Liebe Gemeinde,
Psalm 85 ist der Predigttext für heute, am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres. Volkstrauertag, Ewigkeitssonntag noch – dann ist schon der 1. Advent. Das Ende des Kirchenjahres ist in Sichtweite gekommen. Und die Zeit ist nahe herbeigekommen, in der wir an die Toten des vergangenen Jahres denken, vielleicht selbst ein Resümee ziehen, wie es uns ergangen ist und was wir erwarten.
Solche Rückschau und Vorschau prägt auch Psalm 85:
2Du hast dein Land begnadigt, Herr,
hast Jakobs Geschick gewendet.
3Du hast die Schuld deines Volkes vergeben,
getilgt alle ihre Schuld.
4Du hast zurückgezogen all deinen Grimm,
abgewendet die Glut deines Zorns.
5Wende dich zurück zu uns, Gott unseres Heils,
und lass ab von deinem Unmut gegen uns.
6Willst du uns ewig zürnen,
deinen Zorn hinziehen von Generation zu Generation?
7Bist du nicht der, der uns das Leben wiedergeben kann,
dass dein Volk sich deiner freut?
8Lass uns, Herr, deine Güte schauen,
und schenk uns deine Hilfe.
9Ich will hören, was Gott spricht;
der Herr, er verkündet Frieden
zu seinem Volk und seinen Getreuen,
damit sie nicht wieder der Torheit verfallen?
10Nahe ist denen seine Hilfe, die ihn fürchten,
dass Herrlichkeit wohne in unserem Land.
11Gnade und Treue finden zusammen,
es küssen sich Gerechtigkeit und Friede.
12Treue sprosst aus der Erde,
und Gerechtigkeit schaut vom Himmel hernieder.
13Der Herr gibt das Gute
und unser Land seinen Ertrag.
14Gerechtigkeit geht vor ihm her
und bestimmt den Weg seiner Schritte. [Zürcher Bibel]
Der Psalm hat zwei Teile: Rückschau und Vorschau. Im ersten Teil wird Gott direkt angeredet und daran erinnert, dass er ja eigentlich noch immer ein treuer Gott ist, der Jakobs Geschick gewendet hat oder, wie Luther übersetzt, die Gefangenen Jakobs erlöst hat. Den Anfang bildet eine Vergewisserung, so wie wir sie zu Beginn des Gottesdienstes im Votum hören: Der Herr ist einer, „der Wort und Treue hält ewiglich und der nicht preisgibt das Werk seiner Hände“. Die Beziehung kann wackeln, Gott kann zürnen. Aber im Grunde ist klar: Gott ist dann auch der, der das Leben wiedergeben kann. Und wenn das nicht ganz klar sein sollte, dann erinnere ich Gott und zugleich mich selbst, uns selbst daran: Willst du uns ewig zürnen, deinen Zorn hinziehen von Generation zu Generation? Nein. Das willst du nicht. Ich weiß, wir wissen: Irgendwann ist Schluss.
Und dann, dann kommt der zweite Teil des Psalms: eine wunderbare Utopie. Eine prophetische Vision. Jesus hätte gesagt: das Reich Gottes. Man kann den Wechsel zwischen Rückschau und Vorschau deutlich hören. Ein prominentes „Ich“ markiert den Anfang des zweiten Teils: Ich will hören, was Gott spricht. Ich will es endlich hören, und weiß auch schon, dass da von Gott der Friede verkündigt wird. Dass Hilfe nahe ist. Ungeduld steckt darin. Der Beter betet Gottes Stimme nahezu herbei.
Und er weiß auch, dass auf der anderen Seite die Gottesfurcht der Getreuen nötig ist: Nahe ist denen seine Hilfe, die ihn fürchten. Es ist ein Geben und Nehmen, das ineinander übergeht. Wie in einer guten Beziehung, die von solcher Hin- und Her-Bewegung lebt.
In der Beziehung zu Gott, im Verlauf der Geschichte, geht es aus Sicht des Psalms um die Bewegung zwischen Schenken, Verlieren, Wiederfinden. Um die Bewegung zwischen Nahe-Herbeikommen und In-der-Ferne-Sein. Es ist eine lebendige Beziehung zwischen Gott und Mensch, die nicht ohne Ecken und Kanten ihren Verlauf nimmt, und nicht angesiedelt ist in einem Wolkenkuckucksheim. Sondern zwischen Himmel und Erde.
Die Nähe Gottes und seine Friedensverheißung, die kommen nicht von allein vom Himmel herab und treffen dann auf der Erde den erstaunten still dasitzenden Menschen. Sondern die Nähe Gottes trifft auf bewegte Menschen; Menschen, die Gott fürchten und erwarten. Die sich ihm zuwenden, mit ihm im Gespräch bleiben. Ihn um Vergebung bitten, ihre Torheiten bereuen, sein Ausbleiben beklagen und sein Kommen einfordern.
Bewegung ist auch in den großen Worten der Zukunftshoffnung, die im zweiten Teil des Psalms steht: Gnade, Treue, Gerechtigkeit, Friede. Sie betreten wie Personen eine Bühne. Sie kommen aus verschiedenen Ecken und finden sich paarweise zusammen.
Die Treue sprosst aus der Erde und findet sich mit der Gnade zusammen. Die Gerechtigkeit, eigentlich im Himmel beheimatet und von dort herniederschauend, muss wohl hinunterkommen, um den Frieden zu küssen. Wo kommen Friede und und Gnade her? Klar ist: Beisammen waren sie nicht. Sie müssen sich erst finden, um auf der Bühne ein Duett zu tanzen. Gnade und Treue finden zusammen, es küssen sich Gerechtigkeit und Friede.
Die hebräische Schriftsprache kommt ohne ausgeschriebene Vokale aus. Deswegen gibt es manchmal zwei Bedeutungen für ein und dieselbe Reihenfolge von Konsonanten. Das Wort, das in der Zürcher und bei Luther mit „küssen“ wiedergegeben ist, kann man daher auch anders übersetzen, nämlich mit: Gerechtigkeit und Frieden „treffen aufeinander“. Aufeinandertreffen – das hat schon einen eher kämpferischen Klang. Ein Forscher hat das Übersetzungsproblem so auf den Punkt gebracht: „Kuss oder Kampf? Die Frage bleibt offen.“1
In der Auslegungstradition, vor allem der Bildenden Kunst, hat eindeutig das Küssen gewonnen. Und Gerechtigkeit und Frieden sind auch das bekanntere Paar – wahrscheinlich, weil ein Kuss sofort Bilder abruft. Wenn Treue und Gnade zusammenfinden, dann bleibt das dagegen etwas blass. Der Psalm nennt aber beide Paare.
Ich stelle sie mir in der Tat wie im pas de deux vor, also wie Paare im Ballett; Paare, die in Bewegung sind, und bei denen Kampf und Kuss zuweilen eng beieinander liegen. Mit der offenen Frage „Kuss oder Kampf?“ kann ich also gut leben.
„Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ – diese drei stehen so miteinander verbunden nicht in der Bibel. Aber das Seufzen der Schöpfung kam in der Lesung aus dem Römerbrief vor. Es ist eine Zusammenstellung, die seit 1980 das Motto der „Friedensdekade“ bilden. Das sind die zehn Tage vor Buß- und Bettag, der dieses Jahr auf den 17. November fällt. Heute, am 7. November, beginnen also diese zehn Tage am Ende des Kirchenjahres.
Vor allem in den Kirchen der ehemaligen DDR waren Frieden und Gerechtigkeit ein heißes Eisen und brandaktuell. Die Bewahrung der Schöpfung passte für viele Menschen in Ost und West, die sich in der Ökumene engagiert haben, ganz gut zu Frieden und Gerechtigkeit.
Ich habe oft gedacht: Ja, das sind schöne Worte. Schöne Schlagworte! Natürlich sind wir alle für Gerechtigkeit und Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Aber was heißt das konkret? Eva Zeller hat bereits vor dreißig Jahren mit einem Gedicht den Finger in die Wunde gelegt. Es heißt:
Schade
Gerechtigkeit und Frieden
küssen sich nur in den Psalmen,
aber da küssen sie sich,
lagern sich zusammen
wie zwei Atome
ein und desselben Moleküls;
im vergrößerten Modell
ist zu sehen, wie inein-
anderverschmolzen sie sind;
schade um diesen
hinreißenden
Entwurf.2
Ja. In diesem Gedicht wird kein Duett getanzt. Und deshalb ist es nur ein hinreißender Entwurf, um den es schade ist. Und weil diese drei „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ mir immer vorkamen wie ein solches zusammengepapptes Dreiermolekül, habe ich wohl gedacht: Schöne Worte. Schöne Schlagworte! Viel zu einfach, diese Triologie!
Was genau Gerechtigkeit „und“ Frieden ist, um diesen Zusammenhang muss nämlich auch gestritten und sich auseinander (!) gesetzt werden.
Wenn wir uns nun also diesen zwei tanzenden Paaren – Gerechtigkeit und Frieden sowie Gnade und Treue – zuwenden, dann gilt es zu überlegen:
Wo liegen sie auch im Widerstreit? Gibt es nicht auch faulen Frieden? Und eine kaltherzige Gerechtigkeit, die jedem das Gleiche zuteilt, egal, wie weit der Weg für die eine oder die andere war? Da wird ein Frieden proklamiert, der nichts weiter ist als die Abwesenheit von Krieg und mit gerechten Lebenschancen nichts zu tun hat. Da wird das Ideal der Treue zur Moralkeule, die den letzten Rest an Lebendigkeit verliert. Oder von Treue wird gesprochen, wenn eigentlich blinder Gehorsam und Gefolgschaft damit gemeint sind. Gnade kann von oben herab gewährt werden. Dann ist sie nicht mit der Treue verbunden, sondern mit der Macht.
Um den Zusammenklang von Gnade und Treue muss gerungen werden. Und um den Zusammenklang von Gerechtigkeit und Frieden auch.
Wenn wir jetzt noch Zeit hätten, dann sollten wir uns miteinander auf die Suche begeben, wo man von solchen Zusammenklängen wohl sprechen könnte. Und wir sollten einander solche Geschichten erzählen.
Hier und jetzt müssen wir uns begnügen mit dem Schlussbild des Psalms, das uns vor Augen führt, wo die letzte Gerechtigkeit sich befindet: Der Herr schreitet dahin. Und die Gerechtigkeit geht vor ihm her und bestimmt den Weg seiner Schritte. Ist das nicht eine wunderbare Prozession?
Amen.
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1 Jürgen Ebach: „Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“, oder: „Gerechtigkeit und Frieden kämpfen“ (Ps 85,11). Über eine biblische Grundwertedebatte. In: U. Bail/R. Jost (Hg.): Gott an den Rändern. Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bibel. Gütersloh 1996. S. 42-52 (42f.).
2 Eva Zeller: Ein Stein aus Davids Hirtentasche. Gedichte. Freiburg i. Br. 1992, S. 51.