„(…) ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägypten gewesen seid.“

Bibelarbeit und Andacht zu Ex 23,9

Flüchtlinge 1945 © Wikimedia / Bundesarchiv

Zum Thema "Flucht und Migration im jüdisch-christlichen Kontext" für Kirchenvorstände und Gemeinde-Gruppen.

„Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir an die Kehle. Ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen.“ (Ps 69,2 u. 3b)

Woran denken Sie bei diesen Psalm-Versen? Viele von uns bringen diesen Gebetsschrei in Zusammenhang mit den Bootsflüchtlingen im Mittelmeer, die sich in Lebensgefahr begeben, getrieben durch die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa

Täglich bedrängen uns die Nachrichten über verzweifelte Menschen. 60 Millionen sind derzeit weltweit auf der Flucht, ein Bruchteil davon gelangt nach Deutschland. Wir wissen, dass nicht alle, die zu uns kommen, aufgenommen werden können. Doch auch wenn uns die Nachrichten anderes suggerieren: Die Flüchtlingskrisen, die Kämpfe um Leben und Tod, finden nicht nur auf dem Mittelmeer statt – sondern auch in Syrien, in Afghanistan, im Irak, Somalia, Eritrea, in Zentralafrika… In Europa gibt es einerseits großes Bemühen, sich dieser weltweiten humanitären Katstrophen anzunehmen und gerechte Regelungen und Verteilungsschlüssel zu finden. Andererseits beobachten wir in vielen Ländern eine Politik der Abschottung, in der es darum geht, die Flüchtlinge möglichst schnell dahin zu schicken, wo sie hergekommen sind. Grenzen und Stacheldrähte werden hochgezogen, nach dem Motto „unser Boot ist voll.“

Immer wieder mischt sich Angst und Fremdenfeindlichkeit in die Argumentationen gegen humanitäre Hilfe. In dieser Zeit sind Kirchengemeinden gefragt: Welche diakonischen Hilfeleistungen können wir erbringen? Was können wir konkret tun? Und: Sind wir bereit, die kulturelle Herausforderung für unsere Gemeinden anzunehmen?

Heute möchte ich der Frage nachgehen, welchen biblischen Begründungszusammenhang es für unseren Umgang mit „den Fremden“ – oder wie es in der hebräischen Bibel heißt „dem Fremdling“ (hebräisch: ger) – gibt.1

Zunächst: Migration im Sinne von Ein-, Aus- und Weiterwanderung, Mobilität, Flucht (mit unterschiedlichen Ursachen) gehört zum Menschsein dazu. Abraham und Sara (Gen 12) verlassen auf Gottes Verheißung hin ihren Herkunftsort Haran und ziehen nach Kanaan, wo sie wiederum als Wirtschaftsflüchtlinge aufbrechen nach Ägypten. In eben jenem Land waren schreckliche Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Die Israeliten, die dort als Sklaven arbeiten mussten, hatten darunter sehr zu leiden. Deshalb führte Mose das Volk Israel aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit des „gelobten Landes.“

Es ist diese Grunderfahrung und die über alle Generationen bis heute wach gehaltene Erinnerung, die in der jüdischen Tradition zu einem besonderen Umgang mit den Fremdlingen im eigenen Land geführt hat. Im 1. Gebot (Ex 20,2) gehört die Befreiungstat hinein in die Selbstbeschreibung Gottes: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ Aus der Beziehung des befreienden und erwählenden Gottes mit einem befreiten und zur Freiheit berufenen Menschen begründet sich zum einen das Gebot, keine anderen Götter zu verehren. Zum anderen leitet sich daraus die Achtung der Bedürftigkeit des Anderen ab. Im Sabbatgebot wird „auch der Fremdling, der in deinen Toren ist“ in die Sabbatruhe miteinbezogen, wiederum mit der Begründung, dass Israel aus Ägypten herausgeführt wurde (Dtn 5,15 – hier noch ausführlicher als in Ex 20,10).

„Der Fremdling, der in deinen Toren ist“ begegnet im Alten Testament als feststehende Redewendung. Die Tore sind der Schutz für das Dorf und die Stadt. Tore sind Orte, an denen in Israel Recht gesprochen wurde. Will sagen: Auch die Fremden brauchen einen Rechts- und Schutzstatus. Häufig werden dabei die Fremdlinge in einem Atemzug genannt mit Witwen und Waisen, eben jenen Gruppen, denen aufgrund ihrer ungesicherten Existenz eine besondere Fürsorge zukommen soll. Im 5. Buch Mose wird ebenso geboten, allen drei Gruppen eine Solidaritätsgabe von der Ernte zu überlassen (Dtn 14,28f.) und sie an der gemeinsamen Freude beim Feiern der großen religiösen Feste teilhaben zu lassen (Dtn 16,11 ff.).

Es sind eben jene humanen Sozialgesetze, die die Moabiterin Rut dazu veranlasst haben, als Migrantin ihrer Schwiegermutter Noomi nach Israel zu folgen. Sie bekommt dort, was sie zum Überleben braucht: Aufnahme in eine soziale Volksgemeinschaft, männlichen Schutz, tägliche Nahrung. Nicht zufällig wird die Ausländerin Rut im Stammbaum Jesu genannt (Mt 1,5). Jesus selbst war wiederum zeitlebens auf Wanderschaft. Einer Legende zufolge musste er schon als Säugling um sein Leben fürchten. Deshalb flüchteten seine Eltern mit ihm nach Ägypten (Mt 2,13ff.).

Jesus beantwortet die Frage eines Schriftgelehrten nach dem „ewigen Leben“ mit der Erzählung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25 ff.). Die Pointe, dass eben gerade der Fremde dem unter die Räuber gefallenen zum Nächsten wird, erläutert erzählerisch, was das Doppelgebot der Liebe (Lev 19,18/Dtn 6,5/Lk 10,27) ergänzt durch die Achtung des Fremden (Lev 19,34) im Kern meint: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ übersetzt Buber/Rosenzweig so: „halte lieb deinen Genossen, dir gleich!“2 Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas sagt zugespitzt: „Liebe deinen Nächsten – dies alles bist du selbst.“3 Wir sollen also daran erinnert werden, dass der Nächste, ob Freund oder Feind, jedem von uns wesensgleich ist.

Der neben mir schuldig geworden ist, er ist wie ich. Die Verräterin – ich bin es. Der/die Fremde – ich bin das. Ich bin selbst Fremdling gewesen.

In der christlichen Interpretation wird fälschlicherweise angenommen, dass man den Fremden nur in dem Maße lieben kann, wie man auch sich selbst liebt – frei nach dem Motto: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Aus der jüdischen Tradition lernen wir aber darüber hinaus: Der eigentliche Maßstab ist, wenn wir erkennen, wieviel der Fremde und ich gemeinsam haben – und zwar sowohl liebenswerte Seiten als auch Abgründe. Der Umgang mit dem Fremdling wird folglich nicht begründet mit einem allgemeinen humanitären Verständnis (auch wenn natürlich die Würde jedes Menschen unantastbar ist), sondern mit der kollektiven Erinnerung, die zugleich meine Geschichte ist: Wir waren selbst Fremdlinge und deshalb wissen wir um das Herz der Fremdlinge.

Wieviel Fremdling-Erfahrung steckt in uns, die wir nicht aus Ägypten herausgeführt wurden und die wir nicht über eine Erinnerungskultur wie der jüdischen verfügen? Bei jeder Schabbat-Feier wird an den Exodus erinnert, an die Leiden und Hoffnungen der Väter und Mütter.

Und bei uns? Wenn wir in unseren Kirchengemeinden herumfragen, wer selbst oder in seiner Familie Migrations- oder Fluchterfahrungen gemacht hat, machen wir eine erstaunliche Entdeckung. Hunderttausende haben in früheren Jahrhunderten (z.B. Glaubensflüchtlinge im 16. Jhd.) oder im letzten Jahrhundert aufgrund des 2. Weltkriegs freiwillig und noch häufiger gezwungenermaßen durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat verlassen. Sie wurden mit Argwohn betrachtet, machten gute und schlechte Erfahrungen. Die meisten von ihnen sind längst nicht mehr „Gäste und Fremdlinge“ (Eph 2,19).

Es steht uns gut an, eine Erinnerungskultur, wie es uns die jüdische Tradition zeigt, lebendig zu halten. Ein Fremder und Fremdes wird nur durch Kontakt und Begegnung vertraut. Es wäre deshalb hilfreich, wenn jeder Christ und jede Christin, die eigene Fremdheitserfahrung „im Gepäck“, mindestens einen Flüchtling oder Asylsuchenden persönlich kennen lernt, damit sich die erschreckende Zahlenmasse in ein Gesicht verwandelt. Lesepatenschaften in Schulen sind z.B. eine gute Möglichkeit dazu.

Im 5. Buch Mose werden die Nächstenliebe und die Selbstliebe mit der Gottesliebe in einem Atemzug genannt. Alles drei gehört zusammen. Jesus hat dies so formuliert: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mth 25,40). Konkret: „Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ Diakonisches Handeln ist von daher ein Handeln an Christus. Nächstenliebe ist Gottesliebe. [Und wenn ich selbst dazu beitragen möchte, dass Flüchtlinge in unserem Land zu essen bekommen, dann ist das zu einem Teil in meiner Erinnerung begründet: Die Familie meiner Mutter, Flüchtlinge aus Pommern, wurde 1946 durch einen Fremden, einem „feindlichen Russen“ vor dem Hungertod bewahrt. Ohne diese Rettung würde ich nicht leben.] 4

Immer wieder ereignen sich neue humanitäre Katstrophen. Auf der Insel Kos sind Kämpfe unter Flüchtlingsgruppen unterschiedlicher Ethnien um Wasser ausgebrochen. Wieder wurde in Deutschland ein Flüchtlingsheim mit fremdenfeindlichen Sprüchen besprüht und in der Schweiz werden kriegstraumatisierte Menschen in Bunkern untergebracht.

Trotzdem gibt es die kleinen Zeichen, die Hoffnung machen. Vor wenigen Tagen begegnet mir eine ältere Frau, die einen Korb voller selbstgestrickter Socken zur Sammelstelle in ihre Gemeinde bringt. Befragt, wie sie dazu kommt, auf diese Weise den syrischen Männern, Frauen und Kindern zu helfen, sagt sie: „Wir sind damals aus Schlesien gekommen und in einem kleinen Dorf in Niedersachsen gelandet. Es gab viel Feindschaft, aber auch Menschen, die uns mit Essen und warmer Kleidung versorgt haben. Die Menschen, die zu uns kommen, haben schon ein verzagtes Herz, sie sollen wenigstens warme Füße haben.“

Versorgung mit dem Lebens-Not-wendigen hilft. Noch mehr hilft Begegnung zwischen „Ich und Du“. Gemeinsam Socken zu stricken bringt Menschen in Kontakt. In einem Dorf in Ostfriesland und in vielen anderen Initiativen bringen Gemeindeglieder Flüchtlingen das Fahrradfahren bei. Freunde von mir lernen mit zwei syrischen Schwestern, die vor Zwangsverheiratung geflohen sind, deutsche Gedichte. Neulich wurden sie von den syrischen Frauen zu einem großen Fest eingeladen. Integration ist wechselseitig, so wechselseitig wie das Liebesgebot: Der/die Andere – ich bin es.

1 Wenn nicht anders angegeben, werden alle Bibelstellen zitiert nach: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984, Stuttgart 1985.
2 Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Bd. 1: Die Fünf Bücher der Weisung, 11. verbesserte Aufl. der neubearbeitete Ausgabe von 1954, Heidelberg 1987, 326.
3 Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München 2004, 116.
4 Dieser Absatz könnte durch eine eigene, persönliche Flucht- und Rettungsgeschichte ersetzt oder ggf. auch weggelassen werden.

Gehalten im September 2015


Bettina Rehbein