I.
Das Profil des Genfer Reformators Calvin ist unlöslich verbunden mit dem Schicksal des spanischen Arztes und Religionsphilosophen Michael Servet (1509/11-1553). Kaum eine Veröffentlichung, in der Calvin nicht mit dem Zusatz bedacht wäre: "der 1553 in Genf bekanntlich den Antitrinitarier Servet hinrichten ließ". Stefan Zweig hat mit seinem Buch über Castellio das Bild von dem Genfer Diktator und Tyrannen maßgeblich in das historische Gedächtnis der Nachwelt eingeschrieben. Selbst renommierte Historiker lassen sich in ihrem Urteil immer wieder von diesem polemischen Zerrbild Calvins leiten.
Der jüdische Historiker Solo W.Baron z.B. glaubt in einer Tagebuchnotiz des Juden Josel von Rosheim den Hinweis auf eine Begegnung mit Calvin gefunden zu haben. Josel von Rosheim berichtet dort von der Frankfurter Fürstenversammlung von 1539 und erwähnt einen heftigen Disput mit einem übermäßig streitsüchtigen Christen. Für Baron steht fest, dass es sich bei diesem Hitzkopf um den späteren Genfer Despoten Calvin gehandelt haben muss. In welcher Sprache sich der Jude aus Mittelbergheim und der Franzose Calvin gestritten haben sollen, ist dabei für Baron nicht weiter von Belang. Zusammen mit dem 'Fall Servet' wird für ihn diese vermeintliche Begegnung zu einem Indiz, dass Calvin es auch den Juden gegenüber an Toleranz habe fehlen lassen.
Die amerikanischen Historiker Louis Israel Newman und Jerome Friedman gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie behaupten, Servet sei in Genf wegen seiner judaisierenden Ansichten hingerichtet worden. Oder um es etwas drastischer zu formulieren: Der Philosemit Servet wird in Genf von dem potentiellen Antisemiten Calvin hingerichtet. Was ist an diesem Vorwurf dran? Ist es ein erneuter Versuch, Calvin mit unlauteren Mitteln zu diskreditieren? Oder ist es nur ein Hinweis darauf, dass der Genfer Reformator nun einmal ein Kind seiner Zeit war?
Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich die Israel-Lehre Servets vor Augen zu führen, vor allem sein Verhältnis zum Judentum. Einen ersten Hinweis finden wir in der Institutio Calvins. Calvin wirft Servet dort vor, er denke über das Volk Israel "nicht anders als über eine Herde Schweine, die von dem Herrn (...) ohne alle Hoffnung auf das ewige Leben gemästet worden sei" (Inst. II,10,1). Eine Behauptung, die, wenn sie stimmt, ganz und gar nicht zu dem Bild des judaisierenden Servet passen würde. Und in der Tat. Servet betont in seinen Werken durchweg die substantielle Minderwertigkeit des atl. Gottesglaubens.
"Niemals war einer der Juden [d.h. Israeliten] erwählt oder in der Weise durch die Erwählung vorherbestimmt, wie Gott uns vorherbestimmt hat (...). Gott ist nun offenbar, einst war er es nicht."
Der Sündenfall durch Adam ist für Servet so gravierend, dass der Mensch erst wieder im Neuen Bund durch Wasser und Geist wiedergeboren werden könne. Die Erlösung im Alten Bund dagegen hält er für durch und durch defizitär:
"Im Zeitalter der Juden gab es kein Bad der Wiedergeburt, weil Christus damals noch nicht wiedererweckt war. Jene konnten weder im Leben noch nach dem Tod ins Paradies aufgenommen werden; wir dagegen können es. Niemals war irgendeiner der Juden im Reich der Himmel, weil das Reich Gottes noch nicht gekommen war. Niemals war jener wiedergebärende Geist der hyiothesia in ihnen, sondern sie waren mit der fleischlichen Kindschaft behaftet."
Für Servet bleiben im gesamten Alten Bund die Gottesverehrung und die Verheißungen dem Fleischlichen verhaftet. Das Gesetz erlaube den Männern Vielweiberei und Scheidung, es kenne keine Feindesliebe, und die Sündenvergebung sei profan und wirkungslos gewesen. Das Sinai-Gesetz wird für Servet sogar zu einer Art 'zweitem Sündenfall', weil es wegen der nun möglichen Erkenntnis der Sünde nicht nur den leiblichen Tod, sondern auch den geistlichen Tod herbeiführe.
Es gibt fast nur einen einzigen Punkt, an dem Servet positiv an das Alte Testament anknüpfen kann, nämlich die alttestamentliche Einheit Gottes. Weil die apostolische Verkündigung einem jüdischen Kontext entstamme, sei auch die neutestamentliche Gottesvorstellung auf dieser Basis zu interpretieren. Doch dieser Ansatz dient ihm keineswegs dazu, eine jüdische Gottesvorstellung einzufordern. Es geht ihm lediglich darum, seine modalistische Trinitätslehre unter Beweis zu stellen.
Dieser Zusammenhang ist allerdings der einzige, in dem Servet so etwas wie eine Einheit der beiden Testamente voraussetzt – und dies auch nur in seiner Erstlingsschrift De Trinitatis erroribus von 1531. In den drei Schriften des Folgejahres tritt dieser Aspekt bereits zurück. Servet ist nun bemüht, die fundamentale Differenz zwischen Altem und Neuem Bund herauszustellen. Er wendet sich damit gegen Bucers These von der Einheit des Bundes, mit der der Straßburger Theologe die Kindertaufe zu rechtfertigen suchte. Servet hält dem entgegen:
"Diejenigen, die durch derartige Gleichmacherei die Testamente durcheinanderbringen, irren somit nicht unerheblich; sie schmälern die Gnade der Ankunft Christi, indem sie die Juden uns gleich machen."
Servet geht es darum, im Kontrast zur altestamentlichen Erlösung das Besondere der christlichen Rechtfertigung herauszustellen. Seine spiritualistisch-präsentische Eschatologie, vor allem die Wiedergeburt und Vergöttlichung des Menschen im Geist, soll dadurch gegen Angriffe abgesichert werden. Versuche, einen eschatologischen Vorbehalt geltend zu machen, kann Servet nur als einen Rückfall in die unerlöste Zeit des Judentums, dem Reich der Hölle ("regnum inferorum"), disqualifizieren.
II.
Aufgrund des bisher Gesagten wäre es verwunderlich, wenn Servet dem Judentum gegenüber eine positive Haltung einnehmen würde. Dennoch aber wird von den meisten Forschern genau diese These vertreten. Im einzelnen werden folgende Argumente aufgeführt: Servet sei von seinen Gegnern als Judaisierer bezeichnet worden und vermutlich converso-jüdischer Abstammung gewesen (a). Außerdem habe er sich intensiv mit jüdischen Quellen vertraut gemacht und deren Argumente zur Bekämpfung der Trinitätslehre herangezogen (b). Schließlich habe er das Verständnis des Neuen Testaments auf die alttestamentlich-hebräische Wurzel zurückgeführt und das Alte Testament nicht christustypologisch interpretiert, sondern konsequent den historischen Kontext berücksichtigt (c). Diese Argumente gilt es nun zu prüfen.
a. Zur converso-jüdischen Abstammung Servets ist zu sagen, dass es weder der bisherigen Forschung noch der seit 1532 mit Servet befassten spanischen Inquisition gelungen ist, eine Converso-Abstammung Servets nachzuweisen. Diese Vorhaltung beruht vielmehr allein auf der Tatsache, dass in den Werken Servets Argumente der jüdischen Apologetik Berücksichtigung finden. Servet selbst aber gibt in Genf zu Protokoll, dass seine Vorfahren einem altehrwürdigen christlichen Geschlecht entstammten.
b. Wenngleich also eine converso-jüdische Abstammung Servets bezweifelt werden muss, so wird doch mit Sicherheit davon auszugehen sein, dass Servet nicht unbeeinflußt geblieben ist von den polemisch-apologetischen Argumenten, die die spanische Diskussion um die Converso-Juden mit sich gebracht hat. Er selber beruft sich denn auch auf konvertierte Juden wie etwa "Petrus Alphonsus, Paulus Burgensis, et plerique alii ex Judaeis ad Christum conversi".
Von einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den jüdischen Argumenten kann bei Servet allerdings nicht die Rede sein; soweit diese Argumente überhaupt Berücksichtigung finden, bedient sich Servet ihrer vorwiegend, um eigene Anschauungen zu untermauern: Von den zwölf Stellen, an denen er 1531/32 auf jüdische Aussagen verweist, beziehen sich sechs auf relativ nebensächliche exegetische Fragen. An einer Stelle beklagt er die dilettantischen Versuche, David Kimchi zu widerlegen, und eine weitere Stelle befasst sich kritisch mit dem Versuch des Maimonides, das Problem der alttestamentlichen Anthropologismen herunterzuspielen.
An den übrigen Stellen nennt Servet zwar durchaus zustimmend die jüdischen Argumente gegen die Trinitätslehre und die christologische Deutung der Psalmen, aber die Argumente sind nur sehr flüchtig wiedergegeben und dienen keineswegs dazu, die Trinitätslehre oder die christologische Deutung generell in Frage zu stellen. Im Gegenteil, ihm geht es vornehmlich darum, Fehlentwicklungen in der christlichen Dogmatik aufzuzeigen, um durch eine Rückkehr zu den apostolischen Anfängen die Juden um so besser für den christlichen Glauben gewinnen zu können:
"Die Hebräer werden durch so viele Autoritäten gestützt, dass sie sich zu Recht wundern über die so große, mit dem Neuen Testament eingeführte Zerteilung der Götter; und sie halten unser Testament für ketzerisch, wenn sie sehen, wie sehr wir von ihrem Gott abweichen. Wenn wir uns auf eine Disputation einlassen müssen, ist es darum nötig, dem apostolischen Vorbild zu folgen, nämlich, dass wir ihnen vor Augen führen, dass dieser Jesus der Christus ist und der Sohn Gottes".
1553 vermehrt Servet seine Zitate aus der jüdischen Literatur um etwa 25 Belege. Die meisten stammen aus den Bereichen Schöpfung, Engellehre und Anthropologie und dienen vor allem dazu, Servets neuplatonische Ideenlehre zu veranschaulichen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt bei den jüdischen Aussagen von der Präexistenz der Weisheit und des Messias; hier geht es Servet besonders darum, mit Hilfe der Präexistenz des Logos seine Anschauung von Christus als dem Urgrund aller Dinge und allen Seins unter Beweis zu stellen.
D.h. also: Weder 1531/32 noch 1553 kann bei Servet von einem "extraordinary interest in Judaica" (J.Friedman 1978) die Rede sein. Denn Servet bedient sich nur sehr sporadisch jüdischer Argumente und dies vor allem in einem spezifisch apologetischen Zusammenhang, der den jüdischen Texten fremd ist. Dadurch geraten diese Texte entgegen ihrer Intention zu einer Rechtfertigung von Servets Logos-Christologie und seiner modalistischen Trinitätslehre.
Außerdem nennt er die Rabbiner in einem Atemzug mit den Sophisten, polemisiert gegen die Kabbala und scheint davon auszugehen, dass sich im Talmud Lästerungen gegen den christlichen Glauben befinden.
c. Während also die Verwendung jüdischer Quellen keineswegs schon auf eine projüdische Haltung Servets rückschließen lässt, so zeigt er doch in seiner historisch-philologischen Arbeit eine gewisse Offenheit für die jüdischen Anfragen an den spezifisch christlichen Umgang mit dem Alten Testament. Besonders in seinem Vorwort zur Pagninus-Bibel (1542) unterstreicht Servet die Bedeutung des historischen Kontextes für das Verständnis der alttestamentlichen Verheißungen. Servet ist zwar zurückhaltend gegenüber jeder vorschnellen christologischen Vereinnahmung des Alten Testamentes, aber er behält die typologische Interpretation des Alten Testamentes durchaus bei und betont lediglich, dass nur ein tatsächliches Ereignis der Geschichte die ausreichende Basis für eine typologische Interpretation abgeben könne. Ihm geht es vor allem darum, mit Hilfe historisch-philologischer Arbeit zu einer Auslegung zu kommen, die sich den Juden gegenüber verantworten lässt, ohne dabei allerdings sein spezifisch christliches Anliegen zu verleugnen:
"Den Juden geben wir den sensus literalis zu, dennoch erinnern wir daran, dass ein Geheimnis vom künftigen Messias darunter verborgen liegt (...). Nach diesem Grundsatz müssen wir wie Christus gegen die Juden disputieren, damit sie das darin verborgen liegende Geheimnis der Zusammenhänge erkennen."
Die Diskussion der anfangs genannten Argumente hat gezeigt, dass von einer projüdischen Einstellung Servets nur insofern die Rede sein kann, als er begründete jüdische Anfragen an eine christologische oder trinitarische Vereinnahmung des Alten Testamentes in gewissem Rahmen gelten lässt. Insgesamt aber bestätigt sich der Eindruck, dass die theologische Abwertung des alttestamentlichen Gottesglaubens eine abwertende Einschätzung des zeitgenössischen Judentums mit sich bringt. Denn von Anfang an steht für Servet außer Frage, dass extra Christum keine wahre Gotteserkenntnis möglich ist. Die Juden verweigerten die Gotteserkenntnis in Christus und erweisen sich für Servet als verblendet, verworfen und in ihrem fleischlichen Dasein verhaftet.
Auch der Tempel und die jüdische Synagoge gelten ihm als durch Christus verworfen, und über Jerusalem laste der Fluch Gottes. Und als besonders schwere Versündigung gilt ihm, wenn jemand nach erfolgter Taufe zum Judentum oder Heidentum zurückkehrt. Offensichtlich haben hier negative Erfahrungen mit spanischen Conversos Servets Verhältnis zum Judentum nachhaltig geprägt.
III.
Abschließend soll nun die Frage geklärt werden, wie es zu dem Judaismus-Vorwurf gegen Servet gekommen ist und welche Rolle dieser Vorwurf im Genfer Prozeß 1553 gespielt hat:
Beim Judaismus-Vorwurf ist für das 16. Jahrhundert zu bedenken, dass er inhaltlich nur wenig Aussagekraft besitzt, da er relativ willkürlich dazu benutzt werden konnte, gegnerische Auffassungen als einen Rückfall ins Judentum zu disqualifizieren. Erstmalig wird der Judaismus-Vorwurf gegen Servet 1530/31 von Oekolampad in väterlich ermahnender Weise geäußert; offenbar hat der Basler Reformator sich durch Servets Rückgriff auf jüdische Kritik an der christlichen Trinitätslehre dazu veranlasst gesehen.
Dieser Vorwurf mag im Blick auf die Erstlingsschrift Servets noch eine gewisse Berechtigung haben, aber schon für das Folgewerk gilt, dass Servet sich zunehmend vom jüdischen Glauben distanziert und nun selbst dazu übergeht, anderen diesen Vorwurf zu machen, so dass der Vorwurf Servet nur noch bedingt trifft. Im Genfer Prozess gegen Servet spielt der unmittelbare Vorwurf des Judaisierens interessanterweise kaum eine Rolle. Sehr viel umstrittener dagegen ist die bleibende Bedeutung des Alten Testamentes für den christlichen Glauben. Und hier ist es vor allem Servet selbst, der Calvin schon vorab in seinen Briefen und sodann im Prozessverlauf des Judaisierens bezichtigt:
"Hör' endlich auf, Calvin, uns zu plagen mit jenem Gesetz und so gewaltsam auf dessen Einhaltung zu drängen, auch wenn du mit den Juden erzwingen musst, dass Gott, der sich im Gesetz fortwährend der Juden erbarmt hat, sich deiner erbarme."
Calvin weist diesen Vorwurf entschieden zurück und versucht die Ansichten Servets zur Minderwertigkeit des alttestamentlichen Gottesglaubens zu widerlegen:
"Du wirfst mir vor, dass ich in fleischlicher und in jüdischer Weise über das leibliche Geschlecht Abrahams urteile. (...) Aber Paulus erörtert im 9. und 11. Kapitel an die Römer den Gnadenbund, indem er versichert, dass jener Bund in dem tatsächlichen und natürlichen Geschlecht Abrahams verbleibt. Ich bin allerdings nicht so stumpfsinnig, dass ich jeden, der dem Fleische nach von Abraham abstammt, zu den Söhnen Abrahams rechnen wollte. Es waltet nämlich die freie Erwählung Gottes, die die rechtmäßigen von den unrechtmäßigen Söhnen unterscheidet, d.h. die geistlichen von den fleischlichen. (...) Es ist nämlich offensichtlich, dass Gott sie deshalb erwählt hat, damit jener Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat, dennoch wirksam bleibt. Dies beides trifft also zu: Dass nicht alle, die ihre leibliche Abstammung von Abraham herleiten, auch Söhne Abrahams sind, und dass dennoch nicht vergeblich dem Geschlecht Abrahams gesagt ist: 'Ich werde euer Gott sein', und dass auch die Gnade des Bundes, mit dem Gott den Israeliten seine Treue versichert hat, nicht hinfällig ist."
Auch hier geht es Calvin keineswegs darum, eine allzu moderne (oder gar jüdische) Bibelexegese zurückzuweisen. Vielmehr kritisiert er, dass Servet zwar vorgibt, das christliche Anliegen gegenüber den Juden verteidigen zu wollen; tatsächlich aber stelle er die Kontinuität der Sündenvergebung im Alten Testament in Frage und somit die Grundlegung des christlichen Heils überhaupt. Außerdem missbilligt Calvin Servets Auffassung, dass die Israeliten aufgrund mangelnder Gotteserkenntnis Engel angebetet hätten; und er bemängelt den willkürlichen Umgang Servets mit hebräischen Begriffen und jüdischen Lehrmeinungen, um damit seine eigenen Anschauungen zu belegen. Calvin kann ihn deshalb auch einen "bonus Rabbinus" nennen.
Das bedeutet also: Einer der wesentlichen Differenzpunkte zwischen Calvin und Servet liegt in den Voraussetzungen ihrer Israel-Lehren begründet. Während Calvin sich israeltheologisch als 'Einheitstheologe' erweist, ist für Servet die 'Trennungstheologie' kennzeichnend. Von diesem Umstand her ist es zu erklären, dass der Vorwurf des 'Judaisierens' von Servet selbst gegen Calvin erhoben wird, im Genfer Prozess gegen Servet aber kaum eine Rolle spielt. Lediglich zu Beginn des Prozesses wird Servet vom procureur général, Claude Rigot, darüber befragt, ob seine Vorfahren einer jüdischen oder anderen Religion angehört hätten, ob er jemals mit Juden über religiöse Fragen diskutiert habe und ob er mit seiner Rechtfertigung jüdischer und islamischer Kritik deren Anschauungen verteidigen wolle.
Alle diese Fragen beantwortet Servet mit Nein, und sie spielen dann im weiteren Verlauf des Prozesses keine Rolle mehr. Aufgrund dieses Befundes muss also die Behauptung zurückgewiesen werden, wonach Servet in Genf wegen seiner judaisierenden Ansichten hingerichtet worden sei. Die Quellen belegen diese These nicht. Wie auch die Anklageschrift und die Urteilsbegründung zeigen, wird Servet in Genf nicht wegen Judaisierens hingerichtet, sondern weil seine Ausfälle gegen die Trinitätslehre und die Kindertaufe als eine Gefährdung für den Bestand der christlichen Gesellschaft eingeschätzt wurden.
Nichtsdestotrotz vermögen natürlich auch diese Gründe das Genfer Todesurteil nicht zu rechtfertigen.
(ausführlicher dargestellt und mit Nachweisen der Belegstellen in: A. Detmers, Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin, Judentum und Christentum 7, Stuttgart u.a. 2001, 216-235)
Literatur:
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