Hast du mich lieb?
Predigt zu Johannes 21,15-19
„Als sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieber, als mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hin wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hin willst. Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde. Und als er das gesagt hatte, spricht er zu ihm: Folge mir nach!“
(Johannes 21,15-19; nach der Luther-Bibel von 1984)
Liebe Gemeinde!
„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er dann die Wahrheit spricht“ – diese Volksweisheit kam mir beim ersten Lesen des heutigen Predigttextes spontan in den Sinn.
Die dreimalige Frage Jesu an Simon Petrus: Hast du mich lieb?, ja, sie scheint Ausdruck seines Misstrauens dem Jünger gegenüber zu sein.
Und Jesus hatte ja auch allen Grund, ihm zu misstrauen, nach allem, was geschehen war: Simon Petrus hatte sich zum Verräter gemacht. Vor Ostern noch hatte er vollmundig geschworen, Jesus bis zum Letzten treu zu sein, mit ihm durch dick und dünn zu gehen, ihn niemals im Stich zu lassen, auch wenn andere ihn verleugneten.
Doch schon damals hatte Jesus vorausgesagt, dass Petrus ihn dennoch verleugnen werde: „Ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ „Unmöglich“, antwortete Petrus.
Aber es war nicht unmöglich. Denn als Jesus vor Gericht geschleppt, gefoltert und zum Tode am Kreuz verurteilt wurde, da verließ Petrus sein Mut wie Wasser, das man in den Sand gießt. Und als er Gefahr lief als einer von den Gefolgsleuten Jesu erkannt zu werden, da wurde die Furcht, neben Jesus am Kreuz zu enden, zu groß, und so leugnete er, Jesus überhaupt jemals gekannt zu haben. Dreimal. Und dann krähte der Hahn. Und Petrus erinnerte sich an die Worte Jesu und erkannte, wie tief er gesunken war, und ging hinaus und weinte bitterlich.
Liebe Gemeinde, vergegenwärtigen Sie sich: Gerade dort, wo man am meisten leidet und am allermeisten Freunde braucht, da wird man schmählich im Stich gelassen!
Das hatte Jesus auf schmerzliche Weise erfahren müssen und diese Erfahrung mag auch so manchem von uns, denke ich, nicht gänzlich fremd sein.
Was aber tut man, wenn man so grausam verraten und verkauft worden ist? Wie reagiert man demjenigen gegenüber, der einen verraten hat? Wie geht man mit seiner Enttäuschung um? Wird aus ihr vielleicht Bitterkeit, Kälte oder sogar Hass? Und was ist erforderlich, um das Vertrauen wiederherzustellen, wenn dies überhaupt möglich ist?
Jesus nun, er reagiert auf das kolossale Versagen des Petrus auf sehr liebevolle, einfühlsame Weise. Kein Wort des Vorwurfs, kein Wort der Ablehnung oder gar der Verdammung!
Er fragt seinen treulosen Jünger vielmehr: Liebst du mich?, und damit legt er gleichsam den Finger in die noch offene Wunde des Petrus. Aber nicht, um zu moralisieren oder unter Druck zu setzen, sondern um zu heilen. Wie ein guter Therapeut hilft er Petrus seine Vergangenheit zu bewältigen, indem er den dunklen, wunden Punkt ausspricht und ihn Petrus noch einmal durchleben lässt. Dreimal fragt Jesus: "Hast du mich lieb?“ – genauso oft, wie Petrus seinen Herrn verleugnet hatte.
Hier geschieht so etwas wie ein Durcharbeiten der Vergangenheit. Probleme, dunkle Punkte und Gefühle müssen öfter angesprochen, durchgesprochen und wiederholt werden, um verarbeitet werden zu können. Die dreimalige Frage Jesu und die dreimalige Antwort des Petrus machen das auf anschauliche Weise deutlich.
Ja, das zeichnet einen guten Therapeuten aus, dass er den Patienten dazu anleitet, sich seiner wunden Punkte und verdrängten Gefühle bewusst zu werden, sie zuzulassen, sie auszusprechen, sie nochmals zu durchleben in all ihrer Schmerzhaftigkeit.
All die Gefühle von Angst, Schuld, Einsamkeit, Traurigkeit, Verlassenheit, auch all die Gefühle von Wut und Zorn, vielleicht sogar von Hass müssen noch einmal, vielleicht sogar etliche Male durchlebt und durchlitten werden, bevor man sie wirklich hinter sich lassen kann, bevor ein Heilungsprozess möglich ist.
Dass man das überhaupt zulassen kann, das setzt aber eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Therapeuten voraus. Ein Mensch verändert sich grundlegend nicht etwa dadurch, dass ein „Profi“ ihn nach allen Regeln der Kunst diagnostiziert und „be-handelt“, sondern dadurch, dass ein Mensch Anteil nimmt und eine Beziehung zu ihm aufbaut, die durch Echtheit, Akzeptierung und Einfühlung gekennzeichnet ist.
Deshalb konnte auch Simon Petrus es zulassen, dass Jesus den Finger in seine noch offene Wunde legt, deshalb hatte er die Kraft, sich den dunklen Punkten seiner Vergangenheit zu stellen. Er hat sich von Jesus geliebt und angenommen gefühlt.
Liebe Gemeinde, mit der Frage nach der Liebe bringt Jesus also gerade nicht sein Misstrauen Petrus gegenüber zum Ausdruck. Im Gegenteil. Er will seinem Jünger helfen, seine Vergangenheit zu bewältigen, frei zu werden.
Und darüberhinaus bringt er damit auch das Verbindende ihrer Beziehung zur Sprache. Jesus macht Petrus deutlich: Ich bin Jesus wichtig. Trotz meines Versagens hält er weiterhin zu mir. Ich brauche mich nicht zu verstecken. Ich brauche keine Angst zu haben, er wird mich nicht demütigen. Er bietet Liebe an und fragt nach meiner Liebesfähigkeit. „Hast du mich lieb? Kannst du lieben?
Petrus antwortet: „Du weißt, dass ich dich liebe. Auch wenn ich wieder versage. Auch wenn an meinem Verhalten nichts von meiner Liebe abzulesen ist, du weißt es besser.“
Petrus lässt sich zum Lieben rufen. Er muss nicht mehr den eigenen hohen - viel zu hohen - Ansprüchen genügen. Er ist Gott lieb, er ist ihm wichtig, so wie er ist. Er darf mit der Liebe neu anfangen.
Mehr noch. Er wird von Jesus neu in Dienst genommen. „Weide meine Schafe“ – Jesus gibt Petrus eine neue Aufgabe. Damit überträgt er ihm eine ungeheure Verantwortung. Er soll seine Gemeinde bauen und leiten. Dieser Auftrag ist konkret und richtungsweisend, aber offen genug, damit Petrus sie mit seinen Fähigkeiten und seiner eigenen Persönlichkeit gestalten kann.
Welch ein gigantischer Vertrauensbeweis Jesu angesichts des kolossalen Versagens des Petrus! Die Antwort auf das größte Versagen ist das größte Vertrauen.
Angesichts dessen muss die Freude des Petrus wohl von himmlischen Dimensionen gewesen sein. Ein so großes Vertrauen zu empfangen und eine so große Liebe, nachdem man sich das so wenig verdient hat. Es ist eine große, unermessliche Freude, geliebt zu werden, obwohl man sich so wenig liebenswert verhalten hat.
Diese dem Petrus erwiesene Liebe Jesu und die Übertragung von Verantwortung gaben Simon Petrus tatsächlich die Kraft, diese Verantwortung zu tragen, auch als dies bedeutete, dass er sein eigenes Leben dafür hingeben musste.
Die Tradition sagt, dass Petrus während einer Christenverfolgung in Rom gekreuzigt wurde. Nach eigenem Wunsch mit dem Kopf nach unten, weil er sich nicht für würdig hielt, so gekreuzigt zu werden wie Jesus. So kann die Liebe die Kraft geben, alles zu geben, selbst das eigene Leben.
Liebe Gemeinde, für mich ist der heutige Predigttext ein Mutmachtext. Er macht Mut, sich seinen Problemen, seinen dunklen, wunden Punkten und Gefühlen zu stellen, sie anzuschauen. Diese Geschichte, sie ist ein Plädoyer dafür, das anzuschauen, was schmerzlich und unangenehm ist und was wir lieber unter den Teppich kehren möchten. Doch solange wir so agieren, ist ein Heilungsprozess und damit verbunden ein neuer Anfang nicht möglich.
Was meines Erachtens bei der ganzen Aufregung um die missratene Trauerrede von Oettinger deutlich wird, ist, dass der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger zeitlebens nicht willens oder in der Lage war, sich den dunklen Punkten seiner Vergangenheit zu stellen.
Als ganz normaler Militärjurist hat er einem diktatorischen Regime gedient, sich von der „Terror- und Blutjustiz“- so urteilt der Bundesgerichtshof 1995 über die NS-Justiz - gebrauchen lassen. FILBINGER, Mitglied der NSDAP, ist alles andere als ein Gegner des Regimes gewesen – die Wenigen, die sich diesem Staat widersetzt haben, mussten ihren Widerstand mit großen Unannehmlichkeiten, nicht selten mit KZ-Haft oder gar ihrem Leben bezahlen. Er ist auch kein Mitläufer gewesen, wie so viele andere seiner Zeitgenossen. Nach Ansicht von Historikern ist er ein Täter gewesen, der in seiner Funktion als Marinerichter an der ungeheuren Mordbilanz von 30.000 Todesurteilen gegen deutsche Soldaten, von denen mehr als 15.000 vollstreckt wurden, mitgewirkt hat und der sich zeitlebens als uneinsichtig zeigte und keinerlei Unrechtsbewusstsein hatte, wie so viele andere auch.
Liebe Gemeinde, bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch!
Es geht mir nicht darum, mit erhobenem Zeigefinger einherzugehen und das Verhalten meiner Landsleute während des Dritten Reiches anzuprangern: „Ihr hättet doch...! Warum habt Ihr nicht...? Wie konntet Ihr nur...!“ Das steht mir nicht zu. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte.
Erhobener Zeigefinger und Vorwürfe führen zu nichts. Hinschauen, Verstehen, Konsequenzen ziehen – aber das sollten wir schon!
Jede Generation steht vor anderen Herausforderungen, jede Zeit birgt andere Gefahren und Widrigkeiten, die es zu meistern gilt.
Eine der große Herausforderungen unserer Tage sehe ich in dem sich abzeichnenden Klimawandel und den damit einhergehenden, zu erwartenden Umweltkatastrophen und kriegerischen Auseinandersetzungen.
Ich sehe nicht, dass wir uns heute Lebenden dieser Herausforderung wirklich stellen. Ich sehe nicht, dass sich unser Verhalten grundlegend verändert, was aber notwendig wäre. Alles läuft im Grunde genommen so weiter wie gehabt. Ich sehe nicht, dass wir wirklich willens sind, unseren Lebensstil einschneidend zu verändern.
Und dabei gab es schon vor 30 Jahren Mahner – man denke nur an den CLUB OF ROME – die das, was heute für uns alle mehr und mehr sichtbar und spürbar wird, vorausgesagt haben und ein Einlenken angemahnt wurde.
Vielleicht werden uns einmal unsere Kinder und Enkel fragen, was wir getan haben, um die drohende Klimakatastrophe abzuwenden! Und dann werden wir vielleicht auch allerlei Ausflüchte und Rechtfertigungen finden. Dann werden wir vielleicht sagen: „Wir waren doch alle machtlos. Wir konnten nichts tun. Die Politik hat versagt.“
Doch hilfreich ist das nicht, es ermöglicht keine wirkliche Auseinandersetzung, die Not täte, damit ein wirklicher Neuanfang möglich wird.
Liebe Gemeinde, noch einmal, es geht mir nicht darum, zu moralisieren oder unter Druck zu setzen nach dem Motto: „Ihr solltet aber...! Wenn Ihr aber nicht, dann...!“
Es geht mir vielmehr darum, dazu zu ermutigen, Probleme, dunkle, wunde Punkte und Gefühle, die wir unter den Teppich gekehrt haben - und da hat sich bestimmt eine ganze Menge angesammelt! -, hervorzuholen, sich ihnen zu stellen, keine Angst davor zu haben. Nur so ist Heilung, Gesundung, Neuanfang, ja wirkliches Leben, das ja letztlich von der Vergebung lebt, möglich. So war das damals bei Simon Petrus und so ist das auch heute bei uns.
Vielleicht wird der eine oder andere bei dieser Entrümpelungsaktion auch professionelle Hilfe in Anspruch nehmen müssen, was ein Segen ist, vorausgesetzt allerdings, dass man den richtigen Therapeuten gefunden hat!
Liebe Gemeinde, der heutige Predigttext ist in der Tat ein Mutmachtext, weil er nicht nur dazu ermutigt, einen Blick zurückzuwerfen, sondern auch eine Perspektive in die Zukunft eröffnet.
So wie Simon Petrus kläglich versagt hatte, so versagen auch wir immer wieder. Wir schweigen, wo wir unsere Stimme erheben sollten, wir packen nicht zu, wo beherztes Handeln gefragt wäre, wir schauen weg, wo wir genau hinsehen sollten. Wir sind oftmals so sehr mit unserem eigenen Wohl und Wehe beschäftigt und nehmen dabei den Anderen neben uns nicht wahr.
Aber auch uns gegenüber antwortet Jesus auf unser Versagen mit seinem Vertrauen, seiner Liebe. Auch uns überträgt er Verantwortung, trotz unseres Versagens. Er ruft auch uns in die Nachfolge. Er will, dass auch wir Verantwortung übernehmen, jeder auf seine Weise, jeder an seinem Platz, jeder mit den Gaben und Fähigkeiten, die er mitbringt.
Möge auch uns Jesu Vertrauen und Liebe die Kraft geben wie einst dem Simon Petrus, unsere Verantwortung zu tragen, auch wenn dieses unter Umständen bedeuten kann, Unannehmlichkeiten und Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.
Amen.
Silke Brenningmeyer-Beneken
Predigt über Johannes 21, 15-19 von Silke Brenningmeyer -Beneken