Aufbau, Entstehung und Theologie des Psalters

Ein Forschungseinblick

Walter Habdank: König David © F.Habdank

Forschungen heute beschäftigen sich unter anderem mit der jüdischen und christlichen Auslegungsgeschichte der 150 biblischen Psalmen.

Der Psalter umfasst 150 Psalmen und bildet den Kern des dritten Teils des Kanons („Schriften“) der hebräischen Bibel ( Lk 24,44).

1. Namen des Buches

In der Hebräischen Bibel wird das Buch təhillîm „Lobpreisungen“ genannt. Damit wird sowohl die Gattung der Loblieder gegenüber der häufigeren Gattung der Bitt- und Klagelieder hervorgehoben als auch die Bewegung von der Klage zum Lob, die den Aufbau des Psalters prägt. Im Licht des Buchtitels zielen auch die Klagelieder auf den Lobpreis Gottes.

Die Septuaginta gibt dem Buch den Titel psalmoí „Harfenlieder“. Das entspricht der Tendenz, immer mehr Lieder David zuzuschreiben, der als Harfenspieler galt (1Sam 16). Im Deutschen wird der Begriff in den Bezeichnungen „Buch der Psalmen“ und „Psalter“ übernommen, aber in einem weiteren Sinne als „geistliches Lied bzw. Liedgut“ verstanden.

2. Der Psalter als planvolle Buchkomposition

2.1. Hinweise im Psalter

Die Psalmen des Psalters werden sehr oft nur als Einzeltexte betrachtet. Erst seit Ende der 1980er Jahre wird der Psalter zunehmend auch als Buch wahrgenommen, das einen durchlaufenden Lesezusammenhang bietet.

2.1.1. Die Einteilung in fünf Bücher

Der Psalter ist in fünf Teilbüchern überliefert, die mit Segensformeln voneinander abgetrennt sind:

Mit dem Beginn eines neuen Psalmenbuchs wechseln die Angaben der Psalmenüberschriften, die aufeinander folgende Psalmen ansonsten oft miteinander verbinden. In den hebräischen Handschriften wird die Büchereinteilung durch Leerzeilen hervorgehoben. Die Fünfteilung nimmt die Einteilung der Tora in fünf Bücher auf und entspricht damit der Einleitung des Psalters als Meditation der Tora ( Ps 1,2): Der Psalter ist Tora („Weisung“) und weisheitliche Belehrung über das, was Gott will und was Erfolg verspricht.

2.1.2. Die Einteilung nach Überschriften

Durch die Überschriften der einzelnen Psalmen wird der Psalter detaillierter gegliedert. Dabei kommt den Personenangaben der Überschriften – „von David“ etc. – eine besondere Bedeutung zu.

2.1.3. Der Aufbau nach Klageliedern und Lobliedern

Bei den meisten Psalmen des Psalters handelt es sich formgeschichtlich um Bitt- und Klagelieder des Einzelnen (z.B. Ps 22; Ps 130). In ihnen findet sich vielfach ein Übergang von der Klage zu Lob und Dank. Eine zweite Gruppe bilden die Lobpsalmen, die sog. Hymnen, die bis auf wenige Ausnahmen (Ps 8) Gemeinschaftspsalmen sind (Ps 134). Im Aufbau des Psalters finden sich die Klagelieder vorwiegend in der ersten Hälfte, Lobpsalmen in der zweiten Hälfte. Der Psalter repräsentiert damit insgesamt eine Bewegung von der Klage zum Lob.

2.1.4. Die Positionierung weiterer Psalmengattungen

Torapsalmen ( Ps 1; Ps 19) und Königspsalmen ( Ps 2; Ps 72; Ps 89) kommen typischerweise an Randstellen des Psalters und von Psalmengruppen vor. Gerald H. Wilson (1986) hat für die Position von Königspsalmen den Begriff der Nahtstellen („seams“) eingeführt. Zu den besonders einleuchtenden Beispielen für diese These gehören Ps 2, der sowohl den gesamten Psalter wie die folgende Gruppe von Davidpsalmen im ersten Psalmbuch (Ps 3-41) einleitet, und Ps 72 sowie Ps 89, die jeweils sowohl Psalmengruppen als auch Psalmbücher abschließen.

2.1.5. Der literarische Zusammenhang benachbarter Psalmen

Die einzelnen Psalmen bilden mit benachbarten Psalmen einen literarischen Zusammenhang und damit ein Sinngefüge, in dem sie sich gegenseitig zusätzliche und tiefere Bedeutung geben. Dies sei an Ps 23 veranschaulicht:

Ps 23 führt den Beter nach einleitenden Vertrauensäußerungen ( Ps 23,1-3) an den dunklen Punkt zurück, der den Hintergrund seines Vertrauens bildet ( Ps 23,4). Der Psalm endet mit der Perspektive, künftig im Heiligtum Gottes zu verbleiben ( Ps 23,6). Genau diese Bewegung findet sich nun auch in dem Zusammenhang wieder, in dem der Psalm seinen literarischen Ort im Psalter hat: Vor ihm steht das Klagelied Ps 22, das in seinem Schlussteil mit der Gewissheit der Rettung wie eine Vorbereitung auf Ps 23 wirkt. Ps 23 folgt Ps 24 mit seinem hymnischen Anfang ( Ps 24,1-2), der dann die Bedingungen ( Ps 24,3-6) schildert, unter denen der Beter der Einzugsprozession ( Ps 24,7-10) folgen darf. Im Ergebnis erweisen sich damit auch drei als Einzelpsalmen wohlbekannte Texte als literarisch sinnvoll verknüpft.

2.2. Ansätze der Forschung

Dass es auch im Buch der Psalmen kontextuelle Bezüge gibt, muss mittlerweile als Forschungskonsens gelten. Strittig ist aber, wie diese Zusammenhänge zu beschreiben sind. Zur Diskussion stehen drei Ansätze:

  • der Versuch, verbindende Einzelworte und Motive im Nahbereich eines Psalms zu finden (die Verkettung – concatenatio – von Psalmen),
  • der Versuch, mit Hilfe von Literarkritik und Redaktionsgeschichte die Entstehung des Psalters zu erhellen und
  • der Versuch, die Formgeschichte als Schlüsselmethode der Einzelpsalmenexegese auf die größeren Einheiten von Psalmengruppen zu übertragen.

Alle drei Methoden sind durchaus miteinander kombinierbar, werden aber in der Forschung mit unterschiedlicher Betonung vorgetragen.

2.2.1. Verkettungen von Psalmen

Die Suche nach Verkettungen innerhalb der Psalmen stellt den ältesten und etabliertesten Ansatz dar. Sie führt jedoch kaum zu übergreifenden Ergebnissen, beispielsweise zu einer Theologie des Psalters. Der Ansatz wird problematisch, wo die Begriffe, die Verkettungen aufweisen sollen, zu allgemein sind.

2.2.2. Redaktionsschichten im Psalter

Beobachtungen zur Literarkritik einzelner Psalmen sind seit längerem in der exegetischen Literatur etabliert. Die literarkritische Abtrennung der Psalmüberschriften ist dabei so populär geworden, dass sie sogar in einige Übersetzungen der Psalmen Eingang gefunden hat.

In der Einheitsübersetzung der deutschsprachigen römisch-katholischen Bistümer von 1981 werden die Überschriften nur in Klammern wiedergegeben und damit Texten gleichgestellt, die in den ältesten Textzeugen fehlen und deshalb als sekundär gelten, beispielsweise dem sog. unechten Markusschluss Mk 16,9-20 oder der Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin in Joh 8,1-11.

Es waren Erich Zenger und Frank-Lothar Hossfeld, die zunächst in einer Anzahl von Aufsätzen zu vielen einzelnen Psalmen literarkritische und redaktionsgeschichtliche Beiträge sehr unterschiedlicher Art vorgelegt haben. Im Rahmen ihrer Kommentierung des Psalters (Neuen Echter Bibel, 1993ff; Herders Theologischer Kommentar, 2000ff) vertreten sie die These, dass den Psalter zwei Redaktionsschichten durchziehen: Eine formative, exilische Redaktionsschicht, die dem Psalter im Wesentlichen seine vorliegende Gestalt verleiht, und eine nachexilische Armenredaktion, die die Armentheologie in den Psalter einträgt und in hellenistischer Zeit weitergeführt wird.

Angesichts der Vielzahl der auch von Hossfeld und Zenger herausgearbeiteten Bezüge zwischen benachbarten Psalmen, der Fülle der in der Komposition verarbeiteten Motive und der Vielzahl von Psalmengruppen, die in Überschriften gleiche Angaben enthalten, erscheint die Reduktion auf zwei Redaktionsschichten sehr fraglich. Zweifelhaft ist insbesondere, ob Hossfeld und Zenger ihr Konzept im Bereich des letzten Drittels des Psalters durchhalten werden, in dem auch die Textüberlieferung ein sehr viel späteres Textwachstum nahelegt, als es diese beiden Redaktionsschichten beschreiben können.

2.2.3. Die Form von Psalmengruppen

a) Zusammenstellungen ähnlicher Psalmen (Kluster)

Im Psalter stehen ähnliche Psalmen oft zusammen. Für eine Zweiergruppe ähnlicher Psalmen hat Walter Zimmerli die inzwischen etablierte Bezeichnung „Zwillingspsalmen“ geprägt. Bis auf Ps 78 sind alle Geschichtspsalmen Zwillingspsalmen (Ps 105 / Ps 106; Ps 135 / Ps 136).

Es finden sich aber auch größere Gruppen ähnlicher Psalmen, Gruppen von Klagepsalmen insbesondere in der ersten Hälfte des Psalters, alle Gruppen von Hymnen dagegen in der zweiten. Der Verfasser dieses Artikels hat für solche Gruppen den Begriff des Klusters eingeführt, da weitergehende Analysen der Psalmen in diesen Gruppen etwas als Doppelzwillinge (aba’b’) oder Ringkompositionen (abcb’a’) nicht zu zwingenden Ergebnissen führen. Beispielsweise gibt es am Ende der Hymnenkluster Anzeichen von Doppelzwillingsstrukturen (Ps 96-99; Ps 115-118; Ps 147-150), was aber jeweils den Anfang dieser Gruppen unerklärt lässt. Der Begriff des Klusters lässt demgegenüber eine Ungenauigkeit, die die Psalmenexegese auch für den Situationsbezug der Klagelieder des Einzelnen hat lernen müssen, da auch Einzelpsalmen in der Regel auf eine breitere Anwendung hin angelegt sind.

b) Gruppen mit Lob- oder Dankschluss

Die Bewegung, mit der das Klagelied des Einzelnen in der Mikrostruktur und der Psalter als Ganzer in der Makrostruktur den Betenden von der Klage zu Lob bzw. Dank führt, ist auch für etliche Gruppen von Psalmen typisch.

Beispielhaft zeigt dies die Psalmengruppe Ps 120-134: Durch die Überschrift ist die Wallfahrtspsalmengruppe Ps 120-134 klar abgrenzbar. Am Anfang befindet sich der Beter in der Fremde, am Ende im Tempel in Jerusalem. Parallel zum Ortswechsel vollzieht die Psalmengruppe eine zweite Bewegung: Die Stimmung wechselt von der Grundstimmung der Klage zum Lob. Zum dritten wird aus dem Ich ein Kollektiv.

Diese typische dreifache Bewegung in Psalmengruppen findet sich auch in den beiden Gruppen von Korachpsalmen Ps 42-49 und Ps 84-88, nur dass hier –wohl aus Gründen des Anschlusses dieser Psalmengruppe an die folgenden Psalmen – diese Bewegung wieder in eine weisheitliche Klage zurückgeführt wird.

Auch in anderen Psalmengruppen sind Klage- und Lobkluster so angeordnet, dass der Beter von der Klage zum Lob geführt wird: Beispielsweise ist die Gruppe von überwiegend klagenden Davidpsalmen Ps 138-145 vor die Gruppe von lobenden Psalmen, das kleine Hallel Ps 146-150, gestellt, wobei Ps 145, ein lobender Davidpsalm und zugleich ein Akrostichon (Akrostichie), als Scharnier wirkt.

Von der Formgeschichte des Einzelpsalms wäre eigentlich zu erwarten, dass innerhalb der Abfolge von der Klage zum Lob sich der Dank ganz am Ende befindet. So ist dies auch in der älteren, der ersten Hälfte des Psalters. In der zweiten Hälfte des Psalters finden wir jedoch eindeutige Beispiele, in denen ein Danklied der Abfolge von Klage- und Lobpsalmen vorangestellt ist, beispielsweise Ps 107 und Ps 138 vor den folgenden Klagepsalmen Ps 108-109 bzw. Ps 139-143 und dem nachfolgenden ägyptischen bzw. kleinen Hallel. Der künftige Dank und damit die Situation der Errettung ist damit als Perspektive vorweggenommen, auf die hin Klagen und Loben erfolgen.

c) Gruppen mit Klageschluss

Einen Sonderfall innerhalb der Psalmengruppen bilden die Asafpsalmen (Ps 73-83), die durch Ps 78 in zwei Teilgruppen untergliedert sind. Beide Teilgruppen lassen keinen Lobschluss erkennen. Dem entspricht, dass in beiden Teilgruppen durch Ps 74 und Ps 79 die Zerstörung von einem bzw. mehreren Heiligtümern beklagt wird: Das Verharren in der Klage ist die situationsbedingte Ausnahme, in der die Betenden nicht von der Klage zum Lob geführt werden.

d) Kritik

Gegen die Beschreibung der Komposition des Psalters mit den Methoden der Formgeschichte wird eingewendet, dass die verwendeten Begriffe teilweise zu allgemein sind und so das Besondere der einzelnen Psalmen nivelliert wird. Jeder der hier beschriebenen Ansätze stellt jedoch nur einen Ansatz dar, der durch andere ergänzt werden muss.

3. Textüberlieferung

Der Text des Psalters ist in mehreren Varianten überliefert, die drei Hauptgruppen zuzurechnen sind, der Qumranüberlieferung, der masoretischen Texttradition und der Tradition der Septuaginta.

a) Auf der masoretischen Überlieferung, die 150 Psalmen kennt, basiert die jüdische und die evangelische Tradition. Die katholische Tradition beschränkt sich auch auf die 150 Psalmen der masoretischen Überlieferung, folgt aber der Zählung der Septuaginta.

b) Die ältesten hebräischen Textzeugen der Psalmen stammen aus den Höhlen von Qumran. Im Bereich etwa von Ps 12-92 stimmen sie mit dem masoretischen Text weitgehend überein. In dem kleinen Bereich am Anfang des Psalters sowie im gesamten letzten Drittel gibt es dagegen erhebliche Abweichungen von der Anordnung der Psalmen in der masoretischen Tradition.

In der exegetischen Literatur wird dieser Befund in der Regel vereinfacht dargestellt: Stabil sei der Psalter in der Zeit von Qumran im Bereich der ersten drei Psalmenbücher, instabiler im Bereich des vierten und fünften Psalmbuches. Die Ungenauigkeit des Befundes hängt mit seiner Erhebung zusammen, in der die Abweichungen nach den fünf Büchern des Psalters sortiert werden. Demgegenüber ist festzuhalten, dass die textliche Stabilität des Psalters von der Einteilung des Psalters in Bücher unabhängig ist: Es gibt keinen Beleg dafür, dass einzelne Psalmenbücher oder die Psalmenbücher 1-3 (Ps 1-89) eine Vorstufe des Psalters darstellen.

In Qumran ist nicht nur der feste textliche Zusammenhang eines Großteils des Psalters belegt, sondern auch die Möglichkeit, einzelne biblische Psalmen neu zu verwenden und biblische mit außerbiblischen Texten zu mischen. Gerade weil der Psalter ein Mustergebetsbuch ist, steht das Psalmengebet im Zusammenhang mit aktuellem Beten.

c) Die Septuaginta kennt eine andere Zählung als die masoretische Tradition. Ps 9/10 und Ps 114/115 jeweils als ein Psalm gezählt, umgekehrt werden Ps 116 und Ps 147 jeweils in zwei Psalmen aufgeteilt. Zudem kennt die LXX einen zusätzlichen 151. Psalm; in der syrischen Bibel finden sich sogar 155 Psalmen.

4. Die Entstehung des Psalters aus kleineren Sammlungen

Die gegenwärtige Forschungslage scheint von zwei Extrempositionen dominiert: Auf der einen Seite stehen Betrachtungen einzelner Psalmen, die dessen historische Entwicklung ohne Berücksichtigung seines Kontextes nachzuzeichnen versuchen. Nach verbreiteter Ansicht ist der Psalter jedoch in einem langen und komplizierten Prozess entstanden, indem kleine, zunächst selbständige Sammlungen zu größeren zusammengestellt wurden. Für den „Elohistischen Psalter“ (Ps 42-83) zeigt die bevorzugte und für seine Bezeichnung ausschlaggebende Verwendung der Gottesbezeichnung Elohim „Gott“ statt des Gottesnamens JHWH, dass er als selbständige Psalmensammlungen entstanden ist oder bearbeitet wurde. Die Bevorzugung der Gottesbezeichnung gegenüber dem Gottesnamen steht dabei auch für ein anderes Gottesbild: Der elohistische Psalter erwartet Gottes Eingreifen als Richter (Ps 82 und Ps 83).

Auch einzelne Psalmengruppen wie das Ägyptische Hallel Ps 113-118 und die Sammlung von Wallfahrtspsalmen Ps 120-134 können lange als selbständige Sammlungen überliefert worden sein. Sie fallen in das letzte Drittel des Psalters und damit in den Textbereich, der ohnehin lange offen blieb. Ihre Selbständigkeit kann als Modell dafür gelten, dass z.B. auch die Asafpsalmen und Korachpsalmen einmal eigenständige Sammlungen waren und insofern literarische Vorstufen des Psalter darstellen.

Ein sehr detailliertes Modell der Entstehung des Psalters, wie es Zenger beispielsweise in der 5. Auflage seiner „Einleitung in das Alte Testament“ (2004, S. 365f) vertritt, sieht den elohistischen Psalter als Kern des Psalters, um den der Psalter – auch mit Verwendung einzelner, älterer Psalmengruppen – wuchs. Doch nicht jede der dort postulierten Vorstufen, weder der von vielen vertretene messianische Psalter (Ps 2-89) noch gar der JHWH-König-Psalter (Ps 2-100) oder der geschichtstheologische Psalter (Ps 2-106), kann wirklich plausibel gemacht werden. Weil nach den Analysen von Wilson (1986) und Flint (1997) der Psalter in der Zeit von Qumran etwa ab Psalm 13 bis Psalm 93 deutlich stabiler als an seinen Rändern ist, ist neben diesen etablierten Lösungen auch an eine Ausbaustufe des Psalters in persischer Zeit zu denken, die mindestens die Psalmen 13-93 umfasst (vgl. Millard, Komposition, 188-212).

5. Wichtige Themen des Psalters

5.1. Verschiedene Ansätze einer Theologie des Psalters

Exemplarisch seien drei Ansätze in chronologischer Reihenfolge dargestellt:

Hans-Joachim Kraus (1979) hat seine Theologie der Psalmen als Ergebnis seiner Psalmenkommentierung vorgelegt. Während der Kommentar stark von Hypothesen zum altisraelitischen Kult, insbesondere zum Herbstfest, abhängig blieb, gelingt es Kraus, aus Psalmentexten einen großen Bogen von Namen, Bezeichnungen und Eigenschaften Gottes bis hin zu einer Anthropologie zu schlagen.

Hermann Spieckermann (1989) konzentriert sich demgegenüber auf eine Jerusalemer Tempeltheologie: Es geht ihm um die Rekonstruktion einer theologischen Vorstufe des Psalters, in deren Zentrum die Vorstellung von der heilvollen Gegenwart Gottes steht.

Bernd Janowski (2003) nimmt demgegenüber ernst, dass die Psalmen Äußerungen von Menschen gegenüber Gott sind. Bemerkenswert ist dabei, dass er die Anthropologie der Psalmen unter die beiden Hauptteile „Vom Leben zum Tod“ und „Vom Tod zum Leben“ einteilen kann. Der Machtbereich des Todes ist damit keine Grenze, die von Gott trennt.

5.2. Der Mensch vor Gott

In den Psalmen tritt ähnlich wie in den Schöpfungsgeschichten eine Systematik biblischer Anthropologie zu Tage: Menschen sind gemeinsam mit den Tieren von Gott geschaffen. Beide haben wie die himmlischen Wesen die Fähigkeit, Gott zu loben (vgl. Ps 148). Die Gemeinschaft des Lobens ist damit der Ort, an dem die Schöpfungsgemeinschaft zum Ausdruck kommt.

Gleichzeitig ist diese Gemeinschaft des Lobens Gottes aber keine vollständig erlebbare Wirklichkeit: Dass Sonne, Mond und Sterne gemeinsam mit den Seeungeheuern Gott loben ( Ps 148,3. 7), ist gerade nicht gegenwärtig erfahrbar. Die Aufforderung zum Lob Gottes eröffnet eine Zukunft, die die Betenden in seinem Sprechen des Psalms vorwegnehmen.

Die Ausgangssituation, aus der heraus die Betenden in die vom Psalter vermittelte Sprachbewegung hinein kommen, ist die Klage. In der Notsituation scheint Gott weit weg zu sein. Insofern kann der Beter seine Gottverlassenheit beklagen ( Ps 22,2). Seine Klage äußert er aber als Anrede an Gott. Insofern scheint die Klage paradox zu sein. Doch genau dies ist Teil der Sprachbewegung in den Psalmen, dass der Mensch in seiner Gottesferne über das Nachsprechen dieser Texte zu Gott geführt wird.

5.3. David als Vorbeter

Der Psalter ist eng mit den übrigen Texten der Hebräischen Bibel verknüpft. Die Verknüpfung beginnt im Vorwort des Psalters: Ps 1 erwähnt die Tora, Ps 2 proklamiert den König in Jerusalem als Gottes Sohn. Die Gliederung des Kanons der Hebräischen Bibel ist so am Anfang des Psalters präsent: Neben die Tora tritt das Königtum, dessen Entwicklung in Zustimmung und Kritik den Kanonteil „Propheten“ prägt.

Mit diesem Kanonteil der Propheten, der in vordere Propheten (christlich: Geschichtsbücher) und hintere Propheten (christlich: Prophetenbücher) unterteilt wird, ist der Psalter durch verschiedene Überschriften verknüpft, die viele Psalmen Situationen in der Biographie Davids zuordnen (vgl. Ps 3; Ps 34; Ps 51 u.ö.). Parallel dazu finden sich in erzählenden, aber auch prophetischen Texten Psalmen, mit denen die Innenperspektive der handelnden Personen ausgeleuchtet wird (vgl. 1Sam 2; 2Sam 22; Jona 2; Hab 3). Die griechische Bibelübersetzung fügt weitere Psalmen in Erzähltexte ein.

Das Davidbild der Psalmen steht zwischen dem idealen Davidbild der Chronikbücher und dem älteren Davidbild der Samuelbücher, die auch kritische Seiten des machtbewussten Helden erkennen lassen: David ist ein Mensch mit Fehlern, aber er wendet sich an Gott, der seine Notlage hier auf Erden und vor ihm selbst wendet. Die Idealisierung Davids steigert sich dahin, dass bei vielen Psalmen unklar ist, ob noch ein tatsächlicher König Israels oder eine ideale, endzeitliche Figur gemeint ist (vgl. Ps 2 und Ps 110): Beispielsweise wird in dem nachexilischen Ps 89 der Dynastie Davids fortwährender Bestand zugesichert (v5), obwohl Davididen in der nachexilischen Restauration keine entscheidende Rolle mehr spielen.

Dadurch, dass fast die Hälfte der Psalmen David zugeschrieben werden, wird der Psalter fest in den Zusammenhang der erzählten Geschichte Israels eingebunden. In der Kunstgeschichte ist der Psalmen singende David ein fester Bestandteil der Darstellung von David. Camillo Boccaccino (Der Prophet David, 1530) zeigt die Verbindung des kriegerischen mit dem frommen David.

5.4. Gottes Wort

In den Klageliedern des Volkes kann Gott auf die Klage mit einem Orakelspruch antworten (Prophetische Redeformen 3.1.). In den Klageliedern des Einzelnen finden sich solche Orakel nicht, sie werden aber beim Wechsel von der Klage zu Lob und Dank vorausgesetzt. Auch bei der Zusammenstellung von Psalmen finden sich Orakelpsalmen oder andere Psalmen mit einer Gottesrede vorzugsweise im Übergang von der Klage zu Lob und Dank. So ist beispielsweise der Lobpsalm Ps 29, der das Ertönen der Stimme Gottes beschreibt, zwischen den klagenden Psalmen Ps 25-28 und dem Danklied Ps 30 platziert. Ps 29 ist zwar kein Orakelpsalm, aber er ahmt ein Orakel an passender Stelle nach. Der Psalter rechnet damit, dass Gott aktuell zu den Betenden spricht. Er kennt aber auch Gottes Wort als Überlieferung: Die Tora ist beispielsweise als weisheitliches Lebensprinzip (Ps 1) und als Belehrung durch Erinnerung von Geschichte (Ps 78) präsent.

5.5. Gott als Richter und König

Im Klagelied wird an Gott appelliert, weil das Gerechtigkeitsempfinden des Betenden durch seine Notlage gestört ist. Die Sammlung von Psalmen, in der Lob gegenüber der Klage völlig zurücktritt, die Sammlung von Asafpsalmen, endet entsprechend in einer Beschreibung von Gottes Auftreten als himmlischem und irdischem Richter (Ps 82) und der folgenden Bitte (Ps 83). In beiden Psalmen muss Gott seine Alleinstellung als Gott erst durchsetzen ( Ps 82,1. 6-7; Ps 83,19). Dem entspricht, dass Arme und Elende zu ihrem Recht kommen ( Ps 82,3-4).

Der oberste Richter ist der König, insofern gehören die Prädikationen Gottes als Richter und König zusammen. Mit Ps 93 und Ps 95-99 finden sich fast alle Psalmen, die das Königtum Gottes feiern, an einer Stelle. Diese ist zugleich der Ort innerhalb des Psalters, an dem die Klage zugunsten von Lob zurücktritt. Dabei wechseln Aussagen, dass Gott König ist (Ps 93; Ps 97; Ps 99, vgl. Ps 47,8-9), und Aufforderungen zum Gotteslob als ein neues Lied (Ps 96 und Ps 98, vgl. Ps 149).

Dass Gott König ist, stellt auch Ps 146,10 fest. In dieser Psalmengruppe am Ende des Psalters finden sich Aufforderungen an die gesamte Schöpfung, in das Gotteslob einzustimmen (Ps 148; Ps 150). Der Psalter erwartet so die universale Durchsetzung der Macht Gottes und nimmt sie bereits vorweg.

6. Zur Auslegungsgeschichte des Psalters

6.1. Zur jüdischen Auslegungsgeschichte

Die jüdische Auslegungsgeschichte des Psalters ist ausgesprochen reich. Sie beginnt innerbiblisch mit der Einschreibung von weiteren Psalmen in Erzähltexte. Auch die Überlieferung der Psalmen in Qumran bezeugt durch die Kombination von biblisch überlieferten mit außerbiblischen Psalmen, dass die Psalmen noch um die Zeitenwende nur teilweise textlich fest sind und sich weiterhin in einem Prozess der Fortschreibung befinden. Der als täglicher Gebetspsalm konzipierte Ps 145 (vgl. Ps 145,2) wird beispielsweise in 11QPs 05 = 11QPsa mit einem Refrain aufgefüllt.

Selbst im Fall von Ps 145, bei dem seine Verwendung scheinbar biblisch vorgegeben ist, ist in der Zeit des Talmuds nur belegt, dass dieser Psalm wie die folgende Gruppe des kleinen Hallels von besonders frommen Einzelpersonen täglich gebetet wird (Babylonischer Talmud, Traktat Schabbat, 118b; Text Talmud). Die umfangreiche Eintragung von Psalmen in das tägliche Pflichtgebet gehört damit in die Zeit des Mittelalters, sie erfolgt parallel zur Erweiterung der Pflichtgebete durch Neudichtungen.

6.2. Zur christlichen Auslegungsgeschichte

Der Psalter gilt auch christlicherseits als ein besonders theologisches Buch der Bibel. So schlägt Luther in seiner Vorrede zum Psalter ab der Bibelausgabe von 1528 vor, den Psalter „eine kleine Biblia“, ein „Handbuch“ oder „Exempelbuch“ zu nennen: „Wer die ganze Bibel nicht lesen könnte, hätte hierin fast die ganze Summa, verfasset in ein klein Büchlein“. Luthers Sicht des Psalters als Kompendium der Bibel ist auch biographisch gedeckt, weil er seine reformatorischen Entdeckungen Psalmeninterpretationen verdankt. Luther wird diese Hochschätzung der Psalmen aus der Psalmenlesung der Mönche übernommen haben.

Bis heute haben Psalmen in der christlichen Frömmigkeit einen hohen Stellenwert. Beispielsweise wird vom Gideon-Bund eine Bibel herausgegeben, die nur das Neue Testament sowie als Anhang den Psalter abdruckt. Diese Bibelausgabe stellt eine radikale christologische Interpretation des Psalters dar, die den Psalter nur als Gebet Christi und der christlichen Gemeinde stehen lässt. So berechtigt es ist, den Psalter als Weg hin zu einem Messianismus zu verstehen, so unhaltbar ist eine Auslegung, die nicht anerkennt, dass der Psalter ein genuin jüdischer Text ist und dass seine christliche Aneignung dies sachgemäß respektieren muss.

Zahlreiche christliche Lieder sind Nachdichtungen von Psalmen. Besonders ausgeprägt ist dies in der reformierten Tradition seit dem Genfer Psalter, der auf die Psalmensammlung von Johannes Calvin 1539 zurückgeht. Überragend bleibt in der reformierten Tradition der Reimpsalter von Matthias Jorissen 1793, auf den auch der heute in den Gemeinden reformierten Bekenntnisses verwendete gesungene Psalter zurückgeht.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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3. Weitere Literatur

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Quelle: WiBiLex - mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart auf reformiert-info.de

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Dr. Matthias Millard