Wie konnte das geschehen?
Predigt zu Johannes 19,16-30, von Kathrin Oxen
Immer wieder rutscht die Last, nach hinten, nach unten. Die Kanten drücken sich in das Fleisch. Die Rundung der Schulter bietet keinen Halt für das gespaltene Holz. Alle paar Schritte muß sie neu geschultert werden. Aber die Bewegung darf das Gehen nicht unterbrechen, denn es geht noch weiter den Berg hinauf. Nur nicht stehen bleiben. Hinter dir geht dein Vater, schweigend. Er hat dich hierher gebracht. Ob er es wollte, was er will, was du sollst, was du dort sollst, auf dem Berg? Denk nicht, frag lieber nicht, Isaak, geh einfach weiter.
Immer wieder rutscht die Last. Sie muß neu geschultert werden. Sie unterbricht die Gedanken, aber nicht das Gehen, immer weiter den Berg hinauf. Gehen unter der Last, gebeugt, die Kante des Holzes in der Rundung der Schulter. Es ist keiner da, der dir etwas abnimmt. Du gehst allein. Dein Vater schweigt.
Sie übernahmen nun Jesus.
Er trug sein Kreuz selber und ging hinaus zu der sogenannten Schädelstätte,
die auf Hebräisch Golgota heisst.
Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere, auf jeder Seite einen, in der Mitte aber Jesus.
Es ist nichts geschehen. Heute war da keine Stimme vom Himmel, die Einhalt geboten hat. Das Holz auf den Berg getragen, die Vorbereitungen für die Hinrichtung abgeschlossen, die Anordnung der Herrschenden befolgt. Auf die Vorbereitung folgt die Durchführung. Militärische Präzision, was befohlen ist, wird getan. Er kommt nicht davon. Keine Unterbrechung, kein Einspruch. Der Vater schweigt.
Pilatus liess auch eine Tafel beschriften und sie oben am Kreuz anbringen.
Darauf stand geschrieben: Jesus von Nazaret, der König der Juden.
Diese Inschrift nun lasen viele Juden, denn die Stelle, wo Jesus gekreuzigt wurde,
lag nahe bei der Stadt. Sie war in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache verfasst.
Da sagten die Hohen Priester der Juden zu Pilatus:
Schreibe nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden.
Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
Was Pilatus geschrieben hat, steht da. Heute noch deutlicher als seinerzeit. Jesus von Nazaret, der König der Juden. Ein König am Kreuz, ein verspotteter, verhöhnter, verurteilter, hingerichteter König. Der König der Verspotteten, Verhöhnten, Verurteilten, Hingerichteten. Der König der Juden. Jesus von Nazaret erlebt, was seinem Volk bevorsteht. Die vielen Männer, die Frauen, die Kinder, die Kante des Holzes in der Rundung der Schulter, den Berg hinauf getrieben. Keine Unterbrechung, militärische Präzision in der Vorbereitung und Durchführung. Die Kanten, die unerbittlichen Rechtecke, aus denen man die Lager baut. Was befohlen ist, wird getan, die Anordnung der Herrschenden befolgt. Keiner kommt davon. Keine Unterbrechung, kein Einspruch.
Mit den Konfirmanden habe ich in der vergangenen Woche eines dieser unerbittlichen Rechtecke besucht, das Konzentrationslager Neuengamme. Die Fragen, die sie nach dem Besuch stellten, sind sehr einfach und doch nicht zu beantworten.
Wie konnte das geschehen? Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an? Hatten sie kein Mitleid? Die haben doch auch Kinder gehabt, wie konnten sie den Kindern so etwas antun? Warum hat niemand etwas dagegen gesagt?
Ich war dankbar für diese Fragen, für die Schlichtheit, mit der sie gestellt werden, für die Fragen der Mädchen und Jungen, für den Einspruch derer, die die Geschichte der Verspottung und Verhöhnung, der Verurteilung und Hinrichtung zum ersten Mal hören.
Der Einspruch der neuen Generation kann nichts ungeschehen machen. Er kommt zu spät - und ist doch an der Zeit. Immer noch gibt es welche, die leugnen wollen, was eingegraben ist in die Geschichte der Menschheit: Die Verspottung und Verhöhnung, die Verurteilung und Hinrichtung des jüdischen Volkes.
Immer noch gibt es welche, die beten wollen für die Juden, daß sie in Jesus von Nazaret den Christus erkennen. Sie kennen ihn doch. Er ist einer von ihnen, er ist ihr König und sie sind in Spott und Hohn, in Leiden und Tod sein Volk geworden. Es gibt nichts, wozu wir sie aufzufordern hätten. Was wir mit ihnen gemeinsam zu tragen haben, ist das Schweigen. Keine Unterbrechung, kein Einspruch. Die harte Kante im Fleisch, die Frage, die bis an die Knochen geht. Sie geht an die Knochen des Glaubens an die Menschen. Und sie geht an die Knochen des Glaubens an Gott. Wie konnte das geschehen? Der Vater schweigt.
Nachdem nun die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen Teil, dazu das Untergewand.
Das Untergewand aber war ohne Naht, von oben an am Stück gewoben.
Da sagten sie zueinander: Wir wollen es nicht zerreissen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift in Erfüllung gehen, die sagt:
Sie haben meine Kleider unter sich verteilt, und über mein Gewand haben sie das Los geworfen. Das also taten die Soldaten.
Keine Unterbrechung, kein Einspruch. Und die Soldaten tun, was Soldaten tun. Sie nehmen sich, was noch zu brauchen ist. Eine Logik der Verwertung, die Menschen entblößt. Sie entblößt die Opfer und sie entblößt auch die Täter. Wie schnell die Kleider der Zivilisation ausgezogen sind. Was bleibt, sind Berge von Kleidern, von Schuhen, von Haar. Was bleibt, ist die nackte Gewalt und der nackte Tod. Eine Nacktheit, die uns frieren lässt angesichts dessen, was Menschen einander antun. Es ist keiner gekommen, der sich dieser Nacktheit erbarmt und die Nackten fürsorglich umhüllt. Jesus von Nazaret stirbt diesen nackten Tod.
Beim Kreuz Jesu aber standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria,
die Frau des Klopas, und Maria von Magdala.
Als nun Jesus die Mutter und den Jünger, den er liebte, neben ihr stehen sieht,
sagt er zur Mutter: Frau, da ist dein Sohn.
Dann sagt er zum Jünger: Da ist deine Mutter.
Und von jener Stunde an nahm der Jünger sie zu sich.
Der Schmerz der verwaisten Mütter und der Schmerz der verwaisten Kinder. Harte Kanten in sehr weichem Fleisch. Eine Last, die aus dem Gleichgewicht bringt. Eine Last, die das Weitergehen schwer macht. Harte Kanten in weichem Fleisch. Damals, auf dem anderen Berg, ein Vater, der das Loslassen üben sollte. Die Zumutung, sich vom liebsten trennen zu müssen, bis an die Grenze dessen, was ein Mensch ertragen kann.
Auf diesem Berg, neben dem Kreuz, die Mutter. Ein Sohn, der sie sein Leben lang das Loslassen üben ließ. Der Sohn, der so schmerzhaft schroff und abweisend sein konnte, dessen Zuwendung anderen immer mehr galt als ihr. Nun wird er sterben. Die Kanten des Holzes sind noch eingedrückt in seine Schultern. Keine Unterbrechung, kein Einspruch, das Schweigen und der nackte Tod. Und in diesem Augenblick ein Moment der Zuwendung. Obwohl, er bleibt sich treu. Seine Zuwendung fordert sie auf, sich von ihm abzuwenden, einem anderen zu.
Sie sind aneinander gewiesen, die Mutter Jesu und der Jünger, den Jesus liebte. Wie sie dort stehen, wie sie einander erkennen. Sie sind verbunden in Liebe zu Jesus und getrennt durch die unterschiedliche Gestalt ihrer Liebe. Jesus ist zwischen ihnen, er verbindet und trennt.
Jesus von Nazaret, den sie den Christus nennen werden, geboren von einer jüdischen Mutter. Sie sind und sie bleiben aneinander gewiesen, Juden und Christen. Und sie spüren die gleichen harten Kanten in ihrem weichen Fleisch. Den Schmerz über das Schweigen des Vaters. Die Versuchung, Liebe nach ihrem Ursprung zu unterscheiden, sie zu begründen oder verdienen zu wollen, anstatt sie sein zu lassen, wie alle Liebe ist: bedingungslos und rätselhaft und stark wie der Tod.
Die Unterbrechung, der Einspruch gegen alle gegenseitige Verspottung und Verurteilung kommt von dem, der das Holz den Berg hinaufgetragen hat, dem geliebten Sohn, dem großen Liebenden. Sie können weitergehen, voller Liebe und voller Schmerz und doch von einer Last befreit.
Er bleibt. Ihm nimmt keiner etwas ab. Der Vater schweigt.
Danach spricht Jesus im Wissen, dass schon alles vollbracht ist:
Mich dürstet! So sollte die Schrift an ihr Ziel kommen.
Ein Gefäss voll Essig stand da, und so tränkten sie einen Schwamm mit Essig,
steckten ihn auf ein Ysoprohr und führten ihn zu seinem Mund.
Als Jesus nun den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht.
Und er neigte das Haupt und verschied.
Amen.
Kathrin Oxen, Bützow, 10. April 2011