Dabei war das heute so verschmähte Wort „Fromm“ in der vorreformatorischen Zeit ein rein weltlicher Begriff und hatte keinen negativen Beigeschmack. Es stammt aus dem althochdeutschen „fruma“ und bezeichnete einen sich nutzlich machenden Menschen. Eine Bedeutungswendung erhielt der Begriff während der Reformation. Als Fromm galt, wer vor Gott rechtschaffen ist, der von Gott selbst gerechtfertigte Sünder. „Wir sollen nicht fromm sein, etwas damit zu verdienen“, sagt Luther, sondern nur „um Gottes willen allein.“ Frömmigkeit ist für die Reformatoren nicht eine allgemeine bürgerlich-tugendhafte Einstellung, sondern die Glaubenshaltung eines Christenmenschen in seiner ausschließlichen Bindung an den gnädigen Gott.
Durch den Pietismus, so Herlyn, sei ein anderer Zungenschlag in den Begriff hineingekommen: Das Frommsein als eine Vergewisserung des eigenen Glaubens. Am Frommsein merke, sehe, spüre ich meinen Glauben und den anderer. Frommsein wird zum Erweis des eigenen Heilsstandes. Ein Gegensatz zum reformatorischen Denken, so der Theologieprofessor.
Heute boomt Religion – allen aufklärerischen Unkenrufen zum Trotz und hat ein neues Zauberwort mitgebracht: Spirituell.
Beim Sport, in der Rockmusik, beim Film und bei Reiseanbietern erhalten Rituale, Meditation, Kult, Innerlichkeit und Spiritualität eine besondere Bedeutung. Überall entdecken Menschen eine „spirituelle Dimension“.
„Spirituell“ heißt: vermeintlich der Trivialität des Alltäglichen enthoben sein, vermeintlich einer anderen Wirklichkeit näher sein, zu sich selber und damit vermeintlich dem Göttlichen in mir auf die Spur kommen.
Vor 50 Jahren habe Bonhoeffer die Auffassung vertreten, es gehe einer religionslosen Zeit entgegen. Diese Auffassung sei offensichtlich ein historischer Irrtum. Religion sei heutzutage nicht out, sondern in. Man habe allerdings den Eindruck, die Religion boome an der Kirche vorbei. Kirche verliere an Bedeutung. Die Menschen gestalteten ihre eigene Religion. „Was Gott ist, bestimme ich!“ titelte vor einiger Zeit die Zeitschrift „Psychologie Heute“ und reklamierte damit trefflich die religiöse Grundhaltung in Zeiten des Spätkapitalismus: konditioniert auf die Gesetze des Marktes wird nun auch die Religion zum Selbstbedienungsladen.
Hier, so Vermutungen, komme zum Ausdruck, dass die Menschen in der Postmoderne an die Grenzen von Rationalismus und Aufklärung gestoßen sind. Es wird auf das Grundbedürfnis des Menschen nach Kult und Ritual verwiesen oder auf die multikulturelle Gesellschaft, die ein Übriges tue.
Der Theologe zeigte auf, dass auch in der Bibel eine bestimmte Sehnsucht, ein Suchen nach etwas, das mehr ist als das Hier und Jetzt, einem Verlangen nach einer anderen Wirklichkeit als dem Elend und einer vordergründigen materiellen Bedürfnisbefriedigung beschrieben wird. Als grundsätzlich Suchende, nach einer anderen Wirklichkeit Verlangende, gehen die Menschen der Bibel in die Wüste, steigen auf Dächer und einsame Berge, treffen sich, wie die Frauen von Philippi, am abgelegenen Ufer eines Flusses oder suchen das berühmte Kämmerlein auf. Aber, so Herlyn, „nirgendwo in der Bibel ist ein Lobpreis der Frömmigkeit oder Spiritualität als solcher zu finden. Sehnsucht nach etwas anderem, stille werden, Kontemplation, Opfer, Fasten und Vision haben dort nirgendwo einen Wert in sich, gewissermaßen als psychische Hygiene, sondern sie haben ihren „Wert“ immer nur bezogen auf ein bestimmtes, unverwechselbares Gegenüber, nämlich auf Gott, dem Schöpfer Himmels und der Erden, dem einen unverwechselbaren Vater Jesu Christi.“ Nur um dieses Gottes willen versammeln sich Menschen zum Gottesdienst. Frömmigkeit/Spiritualität um ihrer selbst willen oder gar zur Steigerung eines bestimmten Lebensgefühls ist nicht Sache der Bibel. Die verschiedenen Glaubenspraktiken bieten lediglich eine Art Raum, eine Bereitschaft, sich Gott auszusetzen. Herlyn: „Wir können Gott nicht durch unsere Glaubenspraxis herbeizwingen. Die biblischen Zeugen wollen in all ihren religiösen Praktiken offenbar nicht mehr, als einem Anderen Einlass gewähren. “
Auf dieses biblische Zeugnis gegründet sieht der Hochschullehrer keinen Grund, dass die Kirche im Spiritualitätsboom mitmischt. „Die Kirche hat diese vermeintlichen Marktchancen nicht nötig, schon deshalb nicht, weil sie sich grundsätzlich nicht an Chancen, sondern ausschließlich an dem ihr von Gottes Wort her Verheißenen und Gebotenen zu orientieren hat.“
Eine reformierte Glaubenspraxis traue nach Luther Gott allein. Sie habe dem Aberglauben zu wehren, jeder und jede können sich seinen Gott und ihre Göttin nach Gutdünken machen. „Was Gott ist, bestimmt weder mein Kopf, noch mein Bauch, weder mein Elend, noch mein Glück, weder meine Verzweiflung, noch meine Sehnsucht. Was Gott ist bestimmt nur Gott.“ Und: „Solange es uns in welchem Frömmigkeitsstil auch immer nicht um den Gott Israels, nicht um den Vater Jesu Christi geht, sind alle spirituellen Übungen leeres Stroh.“
Selbstkritisch stellt er die Nüchternheit und Kargheit reformierter Gottesdienste in Frage, die vielleicht manche Tür zugeschlagen habe. Auch eine reformierte Glaubenspraxis werde neu nach jenen Möglichkeiten zu suchen haben, in denen es zu einer Gottesbegegnung kommen könne.
In der sich anschließenden regen Diskussion wurden insbesondere der anklingenden Pietismuskritik eigene positive Erfahrungen mit der pietistischen Glaubensprägung entgegengehalten.
Und noch etwas wurde deutlich: Nicht auf den Begriff Frömmigkeit oder Spiritualität kommt es an, sondern darauf, mit welchem Inhalt er gefüllt ist.