O große Not, Gott selbst ist tot
Vorläufige Anmerkungen zum Verständnis des Kreuzestodes Jesu
Vormerkungen
Das Kreuz mit dem Kreuz. Ist das Kreuz Jesu die Mitte der christlichen Glaubens (1.Kor.1,18) oder ist es das Ärgernis, das den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen den christlichen Glauben fremd oder sogar abstoßend macht? „Ich habe es nicht nötig, dass jemand für mich stirbt. Ich passe auf mich allein auf, und ich sorge auch dafür, dass es mir gut geht!“ – so höre ich Menschen sagen, auch solche, die sich in der Kirche zuhause fühlen.
Der ehemalige Bonner Superintendent Burkard Müller sagte in einer Rundfunkandacht am 10. Februar 2009: „Wenn in zwei Wochen die Passionszeit Christi beginnt und wir in der Kirche über Jesu Leidensweg nachdenken, wird sicherlich hier und da wiederholt werden: Jesus starb, um uns die Sünden zu vergeben. Bei mir würden Sie das allerdings nicht hören. Denn ich glaube das nicht. Ich glaube an die Vergebung der Sünden, aber ich glaube nicht, dass Jesus für unsere Sünden gestorben ist.“[1] – Andere widersprachen heftig: Reißt hier nicht jemand den Grund der Kirche ein, wenn er die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu derart marginalisiert?
Und dann schlagen der christlichen Kreuzestheologie auch von Außerhalb die Wellen entgegen. Die Christenheit hat aus dem Kreuz ein Herrschaftsinstrument gemacht. Seit Konstantin der Große es auf seine Schilde und Feldzeichen malen ließ, haftet dem Kreuz etwas Imperatorisches an: Christianisierung der Sachsen – die Kreuzzüge gegen Juden, Moslems und selbst gegen die eigenen häretischen Geschwister in Konstantinopel. Tief beeindruckend ist die Szene aus dem Roman „Der letzte der Gerechten“ von Andre Schwarz Bart, in der der junge Jude Erni seiner Freundin Golda im besetzten Paris 1942 die Christen erklärt:
„O Erni“, sagte Golda, „du kennst sie doch, sag mir, warum sind die Christen so böse auf uns? Dabei sehen sie so nett aus, wenn man sie ohne Stern anschaut.“
Ernst schlang Erni seinen Arm um Goldas Schultern.
„Das ist sehr geheimnisvoll“, murmelte er auf jiddisch, „sie wissen es selbst nicht so genau. Ich bin in ihren Kirchen gewesen und habe ihre Evangelien gelesen. Weißt du, wer Christus war? Ein gewöhnlicher Jude wie dein Vater, eine Art Chassid.“
Golda lächelte sanft. „Du machst dich lustig“, sagte sie.
„Doch, doch, glaub mir, und ich wette sogar ,dass sie sich alle beide gut verstanden hätten, denn er war wirklich ein guter Jude, weißt du, eine Art vom Baal Schem Tow: ein Barmherziger, ein Sanfter. Die Christen sagen, dass sie ihn lieben, aber ich glaube, sie hassen ihn, ohne es zu wissen. Und deshalb nehmen sie das Kreuz am andern Ende und machen ein Schwert daraus und schlagen uns damit! Verstehst du, Golda“, rief er plötzlich seltsam erregt, „sie nehmen das Kreuz und drehen und drehen es um, mein Gott...“[2]
Eine andere Möglichkeit, mit dem Kreuz umzugehen, ist es, das Kreuz umzudeuten, es seiner furchtbaren Historizität zu berauben und zum Symbol zu erklären. Es wird dann zum Symbol, das Himmel und Erde verbindet, ein weltumspannendes Zeichen, das alle vier Windrichtungen bezeichnet. „Das Kreuz selbst symbolisiert die Vereinigung der Gegensätze, die Überwindung der dualen Weltsicht, die seit der Vertreibung aus dem Paradies das Schicksal des biblischen Menschen war.
Die horizontale Linie des Kreuzes steht für das Weibliche, die Erde, die Materie, die vertikale deutet auf die schöpferische Kraft des Männlichen, den Himmel und den Geist. Die Gegensätze können auch gefasst werden als Einheit von Zeit, als waagerechter Linie, und Ewigkeit als senkrechter Linie, wobei die Ewigkeit die Zeit in jedem beliebigen Punkt schneidet. Der Schnittpunkt der beiden Linien, in dem sie Eins werden, ist zugleich der Kraftpunkt, aus dem sich die ganze Welt entfaltet in die vier Himmelsrichtungen.“ [3] So wird das Kreuz Jesu entschärft, ent-geschichtlicht und auf eine Ebene allgemeingültiger Bedeutung gehoben und damit seiner furchtbaren konkreten Geschichtlichkeit beraubt. Aber die Frage ist erlaubt: Wer das Kreuz ins Symbolische verlagert, drängt der nicht auch Gott aus der Welt?
Die Probleme mit dem Kreuz sind nicht neu. Die vermutlich älteste Kreuzesdarstellung der Geschichte ist eine Karikatur auf der Wand einer Kaserne auf dem Palatin in Rom. Sie stammt aus dem 1. oder 2. nachchristlichen Jahrhundert. Die Karikatur verspottet einen offensichtlich christlichen Soldaten ob seines Gekreuzigten Gottes: Am Kreuz hängt ein Esel. Und Alexamenos betet diesen Eselsgott an. Was muß Alexamenos selber für ein Esel sein!? Kein Wunder, dass die Christenheit bis zur Konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert selbst auf alle Kreuzesdarstellungen verzichtet. In den Katakomben Roms sieht man den predigenden und den heilenden Jesus, aber nicht den Gekreuzigten. Das hat seinen Sinn.
1. I ad crucem – mors turpissima crucis
In der antiken Welt ist das Kreuz eine durch und durch unappetitliche Angelegenheit. Vom Kreuz redet man nicht – jedenfalls nicht in den Kreisen der gebildeten und anständigen Bürger Roms. Wenn die sittenlosen Soldaten einander verfluchen, dann sagen sie „I ad crucem“ – geh zum Kreuz, gemeint ist: geh zum Henker, oder geh zum Teufel! Das Kreuz ist Sklavenstrafe. Als der Spartakus-Aufstand niedergeschlagen war (71 v.Chr.), ließ Crassus die gefangenen Sklaven entlang der Via Appia zwischen Rom und Capua ans Kreuz schlagen. Das zur ewigen Warnung an alle, die es wieder wagen sollte, sich dem Imperium Romanum zu widersetzen und die ihm zukommende Stellung in Zweifel zu ziehen.
Das Kreuz ist Instrument der Siegerjustiz, angewandt gegen aufständische Sklaven – in den allermeisten Fällen waren das keine gebürtigen Römer. Wer gekreuzigt war, der war tot. Dessen Leichnam blieb in der Regel hängen, bis er von den Vögeln gefressen war, dessen Name wurde nicht mehr genannt. Der Gekreuzigte war tot: physisch tot und sozial tot. Sein Leben war ausgelöscht und auch die Erinnerung an ihn. Auch literarische Erwähnungen der Kreuzesstrafe sind spärlich. Worüber man nicht sprach, darüber schrieb man auch nicht. Die Evangelienberichte sind die ausführlichsten Schilderungen einer Kreuzigung, die uns aus der Antike überliefert sind.[4]
Es kann historisch kein Zweifel daran bestehen, dass Jesus von Nazareth genau diesen Kreuzestod gestorben ist. Das sagt viel darüber aus, wie die jüdischen und die römischen Eliten in Jerusalem: Kaiphas und Pontius Pilatus Jesu Leben gesehen und beurteilt haben. Das jüdische Urteil auf Gotteslästerung – angestoßen vermutlich durch Jesu Auftritt im Tempel von Jerusalem vor dem Pessach-Fest war im römischen Kontext nicht justiziabel. Der Kreuzestod deutet darauf hin, dass Pontius Pilatus in Jesus einen jüdisch-messianischen Verschwörer gesehen hat. Gegen einen solchen waren Folter und Kreuzestod angemessen. Keine weltbewegende Angelegenheit, nichts was die jüdische oder auch die römische Politik auch nur im Kleinsten verändert hätte.
Dieser Tod verlangt Antwort. Er steht in deutlichem Widerspruch zur Botschaft des Jesus von Nazareth vom nahen Reich Gottes. Im jüdischen Kontext gibt es zunächst erst einmal keine Verstehensmöglichkeit. Der leidende Gottesknecht aus dem Buch Deuterojesaja ist so kein Vorbild für den von Jesus erlittenen Fluchtod am Kreuz. Auch der Märtyrertod der Makkabäer ist ehrenvoll. Er fügt sich im Verständnis Israels ein in den apokalyptischen Horizont, in dem Israel seine Zeit als Endzeit beschreibt. Verflucht ist, der am Holze hängt – so heißt es im Buch Deuteronomium (21,23). Die einzig vorstellbare Reaktion auf diesen Tod ist Schweigen. Die Freunde Jesu haben in den Abgrund geblickt: Schweigen und zurück an die Arbeit; „Ich will fischen gehen“ – sagt Petrus (Joh. 21,13).
Die Freunde Jesu haben nicht geschwiegen. Von den Ostererfahrungen her haben sie den Tod Jesu gedeutet. Das Schweigen, die tiefe Depression hatte der Gekreuzigte selber überwunden, indem er sich als der Auferstandene gezeigt hatte. So fällt von Ostern her das Licht auf den Karfreitag. Von der Selbstoffenbarung des Auferstandenen her, wird es überhaupt erst möglich, vom Kreuz zu reden. Das schafft einen unlöslichen Zusammenhang zwischen Kreuz und der Auferweckung des Gekreuzigten. Dabei gilt, dass der Auferstandene wirklich die Nägelmahle des Gekreuzigten trägt, dass der Auferstandene also durch den Tod hindurch mit dem Gekreuzigten identisch ist. Das Interesse des Thomas, den Auferstandenen zu berühren, ist ein zutiefst theologisches Interesse. Karfreitag ohne Ostern führt in die theologische Sprachlosigkeit. Ostern ohne Karfreitag führt in die Schwärmerei. Die Identität des Gekreuzigten mit dem Auferstandenen Christus ist die Grundvoraussetzung und der Ausgangspunkt aller christlichen Theologie.
2. Der Tod am Kreuz ist mehrdeutig
Christliche Theologie beginnt damit, dass sie den Kreuzestod Jesu deutet. Der Deutungsrahmen, den sie dabei voraussetzt, bestimmt auch das spätere Ergebnis, die Kreuzestheologie. Dabei hat die christliche Theologie kein Deutungsmonopol für den Kreuzestod Jesu.
Die erste Deutung des Sterbens und des Todes Jesu geschieht durch jüdische Betrachter des Geschehens von Golgatha. Das aramäische Gebet des 22. Psalms (Eli, eli, lama asabtami) wird von den Passanten missverstanden. Sie denken, er ruft den apokalyptischen Propheten Elias, damit der Vorläufer des Messias ihn zum Ewigen geleite. Also verstehen sie Jesu Tod als Tod in Verzweiflung. Der Kreuzigungsbericht des Markus (Markus 15,37) legt eine solche Deutung ebenfalls nahe. Paulus spricht im 1. Korintherbrief nicht zufällig vom Skandal des Kreuzes (1.Korinther 1,18). "Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden, uns aber, die wir selig werden, ist es eine Gotteskraft". (Luther-Übersetzung)
Wenn das Wort vom Kreuz Torheit ist, dann ist es das Kreuz selbst erst recht, und dem Kreuzestod Jesu scheint für viele antike Zeitgenossen kein positiver Sinn beizumessen zu sein. Selbst die Auferstehung des Gekreuzigten kann sich im historisch Zweideutigen verlieren. Gottes Machttat gegen den Tod kann interpretiert werden als kriminelle Machenschaft der Jünger Jesu, um die Jesus-Bewegung auch nach dem Tod Jesu aufrecht zu halten. Nach der Grablegung wird die Bitte an Pontius Pilatus herangetragen: „Befiehl also, dass das Grab bewacht werde bis zum dritten Tag, damit nicht seine Jünger kommen und ihn stehlen und dem Volk sagen: Er ist von den Toten auferweckt worden. Der letzte Betrug wäre dann schlimmer als der erste.“ (Matthäus 27,64)
Christliche Kreuzestheologie bewegt sich auf dem Feld der mannigfaltigen Deutungen und Deutungsmöglichkeiten. Schon in den biblischen Texten selber werden sie vorgestellt und reflektiert. Christlicher Glaube hat sich von Anfang an mit unterschiedlichen Deutungen auseinanderzusetzen.
Die ersten Christen waren Juden – wie Jesus selbst. Ihr Horizont, das Leben und das Geschick des Jesus von Nazareth sind das Alte Testament, die Hebräische Bibel und die jüdischen Überlieferungen. Ihr Denken ist hebräisch geprägt. Ihr Glaube ist, dass der ewige Gott die Welt ins Dasein gerufen hat und dass er mittelbar und unmittelbar an der Welt handelt. Gott wird in der Geschichte erkennbar, nicht in der Idee. Hat die Geschichte des Jesus von Nazareth mit der Geschichte des ewigen Gottes zu tun, dann werden sich seine Spuren und seine Vor-Zeichen in der Hebräischen Bibel finden. Der erste Deutungsrahmen für den Kreuzestod Jesu ist die Hebräische Bibel. Aber auch dieser Deutungsrahmen ist keinesfalls eindeutig.
Die alttestamentlichen Vorbilder – oder besser: Anknüpfungspunkte für eine Deutung des Kreuzestodes Jesu sind nicht eben zahlreich.
a) Der Fluchtod am Kreuz – Paulus Gal. 3, 13
„Wenn jemand eine Sünde getan hat, die des Todes würdig ist, und wird getötet und man hängt ihn an ein Holz, so soll sein Leichnam nicht über Nacht an dem Holz bleiben, sondern du sollst ihn am selben Tage begraben — denn ein Aufgehängter ist verflucht bei Gott -, auf dass du dein Land nicht unrein machst, das dir der Herr, dein Gott, zum Erbe gibt.“ (Dt.21,22,23) – Dieser Text rückt das Verständnis des Kreuzes sehr in die Nähe der antiken Konvention. Und wenn Paulus diesen Text im Galaterbrief zitiert, so geht er damit sicherlich auf umlaufende Deutungen des Kreuzestodes Jesu ein, um gerade diese negative Deutung im Sinne seiner Theologie positiv zu profilieren.
Das Kreuz ist Fluch, und Fluch ist mehr als eine menschliche Verurteilung. Fluch ist ein menschliches Urteil, das auf der Verwerfung Gottes selbst beruht. Fluch ist, was Gott durch sein Urteil ausgeschlossen hat. Das Kreuz ist Fluch, aber Gott hat – wider alle Erwartung und auch wider alle Theologie - den Fluch in Segen umgekehrt. Das Gesetz hatte die Menschen versklavt, der Kreuzestod Jesu ist wie der Loskauf aus dieser Sklaverei.
In seinem Kommentar zum Galaterbrief formuliert Heinrich Schlier: „Das Gesetz machte das Dasein aller Menschen zum Fluch. So hat Christus uns alle aus diesem verfluchten Dasein losgekauft.“ Dies sei aber in der Weise geschehen, dass er selbst zum Fluch geworden ist: „Eine Reflexion darüber, dass dies der Kaufpreis ist, wird durch solche Aussage nicht veranlasst, obwohl es natürlich den Sachverhalt trifft, wenn die Art und Weise, wie er uns loskaufte, zugleich als der Preis angesehen wird, um den er uns loskaufte, zugleich als der Preis angesehen wird, um den er uns loskaufte. Man kann den Tod Christi als die Kosten und als das Verfahren des Loskaufes der versklavten Welt bezeichnen“, so Schlier.[5]
b) der Tod des Gottverlassenen Psalm 22
Stilbildend für die Passionsberichte ist der Psalm 22. Hartmut Gese hat in einem Aufsatz 1973 gezeigt, dass die Passionsberichte der Evangelien durchgängig von diesem Psalm bestimmt sind. Claus Westermann hatte in der Auslegung des 22. Psalms von einer „gewendeten Klage“[6] gesprochen: Auf die Todesgefahr, ja das unmittelbare Hereinbrechen des Foltertodes, der Exekution, folgt die Wende, die das eschatologische Mahl im Kreise des Gottesvolkes heilvoll vor Augen stellt. Jahwe ist der Gott, der im Tode vom Tode errettet.
„In Ps 22 kommt also eine bestimmte apokalyptische Theologie zu Worte, die in der an einem Einzelnen sich vollziehenden Errettung aus der Todesnot die Einbruchstelle der basileia tou teou [Herrschaft/Reich Gottes] sieht: die Bekehrung der Welt, ausdrücklich mit dem basilea – Theologoumen begründet, die Auferstehung der Toten, wenn auch noch sehr zurückhaltend konzipiert als Erlösung zur kultischen Teilhabe an Jahwe, und die Verknüpfung dieser Heiltat in alle Zukunft.“[7]
Der Tübinger Alttestamentler Hartmut Gese fasst zusammen:
„Wir sehen: Die älteste Darstellung des zentralen Ereignisses des Todes Jesu wird verborgen unter dem Schleier von Ps 22. Damit werden wir hier nicht nur eine alte Interpretation des Todes Jesu vor uns haben, sondern, wie mir scheint, das älteste Verständnis des Golgathageschehens. Es ist hier nicht wie in Jesaja 53 vom Sühnopfer die Rede, ja noch nicht einmal vom Messias, sondern der zur tiefsten Leideserfahrung gesteigerte Tod Jesu führt mit ihm aus dem Tod herausrettenden Gotteshandeln zum Einbruch der eschatologischen basileia tou teou. Derjenige, der diese basileia in seinem Leben verkündet hat, führt sie in seinem Tod herbei.“[8]
c) der leidende Gottesknecht Jesaja 53
Ein weiterer alttestamentlicher Deutezusammenhang für das Verständnis des Todes Jesu ist das deuterojesajanische Gottesknechtslied Jes.53. Der „leidende Gerechte“, das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, scheint sehr der johanneischen Sprache verwandt. Es ist der Märtyrer, der um Gottes und der Menschen willen den Weg geht, der zum Tode führt. Stellvertretendes Leiden, die Übernahme fremden Geschicks durch den Knecht Gottes erscheint als eine Präfiguration des neutestamentlichen Bekenntnisses „Christus ist für uns gestorben!“ In seiner Auslegung des Gottesknechtsliedes schreibt Johannes Calvin:
„Christus war der Preis, der zur Abwehr der von uns verdienten Züchtigung gezahlt wurde. So wurde der Zorn Gottes gestillt, der mit Recht gegen uns entbrannt war. Friede wurde geschlossen durch den Mittler, so dass wir versöhnt sind. Daraus ist die allgemeine Lehre abzuleiten, dass wir umsonst mit Gott versöhnt werden, weil Christus den Preis unseres Friedens bezahlte. Zwar erkennt man das auch bei den Papisten, aber dann beschränkt man diese Lehre auf die Erbsünde, als ob es nach der Taufe keinen Raum für die Versöhnung aus Gnaden mehr gäbe, sondern der Mensch durch Verdienste der Heiligen und eigene Werke Gott genugtun müsse. Doch handelt der Prophet hier keineswegs nur von einem Teil der Erlösung, sondern bezieht sich auf das ganze Leben. Darum kann seine Lehre ohne Versündigung nicht eingeengt oder auf eine bestimmte Zeit beschränkt werden. Von hier aus ist es leicht, die von den Römischen erfundene Unterscheidung zwischen dem Erlaß der Strafe und der Schuld zu beseitigen: die Strafe, meinen sie, soll nur erlassen werden, wenn an ihre Stelle eine Genugtuung unsererseits tritt. Dagegen lehrt offenbar der Prophet, dass die Strafe für unsere Sünden auf Christus gelegt worden ist.“[9]
Für Johannes Calvin ist es ausgemacht, dass sich Jesaja 53 auf Christus bezieht, und es ist für ihn ebenso ausgemacht, dass Jes. 53 ein wichtiges Argument für die reformatorische Lehre des „sola gratia“ ist.
Was die Deutung des Kreuzestodes Jesu selbst angeht, äußert sich Calvin hier nicht. Der 2. Jesaja kennt den Fluchtod am Kreuz nicht. Es bleibt die Differenz zwischen dem Gott Israels und seinem Knecht. Es will scheinen, als sei Gott selbst nur mittelbar am Geschick dieses geplagten Menschen beteiligt, aber nicht so, dass ihn der Tod des Gerechten selber trifft bis ins Mark seiner Gottheit.
d) Christus, Hohepriester und Opfer zugleich – der Hebräerbrief
Für das abendländische Verständnis des Todes Jesu bestimmend ist die Opfertheologie geworden, wie sie vor allem im Hebräerbrief entfaltet wird. Es ist die Oper-Terminologie, die sich in der christlichen Kirche zur Deutung des Todes Jesu durchsetzen wird, und die auch das Verständnis des Abendmahls beherrscht. Das blutige Opfer der heidnischen Religion kommt – begründet durch das einmalige blutige Opfer Jesu am Kreuz – durch seine unblutige Widerholung allen Christen im Genuß des Heiligen Mahles zugute.
Christus aber, der als Hoher Priester der wirklichen Güter gekommen ist, ist durch das grössere und vollkommenere Zelt gegangen, das nicht von Menschenhand gemacht ist und also nicht zu dieser Schöpfung gehört.
Auch nicht mit dem Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blut ist er ein für alle Mal in das Heiligtum hineingegangen und hat ewige Erlösung erlangt.
Wenn nun schon das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer Kuh Verunreinigte, die damit besprengt werden, heiligt — zur Reinigung des Fleisches —,
um wie viel mehr wird dann das Blut Christi, der durch ewigen Geist sich selbst als makelloses Opfer Gott dargebracht hat, unser Gewissen von toten Werken reinigen und uns zum Dienst am lebendigen Gott bereitmachen!
Darum ist er Mittler eines neuen Bundes: Sein Tod sollte geschehen zur Befreiung von den Übertretungen aus der Zeit des ersten Bundes, damit die Berufenen die Verheissung des ewigen Erbes empfangen. (Hebr.9,11-15)
Der Opfergedanke beruht darauf, dass die verletzte Gottheit durch die Gabe des lebendigen (Blut) versöhnt wird. Die beleidigte Gottheit kann nur durch die Hingabe des Lebendigen besänftigt werden. Die Opfertiere nehmen dabei eine Stellvertreterrolle ein. Eigentlich müssten die Menschen selbst mit ihrem Blut für die Beleidigung der Gottheit einstehen. In der liturgischen Bewältigungszeremonie nehmen die Tiere den Platz der Menschen ein, agieren und sterben schließlich stellvertretend für die Menschen.
Der klassische alttestamentliche Text für das stellvertretende Opfer ist die Beschreibung der Opfer des Grossen Versöhnungstages (Jom Kippur). Zwei Schafböcke werden vor den Hohepriester geführt. Einer wird geschlachtet und sein Blut wird zur Sühne auf den Altar gegossen. Der andere wird vor den Hohepriester geführt:
Und Aaron soll beide Hände auf den Kopf des lebenden Bocks legen und über ihm alle Schuld der Israeliten und all ihre Vergehen bekennen, mit denen sie sich versündigt haben. Und er soll sie auf den Kopf des Bocks legen und ihn durch einen Mann, der bereitsteht, in die Wüste treiben lassen.
So soll der Bock all ihre Schuld mit sich forttragen in die Öde. Und der Mann soll den Bock in die Wüste treiben. (Lev. 16,21f.)
Das ist der sprichwörtliche „Sündenbock“, dem die Belastungen Israels zeichenhaft aufgelegt werden, ein christologisches Bild, das sich zur Deutung des Todes Jesu nahe legt. Es ist ein kultischer Deutezusammenhang, wie viele religiöse Deutezusammenhänge entweder mythische oder kultische Deutezusammenhänge sind. Kult ist eine Sprache der Religion. Kultische Sprache ist eine Möglichkeit, heilisgeschichtliche Zusammenhänge in gottesdienstlichem Rahmen verständlich zu machen. Der Zusammenhang des kultisch im Opfer vergossenen Blutes mit dem blutigen Kreuzestod Jesu ist evident.
Im Kontext des Neuen Testaments wird man sagen müssen, dass die Opferterminologie eine, aber doch nur eine Möglichkeit ist, den Tod Jesu theologisch angemessen zur Sprache zu bringen.
Die historisch erkennbare Kreuzigung des Jesus von Nazareth und seine im Glauben erkannte und erfahrene Auferweckung durch den lebendigen Gott eröffnet gerade auf dem Hintergrund der Überlieferungen des Volkes Israel unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten. Der leidende Gerechte steht neben dem von Gott verlassenen und letztlich von demselben Gott gerechtfertigten, der geopferte Hohepriester, der selber zum Opfer wird, steht neben dem Lamm, das geschlachtet wurde und dem nun Ehre und Macht und Hoheit und Preis und Gewalt zukommen.
3. Das klassische Verständnis des Todes Jesu bei Anselm von Canterbury
Mit dem Namen und mit der Theologie des Anselm von Canterbury verbindet sich die Deutung des Todes Jesu, die man gemeinhin als Satisfaktionstheologie bezeichnet. In seiner Schrift „Cur deus homo?“ (1094-1908) entfaltet Anselm die Lehre von der Satisfaction Gottes. Durch die Sünde ist das Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung – und vor allem zu dem von ihm geschaffenen Menschen - zerstört. Sünde tastet die Ehre Gottes an. Und die Ehre Gottes kann nicht anders wiederhergestellt werden, als dass eine entsprechende Strafe gezahlt wird:
„Also ist es notwendig, dass entweder die geraubte Ehre wiederhergestellt wird, oder Strafe folge. Sonst ist entweder Gott gegen sich selber nicht gerecht oder er ist zu beidem unfähig, was auch nur zu denken ein Frevel ist.“[10]
Daß Gott trotz dieser tiefen Verfehlung sich überhaupt mit dem Gedanken trägt, sich den Menschen wieder zuzuwenden, liegt für Anselm daran, dass Gott die beim Engelsturz verlorenen Engel durch Menschen ersetzen will. Das gelingt aber nicht, ohne dass für die Sünde der Menschen Genugtuung geleistet wird. Nach langen Gesprächsgängen kommt Anselm zu dem Schluß, dass wirkliche Sühne nicht der Mensch selber leisten kann, sondern nur der Gott-Mensch, der selber ohne Sünde ist, und der so die Sünde der Vielen auf sich nehmen kann.
„Der Kernpunkt der Frage war: warum Gott Mensch geworden ist, so dass er durch seinen Tod den Menschen rettete, da er es doch augenscheinlich auf andere Weise hätte tun können. Worauf du in deiner Antwort mit vielen und zwingenden Gründen gezeigt hast, dass die Wiederherstellung der menschlichen Natur nicht unterbleiben durfte und dass sie nicht geschehen konnte, wenn der Mensch nicht einlöste, was er Gott für die Sünde schuldig war. Diese Schuld war so groß, dass sie, obwohl sie nur der Mensch einlösen musste, es nur Gott konnte, so dass derselbe Mensch wie Gott war. Daher war es notwendig, dass Gott den Menschen in die Einheit der Person aufnahm, damit der, der der Natur nach einlösen musste und nicht konnte, der Person nach wäre, der es konnte. Ferner hast du aufgezeigt, dass jener Mensch, der Gott war, aus der Jungfrau und von der Person des Sohnes Gottes angenommen werden musste und wie er ohne Sünde aus der sündigen Masse angenommen werden konnte. Du hast aber aufs klarste bewiesen, dass das Leben dieses Menschen so erhaben, so kostbar sei, dass es hinreichen kann, zur Erlösung dessen, was für die Sünden der ganzen Welt geschuldet wird, und für noch unendlich mehr.“[11]
Und auf die Frage, warum Gott diesen Weg zur Erlösung der Menschen gehen musste, antwortet Anselm mit dem berühmten Satz: Nondum considerasti, quanti ponderis sit peccatum – du hast noch nicht erwogen, von welcher Schwere die Sünde ist.[12]
An der Satisfaktionlehre des Anselm von Canterbury überzeugt seine scheinbare Logik. Sünde und Sühne werden gegeneinander aufgewogen. Die Tat des Gottmenschen am Kreuz heilt die Wunde, die seit den ersten Tagen das Verhältnis der Menschen zu Gott vergiftet hat. Aber genau das, was über Generationen hinweg und auch quer durch die Konfessionen als schlüssig empfunden worden ist, ist auch die Schwäche dieses Entwurfes. Es hat den Eindruck, als sei es das Prinzip der Sühne, das hier das Handeln Gottes in Christus bestimmt. Es hat den Anschein als sei die Sünde der Motor der Geschichte, der das Handeln Gottes in der Geschichte überhaupt erst provoziert. Welche ethischen Folgen solche Sühne-Theologie nach sich zieht, ist nicht schwer zu erraten.
4. Die trinitarischen Schwierigkeiten der Rede vom Tode Jesu
Der Tod des Sohnes Gottes am Kreuz bleibt nicht ohne Folgen für Gott selbst. Der Tod des Sohnes Gottes berührt Gott selbst. Wenn Jesus stirbt, stirbt Gott. Die Gnostiker haben einen Ausweg aus diesem denkerischen Dilemma gefunden, indem sie Jesus von Gott im Moment seines Todes getrennt haben. Gottes Sohn stirbt – oder jemand, der so aussah wie Gottes Sohn, aber Gott selbst bleibt in seiner Majestät, in seiner Hoheit, in seiner Ewigkeit und seiner Unsterblichkeit unangetastet von dem, was auf Golgatha geschehen ist.
Die Frage „Was hat der Tod Jesu mit Gott zu tun?“ ist eine trinitarische Frage und eine Frage, die der christlichen Theologie aufgegeben bleibt. Was bedeutet der Tod des Sohnes Gottes für die metaphysischen Attribute Gottes? Was bedeutet der Tod Jesu für die Unsterblichkeit Gottes, für seine Barmherzigkeit, für seine Gnade, für seine Unbewegtheit? Oder umgekehrt: was bedeutet es, wenn der Tod, die Vernichtung allen Lebens in Gott selbst eingezeichnet ist? Der Tod Gottes steht zwischen Vater und Sohn. Der Tod Gottes berührt die Wirkung des Heiligen Geistes. Der Tod Gottes ist der Tod aller metaphysischen Bestimmungen.
Treffend formuliert Werner Thiede in seinem Buch „Der gekreuzigte Sinn“:
„Darum sollte theologisch nicht länger bezweifelt werden: Der Gott der Christenheit ist ein leidensfähiger Gott. Das muß klar sein gegenüber mancherlei metaphysischen oder religiösen, ab und an auch innerhalb des Christentums anzutreffenden Auffassungen, die Gottes Natur als wesenhaft leidensfrei, ja, leidensunfähig definieren, also als vollkommen erhaben gegenüber der endlichen, vergänglichen Welt. Richtig daran ist im Grunde das Gespür dafür, dass der Begriff Gottes den der Vollkommenheit einschließen muß. Übersehen wird hier indessen völlig, dass es zur Vollkommenheit der Liebe, die Gott ist, gehört, sich selbst zu transzendieren aufs Nichtgöttliche, Unvollkommene hin – mit allen schmerzlichen Konsequenzen des Sich-Einlassens auf dieses Andere.“[13]
Gott und Tod sind in der Geschichte der Liebe Gottes aufgehoben. Wer Gott und den Tod nicht zusammen sieht, der redet nicht von dem lebendigen Gott. Wer den Tod aus Gott selbst ausblendet, hat von christlichem Glauben und christlicher Theologie nichts verstanden. Im Kreuz Jesu ist das Undenkbare Wirklichkeit geworden. Ganz vereinzelt finden sich in der christlichen Tradition Spuren dieser Erkenntnis.
O große Not! Gott selbst ist tot,
Am Kreuz ist er gestorben,
Hat dadurch das Himmelreich
Uns aus Lieb' erworben.
Johann Rist 1741
Sachgerecht vom Tode Jesu am Kreuz reden heißt: Vom Tode Gottes reden. Das Kreuz Jesu verändert die Rede von Gott. Die Auferweckung des Gekreuzigten macht deutlich, dass der Tod Jesu nicht das Ende des Erwählten Gottes ist, nicht das Ende Gottes selbst. Dennoch kann man nach Karfreitag und Ostern nie wieder so von Gott reden, wie es die griechischen Philosophen getan haben. Nie wieder kann man Gott mit den klassischen Gottesattributen beschreiben: unendlich, unnahbar, unverwundbar, unendlich, unweltlich, unbeschreiblich.
Seit Karfreitag und Ostern kann man Gott nur mit seiner Geschichte erzählen und erinnern: mit dem Leiden, mit dem Kreuz aber auch mit dem Ostermorgen. Das Kreuz ist in die Trinität eingezeichnet. Das Kreuz ist die Krise aller allgemeinen Gottesbegriffe, aller natürlichen und gefühlten Theologien. Von Gott reden heißt: Vom Kreuz Christi reden. Es heißt: von der Jahrhunderte langen Judenverfolgung und Judenvernichtung reden, es heißt: von Auschwitz reden und von Treblinka, von Srebrenica.
Immer wieder wird in diesem Zusammenhang ein Abschnitt aus dem Buch „Nacht“ des jüdischen Nobelpreisträgers Elie Wiesel zitiert. Auch wenn es gewiß nicht die Absicht des Juden Wiesel war, christologisch zu reden. Man kann sich der christologischen Dimension seiner Erzählung nur schwer entziehen.
"Wo ist Gott?
Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich.
Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgen bedeckte es ganz.
Diesmal weigerte sich der Lagerkapo (Häftling, der für „schmutzige Arbeit" Vergünstigungen erhielt), als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle.
Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt. „Es lebe die Freiheit!" riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg. "Wo ist Gott, wo ist er?" fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter. „Mützen ab!" brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. „Mützen auf!" Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch.
Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mußten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt, seine Zunge war rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: „wo ist Gott?" Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: „Wo ist er? Dort – dort hängt er am Galgen ..."
An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam.“[14]
Am Kreuz Jesu sind Gott und der Tod unlöslich beieinander (Michael Welker). Ostern ist die Auferweckung des Gekreuzigten, das Ja Gottes zum Leben gegen den selbst erfahrenen Tod. Ostern ist der Vorschein dessen, dass Gott sein wird alles in allen (1.Kor.15,28)
5. Opfer Gottes oder Gott für uns
Gott muß durch Opfer besänftigt werden. Das ist allgemein religiöse Erkenntnis, ein Deuterahmen, der das christliche Verständnis des Todes Jesu immer wieder bestimmt hat und noch bestimmt. Der Zorn Gottes verlangt Opfer, damit Gott wieder gnädig gestimmt wird. Das Vergehen gegen Gott will Blut sehen. Nur wenn Blut fließt, ist Gott geneigt, sich den Menschen wieder zuzuwenden. Das Christentum bietet den Extremfall: Nur wenn Gottes Sohn sein Blut opfert, wird Gott besänftigt. Gott will Blut sehen – zur Not das Blut seines eigenen Sohnes. Gott ist ein blutrünstiger Gott. Nur wenn Blut fließt, gibt es Gnade. Nur wenn der Sohn Gottes sein Leben lässt, haben die, die dem Sohn Gottes folgen, eine Chance. Blut ist das Mittel der Versöhnung. Blut ist ein ganz besonderer Saft (Goethe, Faust). Und dieses Blut muss notwendig fließen, damit die Welt in Ordnung kommt.
„Ich brauche es nicht, dass jemand für mich stirbt!“ – sagt die junge Lehrerin in einem Gespräch, in dem es um die Bedeutung Jesu von Nazareth geht. Für sie ist es eine Kränkung der eigenen Person und auch der eigenen moralischen Qualität, dass man ihr sagt: du bist nur gut, wenn du anerkennst, dass ein anderer für dich gestorben ist. Die Lehrerin spricht nur aus, was die meisten unserer westeuropäischen Zeitgenossen denken: „Ich bin OK – Du bist OK“. In meine Beziehungen brauche ich keine Einmischung eines Dritten. Die Karfreitagsfrömmigkeit der Evangelischen Kirche hat nur dazu geführt, dass ich ein schlechtes Gewissen bekommen habe, dass man mir eingeredet hat, ich habe Jesus verletzt, zu seiner Kreuzigung beigetragen:
Ich bin’s, ich sollte büßen,
an Händen und an Füßen
gebunden in der Höll.
Die Geißeln und die Banden,
und was du ausgestanden,
das hat verdienet meine Seel.
Paul Gerhardt 1647 (EG 84,3)
Aber ich war nicht in Golgotha. Ich habe nicht im Hof der Burg Antonia gestanden und gerufen „kreuziget ihn!“ Das Leben Jesu ist längst vergangenes Leben. Sein Tod war Tod vor meiner Zeit. Zwischen ihm und mir liegt der „garstige Graben“ der Geschichte, von dem Lessing spricht. Was zieht mich in diesen Tod? Was verbindet mich mit diesem Leiden? Was geht mich die Schuld der Hohepriester an, was die Schuld des Pilatus, was die Schuld derer, die „Kreuzige ihn!“ geschrieen haben?
Die Frage ist: Braucht Gott Blut, um mit sich selbst ins Reine zu kommen? Und die Zusatzfrage schließt sich gleich an: Brauchen die Menschen Blutopfer, um sich selbst behaupten zu können? Befürworter der Todesstrafe argumentieren in diese Richtung. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24) „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschenhand vergossen werden“ (Gen.9,6). Im alttestamentlichen Verständnis ist Blut der Sitz des Lebens. Wer Blut vergießt, der zerstört Leben. Wer Leben zerstört, hat das durch sein eigenes Blut zu sühnen. Schon das Alte Testament kennt den Ersatz, das Tieropfer. Aber immer noch heißt es: Leben gegen Leben, Blut für Blut. Muss Gott mit Blut für die Sünde der Menschen versöhnt werden? Ist die Verletzung, die Gott durch die Sünder der Menschheit und jedes einzelnen Menschen davongetragen hat, so stark, dass er das vergossene Blut braucht, um sich der Welt und den Menschen wieder zuwenden zu können?
6. Versöhnung
In der Sprache der Theologie bedeutet „Versöhnung“, dass die schuldbeladene Geschichte des Menschen mit Gott in Ordnung kommt. Versöhnung bedeutet, dass trotz allem, was gewesen ist, sich ein neuer Anfang eröffnet, eine heilvolle Perspektive ersichtlich wird. Kein Streit mehr zwischen Gott und Mensch, kein schlechtes Gewissen auf Seiten des Menschen, keine Angst vor der Zukunft und keine Angst mehr vor dem Tod, keine Furcht vor den Folgen der vergangenen Schuld. Keine Furcht davor, dass mich die Geschichte versäumter Gelegenheiten hinterrücks einholt.
Leben in der Perspektive der Zukunft, Leben auf Hoffnung hin, auf das unbeschädigte Leben in dem alles zu seinem Recht kommt und alle das ihre empfangen. Leben auf Barmherzigkeit hin. Leben aus Gnade, die nicht Herablassung bedeutet, sondern Leben, wie es von Anbeginn der Zeit an gewollt war. „An jenem Tag werdet ihr mich nichts mehr fragen“ sagt Jesus – (Joh. 16,23). Das mag das Ziel des Lebens sein: Das Ziel individuellen Lebens und zugleich das Ziel des gemeinschaftlichen, kollektiven Lebens.
Cilliers Breytenbach hat in seiner Studie „Versöhnung – eine Studie zur paulinischen Soteriologie“ herausgearbeitet, dass bei Paulus weniger der Opfergedanke als vielmehr das Versöhnungegeschehen Gottes im Mittelpunkt seiner Christologie steht. Gott bringt das, was sich getrennt hat, wieder zusammen. Er schließt den Graben zwischen dem Menschen , der sich von ihm entfernt hat und sich selbst. Gott tut das nicht, weil er es brauchte, noch gar weil er Blut brauchte. Nicht Gott muss versöhnt werden, sondern der von ihm getrennte Mensch, der sich zudem dieser Versöhnung mit allen Mitteln widersetzt. „Denn ich bin gewiss: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und unter uns das Wort von der Versöhnung aufgerichtet hat.“ (2.Kor. 5,19).
In der Geschichte des Jesus von Nazareth identifiziert sich der lebendige Gott mit dem von ihm entfernten Menschen. Er zieht damit alles Verkehrte, alle Bosheit und Gewalt auf sich: „Der von keiner Sünde wusste, wurde von uns zur Sünde gemacht!“ (2.Kor.5,21). Die Last, die kein Mensch länger tragen konnte, hat Gott selbst an seiner Stelle auf sich genommen: „Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert wäre.“ (Jes.53)
Die causa crucis ist nicht die Vergeltungssucht Gottes – es ist die abgrundtiefe Verkehrtheit der Welt. Nondum considerasti quanti ponderis sit peccatum!
7. Aus Liebe will mein Heiland sterben
Er hat uns allen wohlgetan,
Den Blinden gab er das Gesicht,
Die Lahmen macht er gehend,
Er sagt uns seines Vaters Wort,
Er trieb die Teufel fort,
Betrübte hat er aufgericht',
Er nahm die Sünder auf und an.
Sonst hat mein Jesus nichts getan.
Aus Liebe,
Aus Liebe will mein Heiland sterben,
Von einer Sünde weiß er nichts.
Dass das ewige Verderben
Und die Strafe des Gerichts
Nicht auf meiner Seele bliebe.
Mit diesem Rezitativ und dieser Arie deutet Johann Sebastian Bach in seiner Matthäuspassion den Tod Jesu als Liebesbeweis Gottes für die Welt, die sich selbst in den Abgrund gebracht hat. Es gibt keinen äußeren Grund für Gott, die Welt nicht zum Teufel gehen zu lassen – sie eigentlich nur sich selber zu überlassen. Es gibt keinen äußeren Grund, dass Gott sich selbst bis zur Selbstaufgabe in die inneren Angelegenheiten der Welt einmischt, sich von ihr schlagen, verspotten, verhöhnen und kreuzigen lässt als nur die Liebe, die Gott vor aller Zeit in sich selber war als Vater, Sohn und Geist, die sich entäußerte, als Gott die Welt ins Leben rief, als er sich sein Volk erwählte und bewahrte, als er selber zur Welt kam – nicht als Herr, sondern als Knecht, ganz unten im Stall bei Hirten und Schafen. Und er geht durch das Leben – der allen Anspruch auf Herrschaft geltend machen könnte – als jüdisches Kind, als jüdischer Mensch. Er geht zu denen, die im Lichte stehen, aber vor allem sucht er die Schattenmenschen, die Blinden und Aussätzigen, die sich selbst durch ihre Schuld außerhalb der Gesellschaft gestellt haben.
Um Gottes Willen gerät er in den Konflikt mit den Gottesgelehrten. Der Streit um den Tempel wird zum Streit um sein Leben. „Wir sollen nicht, dass dieser über uns herrsche!“ – sagen die Knechte im Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Lukas 19,14). Aber er geht seinen Weg weiter, bis sich die jüdischen und die römischen Autoritäten in Jerusalem einig sind, ihn aus dem Weg zu schaffen. Man überlässt ihn der folternden Soldateska und lässt ihn den Sklaven- und Rebellentod sterben. Das ist nicht der Wille Gottes, dass es so geschieht – das ist das wahre Gesicht er Welt du der Menschen. So sind sie, dass sie sich selbst an Gott austoben. Sie sind schranken- und grenzenlos! Und Christus geht diesen Weg – aus Liebe. Auch in der tiefsten Tief zeigt er, wer Gott in Wirklichkeit ist: Liebe. Es gibt keinen Neuanfang durch Gewalt – der wird auch wieder in Gewalt enden. Der Neuanfang Gottes mit der Welt beginnt und endet in der Liebe. Und wer hinter der Liebe Gottes eine andere Macht, eine andere Absicht vermutet, der entfernt sich mehr oder weniger vom biblischen Zeugnis.
Besonders deutlich wird diese Sicht auf die Passion Jesu in der Deutung des Johannesevangelium, das von Anfang an deutlich macht, dass hier der Herr es ist, der zum Kreuz geht: vor ihm weichen die Soldaten zurück und fallen zu Boden (Johannes 18,6), im Verhör wird die Unschuld Jesu erwiesen (Johannes 18,23), der Dialog mit Pilatus erweist die Hoheit Jesu (Johannes 18,36f.), auch Pilatus findet keine Schuld an ihm (Johannes 18,38), die Dornenkrone ist die Persiflage der Königskrone (Johannes 19,2), Jesus trägt seinen Kreuzesbalken allein (Johannes 19,17), der Kreuzes Titulus offenbart, wer Jesus ist (Johannes 19,19), und natürlich das letzte Wort Jesu „Es ist vollbracht.“ (Johannes 19,30).
Trotz aller Grausamkeit ist es eben doch kein blindes Schicksal, das Jesus widerfährt. Der Herr ist es, der zum Kreuz geht. Von niemandem gezwungen, von keinem Menschen oder von keiner Situation genötigt. Er geht zum Kreuz: aus Liebe! Aus keinem anderen Grund! Von Ostern her wird deutlich, dass der Weg Jesu zum Kreuz der Weg der Versöhnung Gottes mit der Welt gewesen ist. Ein Weg, der keine menschliche Tiefe ausspart, der selbst den Tod durchschreitet, damit die Menschen auch im Tode nicht gottverlassen sind.
Treffend fasst Wilfried Härle die Bedeutung des Todes Jesu zusammen, wenn er schreibt:
„Die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi besteht darin, dass von Gott her Vergebung, Versöhnung, Befreiung, neues Leben zugesagt und gestiftet wird. Das erreicht dort sein Ziel und kommt zur Wirkung, wo Menschen ihren Glauben, d. h. ihr Vertrauen im Leben und im Sterben auf den Gott richten, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat und sich ihnen so zuwendet.
Die menschliche Sünde und Bosheit, die die von Gott gegebene heilsame Ordnung des Lebens verletzt und zerstört, ist eine Realität, die verarbeitet und durchlitten werden muss, wenn das Böse nicht bagatellisiert oder verdrängt werden soll. Das Kreuz Jesu Christi steht für die ‚Arbeit’, und ‚Mühe’ die wir Gott mit unseren Sünden machen, die Gott um seinetwillen tilgt und ihrer nicht mehr gedenkt (Jes 43,24f.). Und damit steht das Kreuz Jesu Christi für die göttliche Möglichkeit und Wirklichkeit, dass Böses mit Gutem vergolten werden kann, „damit wir Frieden hätten“ (Jes 53,5).“[15]
Philipper 2,6-11
6 Er, der Gott in allem gleich war
und auf einer Stufe mit ihm stand,
nutzte seine Macht nicht zu seinem eigenen Vorteil aus.
7 Im Gegenteil: Er verzichtete auf alle seine Vorrechte
und stellte sich auf dieselbe Stufe wie ein Diener.
Er wurde einer von uns -
ein Mensch wie andere Menschen.
8 Aber er erniedrigte sich ´noch mehr`:
Im Gehorsam gegenüber Gott nahm er sogar den Tod auf sich;
er starb am Kreuz ´wie ein Verbrecher`.
9 Deshalb hat Gott ihn auch so unvergleichlich hoch erhöht
und hat ihm ´als Ehrentitel` den Namen gegeben,
der bedeutender ist als jeder andere Name.
10 Und weil Jesus diesen Namen trägt,
werden sich einmal alle vor ihm auf die Knie werfen,
alle, die im Himmel, auf der Erde und unter der Erde sind.
11 Alle werden anerkennen,
dass Jesus Christus der Herr ist,
und werden damit Gott, dem Vater, die Ehre geben.
(Neue Genfer Bibelübersetzung)
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1. Burkhard Müller, Rundfunkandacht am 10.2.2009 WDR 5, http://www.chrismon-rheinland.de/cpr/docs/mueller_andachten.pdf
[2]. Andre Schwarz-Bart, Der letzte der Gerechten, Berlin 1963, S.368f.
[3]. Wolfgang Bauer, Irmtraud Dümotz, Sergius Golowin, Lexikon der Symbole, Wiesbaden, 21.Auflage 2006, S.203f.
[4]. Martin Hengel, Mors turpissima crucis in: Rechtfertigung FS Käsemann, Tübingen 1976, S.125-184
[5]. Heinrich Schlier, Der Brief an die Galater, KEK NT , Göttingen 5.Auflage 1971, S.137.
[6]. Claus Westermann, Ausgewählte Psalmen, Göttingen 1984, S.64.
[7]. Hartmut Gese, Psalm 22 und das Neue Testament in: Hartmut Gese, Vom Sinai zum Zion, Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie, München 1973, S.192.
[8]. Gese ebd. S.196.
[9] Johannes Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift, 7. Band, Der Prophet Jesaja, 2.Hälfte, S.287f.
10. Anselm von Canterbury, Cur deus homo?, I, 14.
[11]. Anselm ebd. II, 18 S.143, Summa quaestionis fuit cur deus homo factus sit, ut per mortem suam salvaret hominem, cum hoc alio modo facere portuisse videretur. Ad quod tu multis et necessariis rationibus respondens ostendisti restaurationem humanae naturae non debuisse remanere, nec potuisse fieri, nisi solveret homo, quod deo pro peccato debeat. Quod debitum tantum erat, ut illud solvere, cum non deberet nisi homo, non posset nisi deus, ita ut idem esset homo qui deus. Unde necesse erat, ut deus hominem assumeret in unitatem personae, quatenus qui in natura solvere debebat et non poterat, in persona esset qui posset. Deinde quia de virgine et a persona filii die esset assumendus homo ille qui deus esset, et quomodo sine peccato de
[12]. Anselm ebd. I,21 S.75
[13].Werner Thiede, der gekreuzigte Sinn – eine trinitarische Theodizee, Gütersloh 2007, S.171.
[14].Elie Wiesel, Die Nacht zu begraben ..., 1986, (Seite 93/94)
15. Wilfried Härle, „...gestorben für unsere Sünden“ Die Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi, (2007) http://www.w-haerle.de/Gestorben%20fuer%20unsere%20Suende.pdf
Domprediger Pfr. Martin Filitz, Halle, den 28.August 2010