zu verkündigen und den Unterdrückten ihre Befreiung anzusagen. Wie die Freiheit zum Inbegriff der Sendung Jesu wird, so findet die geschenkte Freiheit ihr Ziel in der Bewährung der Freiheit und im tätigen Dienst der Liebe. Das Erbarmen und die Gemeinschaft mit dem Armen sind im Geschenk der Freiheit als einer Gabe begründet. Die Gabe der in Jesus Christus beschlossenen Freiheit erinnert beide, Arme und Reiche, an die elementare Bedürftigkeit menschlichen Lebens. Im Horizont geschenkter Freiheit eröffnet sich für den christlichen Glauben die Verheißung und Verpflichtung, an Gottes Freiheit zu partizipieren und sich in ihr zu bewähren. Die Ausrichtung der freien Gnade Gottes, mit der nach der 6. Barmer These[45] die christliche Gemeinde als Ganze beauftragt ist, schließt die Entwicklung einer Kultur der Freiheit und des Erbarmens ein, die dem Armen gegenüber weder vom Paternalismus der Objektivierung des Armen noch vom legalistischen Gestus des moralischen Appells bestimmt ist. Vielmehr wird in einer Kultur der Freiheit und des Erbarmens die Erinnerung wachgehalten, dass die ganze Schöpfung und damit das Menschsein in seinen sozialen Differenzierungen der endgültigen Freiheit entgegengeführt werden. So ist der befreite und sich seiner Befreiung erinnernde Mensch exzentrisch, auf Gott und seinen Mitmenschen bezogen. Christliche Freiheit kommt von Gott her und geht auf Gottes Ebenbild, den Mitmenschen in der Ganzheit seiner Personalität, über. In dieser Konsequenz umfasst die christliche Freiheitsbotschaft das Einstehen des Reichen für den Armen und umgekehrt des Armen für den Reichen. Die christliche Freiheit verlangt aber auch nach einer ihr entsprechenden politischen Freiheit, ohne die eine Linderung der Not des Armen auf Dauer undenkbar ist.

Als zweite Orientierung sei die Gabe der Gerechtigkeit genannt. Wie die Freiheit, so ist auch die Gerechtigkeit nach christlich-jüdischem Verständnis zunächst ein Attribut von Gottes Sein und Handeln. In den Psalmen wird diese Gerechtigkeit als universal und ewig gerühmt. In seiner Gerechtigkeit befähigt Gott sein Volk zum Tun des Guten mit der Zielgabe, dass die menschliche Gerechtigkeit, besonders im Zusammenleben mit den Armen und des Erbarmens Würdigen, der göttlichen entspreche. An diese Gerechtigkeit zu erinnern, ist nach der 5. Barmer These[46] der Auftrag der ganzen christlichen Gemeinde. Jesus tritt als armer Mensch in die Menschengeschichte ein, setzt sich als Ausdruck seiner neuen Gerechtigkeit der Armut aus, identifiziert sich mit den Armen, preist sie selig und verheißt ihnen das Reich Gottes. Diese Armen sind freilich nicht nur die Mittellosen, sondern im umfassenden Sinn die Unterdrückten, Elenden und Erniedrigten. In diesen Armen und Elenden begegnet Jesus Christus seiner Gemeinde. Die Armut wird damit geradezu zur materiellen Bestimmung von Gottes Ankunft in der Welt – mit der Konsequenz, dass er sich stellvertretend für uns als Opfer am Kreuz darstellt als der Christus für die Reichen und für die Armen. Die Pointe von Jesu Zuwendung zu den Armen liegt in der paulinischen Paradoxie, dass er als Reicher um seiner Gemeinde willen arm wurde, um diese durch seine Armut reich zu machen. Mit dieser Wendung ist die ganze christliche Gemeinde aus Armen und Reichen auf ihre Bedürftigkeit der Gnade Christi angesprochen. Armut und Reichtum werden in dieser umfassenden Bedeutung zu Kennzeichen der christlichen Gemeinde – ein Sachverhalt, der Konsequenzen für das Kirchenverständnis, aber auch für das Verhältnis von materieller Armut und materiellem Reichtum hat. Damit korrespondiert die Wahrnehmung der Persönlichkeit des Armen und des Reichen statt der Reduktion beider auf ihre materielle Situation. Indem die christliche Gemeinde von der Gerechtigkeit Gottes her lebt und sie zum Kennzeichen ihrer Existenz erhebt, lässt sie sich ansprechen sowohl auf ihre elementare Armut (zu denken ist an ihre Schuld) als auch auf ihren Reichtum (zu denken ist an die ihr zugesagte Vergebung). Gerechtigkeit als Attribut göttlichen Seins und Handelns deckt menschliche Ungerechtigkeit auf und impliziert eine Kultur der menschlichen Wahrhaftigkeit, auch in ökonomischer Hinsicht.

Als dritte Orientierung sei die Gabe der Koinonia genannt. Der christliche Glaube bekennt die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, Menschen in ihren vielfältigen Differenzierungen zur Gemeinde Jesu Christi zu versammeln. Als heiliges Volk, als Volk des Eigentums und als wanderndes Gottesvolk ist die Kirche berufen, als Zeugin der Wirklichkeit Gottes zu existieren. Auf dieser Basis lebt die Kirche in der Differenzierung von Armen und Reichen. Die gemeinsame Bezogenheit auf ihren Herrn und die daraus resultierende Bezogenheit aufeinander gehen den sozialen Differenzierungen sachlich voraus. Insbesondere die reformierte Theologie hat für diese doppelte Bezogenheit den biblischen Begriff des Bundes geprägt, um zur Geltung zu bringen, dass die Gabe der Koinonia nicht nur auf Diakonia, sondern auch auf Konvivenz zielt. Der Arme ist nicht das Objekt der Diakonie des Reichen, sondern sein Partner und Gegenüber. Mit der Gabe der Koinonia und der Existenz als Leib Christi ist Armen wie Reichen ein gegenseitiger Dienst aufgetragen. In Anknüpfung an Calvin ist dieser Dienst zu allererst die im gemeinsamen Hören auf das Evangelium gewonnene Erinnerung an den Gott, der um der Menschen willen arm wurde. Hier stellt sich die Gemeinde, um mit der 3. Barmer These[47] zu reden, als Koinonia dar, in der Jesus Christus gegenwärtig handelt. Die Pointe liegt darin, dass der Arme und der Reiche aufeinander bezogen bleiben. Der Arme wird schon durch seine Existenz zu „deinem Armen“ und leistet dem Reichen den Dienst der Erinnerung an Gottes umfassendes Erbarmen. In dieser geschenkten Koinonia, einer Communio Sanctorum, gilt es, eine Kultur sowohl der gottesdienstlichen Akklamation als auch der gegenseitigen Kommunikation zu entwickeln. Denn die liturgische, kommunikative und soziale Gestalt der Kirche ist Teil ihres Zeugnisses, mit dem sie den Zusammenhang von verkündigter Wahrheit und gelebter Existenzform öffentlich darstellt.

Im Widerspruch gegen Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Beziehungslosigkeit liefert die Erinnerung an die Freiheit, Gerechtigkeit und Koinonia als Gaben des dreieinigen Gottes einen entscheidenden Impuls. Dieser liegt in einer konsequenten Selbstbestimmung der Kirchen als Gemeinschaft der Bedürftigen und auf Erbarmen Wartenden. Es war Dietrich Bonhoeffer, der die Ortlosigkeit der Kirche, überall sein zu wollen und darum nirgends zu sein, beklagt hat.[48] Um ihre Ortlosigkeit, deren Exponent auch der kirchliche und ökumenische Verlautbarungsaktionismus ist, zu überwinden, bedarf es der konkreten Ortsbestimmung für die Kirchen. Diese dürfte darin bestehen, sich ihrer eigenen Bedürftigkeit zu erinnern und darin dem Evangelium an Arme und Reiche Raum zu lassen. Es geht letztlich um die Frage, wofür Kirche und Theologie einstehen. Die vorgelegten Anregungen verstehen sich als Plädoyer für eine Theologia bzw. Ecclesia Viatorum, die sich ihres Ortes bewusst wird und dies in ökumenischer Zeitgenossenschaft zur Geltung bringt.

11. Geld und gute Worte

Die Reformierten widmen dem konkreten Leben der Menschen ein besonderes Augenmerk. Die Fragen nach dem Menschen und seinem Leben, nach der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, nach Geld und den wirtschaftlich-sozialen Lebensumständen sind von Anfang an Fragen, die das Gottesverhältnis und damit das Bekenntnis zu Gott berühren. Vom Bekenntnis zum dreieinigen Gott und im Gespräch mit der Bibel haben die reformierten Reformatoren das Thema des Wirtschaftens und der sozialen Verhältnisse aufgenommen. Sie begannen in ihrem Nachdenken beim guten Wort – beim Evangelium und beim Gebot Gottes –, um nun ihrerseits gute Worte zu reden. Wer darum weiß, dass er sein Leben und auch seine Güter Gott verdankt, wird frei vom Zwang, nur auf sich selbst und den eigenen Besitz bezogen zu sein. Der andere Mensch kommt als Mensch Gottes in den Blick. Gemeinsam stehen Menschen als Bedürftige vor dem ewigreichen Gott, der sich ihnen schenkt.

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Ausgewählte Literatur

Bedford-Strohm, Heinrich: Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993.

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[28] Inst. III,7,1.

[29] Inst. III,7,5.

[30] Genfer Kirchenordnung von 1561, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2, a.a.O., 239 (Zitat) und 256-259.

[31] Johannes a Lasco: Forma ac ratio tota ecclesiastici Ministerii, in peregrinorum, potissimum vero Germanorum Ecclesia instituta (1555), in der verkürzten dt. Fassung (Microns Ordinancien) in: E. Sehling (Hg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 7, II.1, Tübingen 1963, 579-667.

[32] Ebd., 597.

[33] Art. 45, in: Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in dt. Übers., hg. v. Paul Jacobs, Neukirchen 1949, 258.

[34] Art. 8, in: K. Rahner/H. Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium, Freiburg 21967, 398f.

[35] Art. 1.63.69, in: K. Rahner/H. Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium, a.a.O., 449.517f.524-526.

[36] G. Gutiérrez: Theologie der Befreiung, München/Mainz 1973, 285.

[37] DH 4480-4496, hier bes. DH 4493-4496 zur „Armut in der Kirche“.

[38] DH 4610-4635, hier bes. DH 4632-4634 zur „Option für die Armen“.

[39] Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hg. v. Kirchenamt der EKD, Hannover 1997, 44f.

[40] Die Erklärung von Debrecen, in: Update 7 (1997).

[41] Ebd.

[42] In: die-reformierten.upd@te 5 (2004), Nr. 3, 22-27.

[43] A. Rich: Wirtschaftsethik, Bd. 1: Grundlagen in theologischer Perspektive. Bd. 2: Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft in sozialethischer Sicht, Gütersloh 41991/21992.

[44] Vgl. A. Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 1999.

[45] In: Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. G. Plasger/M. Freudenberg, Göttingen 2005, 244.

[46] Ebd.

[47] In: Reformierte Bekenntnisschriften, a.a.O., 243.

[48] D. Bonhoeffer: Vorlesung „Das Wesen der Kirche“ (Mitschrift), in: Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 11, hg. v. E. Amelung/Ch. Strohm, Gütersloh 1994, 239-303.

 


©Prof. Dr. Matthias Freudenberg, Wuppertal
 

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