Tobias Kriener erzählt:
20.6.2017
Nun gibt es also auch einen Programmpunkt „Kabbala“ im Studienprogramm von Nes Ammim. Angeregt durch Nachfrage eines Volontärs, von Rabbi Or Zohar - der sich intensiv mit Kabbala beschäftigt hat - gerne aufgegriffen, fuhren wir gestern mal wieder in sei malerisch hoch oben im Galil gelegenes Dorf Hararit, wo er uns in seinem neu aufgemachten „office“ mit Kaffee und Wassermelone (das Beste, was es bei der Hitze überhaupt gibt) empfing und aus dem reichen Schatz seines Wissens austeilte. Es hätte ewig so weitergehen können - und man kann ihm ja auch ewig zuhören, so lebendig wie er erzählt -, aber wir wollten ja noch nach Zfat, der Stadt, die im 15. und 16. Jahrhundert das geistig-geistliche Zentrum des Judentums war und wo der bedeutendste Kabbalist Rabbi Jitzchak Luria (genannt ARI) begraben ist, genauso wie der Verfasser des Shulchan Aruch, der bedeutendsten Zusammenfassung der jüdischen Halacha (des jüdischen „Gesetzes“, könnte man sagen), Josef Karo. So machte er nach etwa 1 1/2 Stunden einen „Cut“ und erzählte auf dem Weg weiter.
Ich kann und will das nicht alles wiedergeben. Das Wichtigste an neuer Erkenntnis für mich: Die Kabbala ist kein Randphänomen im Judentum (so wie Mystik im Christentum), sondern hat viele Bereiche jüdischen Lebens nachhaltig geprägt. Ein Beispiel nur: Die ausführliche Liturgie des häuslichen Erev Shabbat ist ein Produkt der Kabbala - vorher war das ein kurzes Abendgebet, Kerzenanzünden, fertig. Die Kabbala hat die Gesänge eingeführt (so auch das überall gepflegte „Lecha Dodi“, mit dem die „Königin Shabbat“ empfangen wird - und auch diese Personalisierung ist natürlich kabbalistisch...).
In Zfat dann habe ich gelernt, dass die hübschen Synagogen, die man dort in der malerischen Altstadt mit ihren vielen Kunstgewerbeläden anschauen kann, zwar sehr schöne Beispiele von Synagogenbauten aus der osmanischen Zeit sind - aber nicht die Hauptattraktion Zfats. Denn sie stammen nicht aus der Zeit der Blüte des jüdischen Lebens in Zfat - sind also nicht die Synagogen, in denen der ARI und Josef Karo gebetet haben (auch wenn sie nach ihnen und anderen Größen von damals benannt sind), sondern nach einem verheerenden Erdbeben im 19. Jh. neu gebaut.
Die wirkliche Attraktion Zfats ist der Friedhof, auf dem eben Jitzchak Luria und Josef Karo begraben liegen - ein Wallfahrtsort für fromme Juden. Diese Gestalten der jüdischen Geschichte und der Geschichte jüdischen Denkens und Glaubens werden sicher nicht verehrt wie Moses bei den Juden oder Jesus bei uns als Gründerfiguren, aber als epochale Persönlichkeiten in Ehren gehalten - vergleichbar mit Martin Luther oder auch Augustin und Thomas von Aquin. Selbst Or, der ja sonst durchaus auch ein loses Mundwerk gegenüber jüdischen Institutionen haben kann, war vor diesen Gräbern sichtlich bewegt.
Es gäbe tausend weitere Einzelheiten zu erzählen, mit denen Or uns versorgte (z.B. dass Mahmud Abbas, genannt Abu Mazen, der derzeitige Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde, aus Zfat stammt - und in dem Zusammenhang natürlich auch die Geschichte der Vertreibung der Araber_innen im Krieg 1948/49 und die Zerstörung ihrer Stadtviertel, die Or auch nicht verschwieg). Aber das kann man zum Teil nachlesen bei Wikipedia und anderswo. Und den „sound“ von Or kann ich ohnehin nicht wiedergeben - das muss man selbst erlebt haben. Wenn Ihr uns besucht, seid Ihr immer gerne eingeladen, an einem Studytrip zu Or Zohar oder einer seiner „lectures“ bei uns teilzunehmen.
Das nächste Treffen mit Or steht zum Glück schon im Study Calendar: Dann wird es um Tisch'a beAv gehen - den 9. Av, den Tag des Gedenkens an die Zerstörungen des Tempels und anderer Katastrophen, die über das jüdische Volk gekommen sind. Or hat ja mal die jüdischen Feste folgendermaßen auf den Punkt gebracht: They sought to destroy us - we won - we eat.
Der 9. Av ist bekanntlich ein Fastentag - ich bin mal gespannt, wie er diesen Tag einordnen wird...