Der Kämpfer

Predigt über 1. Mose 32,23-32


Francesco Hayez: Begegnung von Jakob und Esau (Ausschnitt) © Wikicommons/http://www.gemmedartitaliane.com

Von Jürgen Kaiser

Ein Mensch kämpft. Er kämpft – Tag um Tag, Nacht um Nacht, Jahr um Jahr. Er kämpft am Tage bei der Arbeit, er kämpft bei Nacht in seinen Träumen. Er kämpft, wenn die Familie bei ihm ist. Er kämpft, wenn er arbeitet. Er kämpft, wenn er alleine ist. Sein ganzes Leben ist Kämpfen. Er ist alt geworden über dem Kämpfen. Vieles schmerzt. Die Seele, das Herz, die Hüfte.

Mit wem kämpft er eigentlich? Gegen wen?

So sehr hat sich der Mensch ans Kämpfen gewöhnt, dass er das gar nicht mehr weiß.
Der Mensch hat einen Namen. Er heißt Jakob. Oder Israel. Und manchmal denk ich, er heißt auch Jürgen Kaiser. Oder [Namen von Gottesdienstbesucher*innen oder Ältesten]….

Aber bleiben wir bei Jakob. Der Fersenhalter. So heißt er. Das bedeutet sein Name. Er hielt die Ferse seines Bruders Esau, als er nach ihm, als zweiter aus dem Schoß Rebekkas kam. Er war der zweiter und wollte immer der erste sein – von Geburt an. Sein Leben lang blieb er seinem Bruder auf den Fersen. Der Kampf gegen den älteren Bruder – ein Lebenskampf. Ein Kampf um die Gunst des Vaters, die auf dem älteren lag. Esau, verkauf mir dein Erstgeburtsrecht, ich koch dir Linsen. Vater, gib mir deinen Segen, ich bin der Erstgeborene, ich bin Esau, fühl doch meine behaarten Arme.

Jakob, der Fersenhalter, Jakob der Erbschleicher, Jakob, der Betrüger, Jakob, der zweite, der Erster sein will, Jakob, der kämpft, sein ganzes Leben, von Geburt an – gegen was nur? Gegen wen nur? Gegen den Bruder? Wirklich? Oder gegen seinen Ehrgeiz? Oder um die Gunst des Vaters?

Jakob hatte den Zorn seines Bruders auf sich gezogen. Er wusste es. Und wusste, warum. Jakob floh vor seinem Bruder. Jakob floh vor dessen Zorn. Jakob floh um sein Leben. Jakobs Kämpfen ist auch ein Fliehen. Jakob floh vor sich selbst. Und auf der Flucht vor des Bruders Zorn und vor sich selbst fand er eine Liebe und vier Frauen und zwölf Söhne und großen Reichtum. Und den Kampf mit seinem Schwiegervater Laban, ein 20-jähriger Dauerstreit, gewann er mit Fortune und Geschick und Gottes Beistand.

Und nun könnte man fragen: Wieso kommt er nicht zur Ruhe? Was will so ein Mann und Patriarch mehr – denn im Zeitalter der Patriarchen sind wir hier und müssen also fragen, wieso ein veritabler Patriarch, dem all seine Patriarchenträume – viele Frauen, viele Söhne, viel Reichtum – in Erfüllung gehen, sogar der Traum vom offenen Himmel, dem weiten Land und den Nachkommen, die wir der Staub der Erde sein werden und dem Segen, der von ihm in alle Himmelsrichtungen strömt, wieso so ein traumhafter Patriarch nicht endlich ankommt in seinem Leben, aufhört zu fliehen, aufhört, zu kämpfen und zufrieden ist?

Die Antwort ist einfach: Er heißt Jakob, der Fersenhalter, und so lange er so heißt, wird er denken, dass ihm sein Bruder auf den Fersen ist, wie er ihm auf den Fersen war seit Geburt an, und wie ihm selber seither sein schlechtes Gewissen im Nacken sitzt, in der Seele bohrt, das Gemüt verbittert, das Herz zum Rasen bringt und den Schlaf verdirbt. Schon sein Name verhindert, dass Jakob aus seiner Geschichte rauskommt.

***

Aber irgendwann ist er an den Punkt gekommen, in dem er sich sagen muss: So geht es nicht weiter. Ich muss mich dem stellen. Ich muss meinem Bruder vors Angesicht treten. Ich muss mich mit ihm aussöhnen. Endlich!

Er sendet Boten mit einer Versöhnungsbotschaft. Ihm wird berichtet, Esau komme ihm mit 400 Mann entgegen. In Jakob steigt die Panik auf. Er versucht, seine Lieben und sein Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Er betet. Er bereitet sich auf den Kampf seines Lebens vor. Und nun kommt jene Nacht, die seinem Leben und seinem Kampf die entscheidende Wende bringen wird.

Ich lese aus dem 32. Kapitel der Genesis:

23 Noch in jener Nacht aber stand er auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde und seine elf Kinder und ging durch die Furt des Jabbok. 24 Er nahm sie und brachte sie über den Fluss. Dann brachte er hinüber, was er sonst noch hatte. 25 Jakob aber blieb allein zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte heraufzog. 26 Und er sah, dass er ihn nicht bezwingen konnte, und berührte sein Hüftgelenk, so dass sich das Hüftgelenk Jakobs ausrenkte, als er mit ihm rang. 27 Und er sprach: Lass mich los, denn die Morgenröte ist heraufgezogen. Er aber sprach: Ich lasse dich nicht, es sei denn, du segnest mich. 28 Da sprach er zu ihm: Wie heißt du? Und er sprach: Jakob. 29 Da sprach er: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel, denn du hast mit Gott und mit Menschen gestritten und hast gesiegt. 30 Und Jakob fragte und sprach: Bitte nenne mir deinen Namen. Er aber sprach: Was fragst du nach meinem Namen? Und dort segnete er ihn. 31 Und Jakob nannte die Stätte Peniel. Denn, sagte er, ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin mit dem Leben davongekommen. 32 Und als er an Penuel vorüber war, ging ihm die Sonne auf. Er hinkte aber wegen seiner Hüfte.

***

Wieder muss Jakob kämpfen. Einer stellt sich ihm in den Weg. Man erkennt ihn nicht. Es ist dunkel, es ist im Fluss, nichts ist greifbar. Es dämmert. Der Dämon der Nacht, der Dämon der Träume will sich zurückziehen. Jakob lässt ihn nicht los. Jakob ist immer noch der Fersenhalter, er bleibt dran. Jakob will den Segen, wie er ihm immer gewollt hat. Vielleicht war ja sein Leben nie ein Kampf gegen jemanden, sondern eigentlich nur immer ein Kampf um den Segen. Ein Kampf um das Ansehen, ein Kampf um die Gunst. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“, hat Luther diesen eindrückliche Segenserpressung Jakobs übersetzt: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“.

Dann aber wird nicht erzählt, wie der Unbekannte Jakob segnet. Es passiert etwas anderes. Ein neuer Name. Jakob wird im Jabbok umgetauft. Aus Jakob wird Israel, aus dem Fersenhalter wird der Gottesstreiter.

Manchmal hilft es ja, wenn einer kommt und dir auf den Kopf zusagt, wer du bist. Nein, du bist in Wahrheit kein Fersenhalter und kein Betrüger, du bist in Wahrheit einer, der mit Gott streitet.

Darin liegt Segen. Ein neuer Name, der uns ablöst von den alten Geschichten, an die uns der alte Name gekettet hat. Ja, ich bin ein Kämpfer. Aber in Wahrheit kämpfe ich nicht mit meinem Bruder. In Wahrheit kämpfe ich mit Gott. In Wahrheit habe ich immer schon mit Gott gekämpft. Ich bin Israel. 32 Und als er an Penuel vorüber war, ging ihm die Sonne auf.

Jetzt war Jakob gerüstet, seinem Bruder unter die Augen zu treten. Und siehe, es kam ganz anders als Jakob befürchtete. Denn schon kam ihm Esau entgegen mit 400 Mann. Aber Esau kam ihm nicht entgegen, um gegen ihn zu kämpfen und sich zu rächen.
Jakob warf sich siebenmal zur Erde nieder, bis er zu seinem Bruder kam. 4 Esau aber lief ihm entgegen und umarmte ihn, fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und sie weinten.

***

Mit wem hatte Jakob gekämpft? Wer war der Unbekannte, der ihm nachts im Fluss auflauerte? War es Esau? War es sein Vater? War es ein Flussdämon? Waren es seine Ängste? Hat er mit sich selber gerungen?

Der neue Name Israel sagte, er habe mit Gott gerungen. Ein Gott, der es nicht vermochte, ihn niederzuringen. Ein Gott, der nicht stärker war, als er selber. Ein Gott, der nicht mit Gewalt die bezwingt, die er gewinnen will, sondern mit einem Wort, mit einem neuen Namen, mit einer Taufe.
Als Jakob das Gesicht Esaus sah, das es nicht grimmig war, sondern freundlich, und sie sich dann in den Armen lagen, die beiden so unterschiedlichen Brüder, in Tränen und versöhnt, da erst dämmerte es dem Jakob wirklich, mit wem er da in der Nacht gekämpft hatte. Er sprach zu Esau: Denn ich habe dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht, und du hast mich freundlich aufgenommen. (1. Mose 33,10)

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Die Kämpfe unseres Lebens sind doch alles Kämpfe mit Gott. Gott tritt in den Kampf ein, damit wir unsere vermeintlichen Gegner endlich loslassen können. Dass wir am Ende mit Gott gekämpft haben, wird uns aber erst am hellen Tage klarwerden, wenn wir das Angesicht des Menschen blicken, gegen die wir in unseren Schreckensträumen ein Leben lang zu Felde zogen und siehe: Sein Angesicht ist freundlich.
Gott gibt sich in versöhnten Menschen zu erkennen.

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Dieser erste Sonntag nach Ostern hat den tollsten Namen von allen Sonntagen: Quasimodogeniti – wie die neugeborenen Kinder. Neugeboren werden, einen neuen Namen kriegen, die Geister der Vergangenheit loswerden, und einem, vor dem man sein ganzes Leben geflohen ist, unter die Augen treten können.

Wie neu geboren nach langem Kampf. Endlich versöhnt mit seinem Bruder und mit sich. Etwas aber blieb. Etwas bleibt immer. Ein Hinken. Die Wunden sind verheilt, die Narben bleiben. So wie beim auferstandenen Christus die Wundmale Jesu blieben. Auch die geheilte Vergangenheit bliebt deine Vergangenheit. Du musst mit ihr leben. Du kannst mit ihr leben. Wir alle heißen Israel. Wir alle haben mit Gott gekämpft. Wir alle hinken. Aber wir wurden auch alle gesegnet.

Amen.


Jürgen Kaiser