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Die 5. Unser-Vater-Bitte und die Diskussion um Schuldenerlass
Predigt zu Matthäus 6, 12
Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern
Ihr Lieben,
Schulden! Viele, fast alle haben welche. Die einen, weil sie sich etwas leisten wollen, was sie sich eigentlich nicht leisten können. Andere, weil das Geld für das Notwendigste mehr als knapp ist. Wiederum andere haben welche, weil sich Schulden machen „lohnt“. Kein größeres Unternehmen, dass keine Kredite für notwendig Investitionen aufnähme. Aber auch der Privatmensch kann von Schulden „profitieren“. Wer hätte sein Haus ohne „Schulden“ gebaut? Wer setzte sie nicht von der Steuer ab, schmälerte also durch private Schuld seine Steuerschuld und wäre nicht dankbar dafür, dass die Allgemeinheit ihm hilft, seine Schulden abzubauen.
Wohl fast alle leben mit Schulden oder haben damit lange Zeit gelebt und wer keine hat, der hat sie ohne es zu wollen oder darauf direkten Einfluss zu haben als Staatsbürger. Gestern Abend entfielen auf jeden Bundesbürger 18.179,- € Bundesschuld. Die Länder und Kommunalschulden gar nicht mitgerechnet. Schulden sind also etwas, mit dem wir leben, zum Teil gut leben.
Aber es gibt eben auch das, was man Über-schuldung nennt. Schulden, die auf ein Maß angewachsen sind, das nicht mehr zurückbezahlt werden kann. Auch das gibt es; in Betrieben ebenso wie im Privatbereich. 2006 gab es fast 100.000 Privatinsolvenzen und über 3 Millionen Haushalte, die als überschuldet galten. Schulden und die Dynamik, die sie entwickeln können ist nicht nur ein Thema der letzten Jahre oder Jahrzehnte. Schon die Bibel spricht davon und in der Sozialgesetzgebung des Alten Testamentes spielt die Frage nach dem Umgang mit Schulden eine große Rolle.
Schuld, die mit Zins zurückzuzahlen war gab es schon damals. Übrigens mit Zinssätzen bis zu 60%, wie wir z.B. aus Leihvertragsfunden aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert wissen. Und wenn die Schuld nicht mehr bedient werden konnte, gab es ein Pfändungsrecht, das sich nicht nur auf materiellen Besitz, sondern sogar auf die Familienmitglieder erstreckte, also in Schuldsklaverei führte.
Was anfangs vielleicht als Einzelschicksal erschien, wurde nicht selten zu einer Seuche, die ganze Gesellschaften in den Ruin zu treiben drohte. Die Schere von Arm und Reich ging soweit auseinander, dass ein Gemeinwesen zerrissen wurde. Die Propheten wissen davon zu erzählen. Sehr früh begann man staatlicherseits gegenzusteuern. Schon ca. 2500 v.Chr. sind uns Schuldenerlasse der König des Zweistromlandes überliefert. Diese Erlasse fanden unregelmäßig statt und waren darum auch unberechenbar. Sie oblagen der Einschätzung der Regierenden und die hielten es damit eher willkürlich.
In Israels ältestem Rechtsbuch, dem so genannten Bundesbuch (2. Mose 20,22-23,33), das unmittelbar nach den 10 Geboten beginnt, finden wir ganz in dieser Richtung auch Regeln zur Freilassung von Schuldsklaven und ein grundsätzliches Zinsverbot. Bis ins 18. Jahrhundert hat man dieses Zinsverbot christlicherseits für sehr wichtig gehalten und erst danach langsam und dann geradezu galoppierend vergessen. Selbst innerhalb der Kirche ist es verwaltungsrechtlich verboten, zinsfrei Darlehen anzubieten. Was kaufmännisch und betriebswirtschaftlich klug scheint, muss noch lange nicht biblisch recht sein!.
Insbesondere für den Leihverkehr in der eigenen Gemeinschaft schreibt das 5. Buch Mose darüber hinaus ein Erlassjahr fest (5. Mose 15). Alle 7 Jahre sollen alle Schulden erlassen werden. Berechenbar, nicht willkürlich sollte diese Befreiung sein und verhindern, das Schulden sich anhäufen und generationenübergreifende „Schuldenkarrieren“ entstehen. Klar stellte sich da auch die Frage, wer denn im 6. Jahr überhaupt noch was verleiht. Dieser Frage begegnet man mit dem Hinweis darauf, dass es Gott selber dem, der helfen kann, es aber wegen des nahe bevorstehenden 7. Jahres nicht tut, als Sünde, als Trennung von ihm anrechnen wird. Freizügig geben ist ein Gottes Gebot! Mehr noch: Man soll so großzügig und selbstlos leihen, dass sich die Lage des Schuldners wirklich verbessert, den das ist der beste Weg, dass er die Schuld auch zurückzahlen kann.
Aber immer wieder finden sich Spuren in der Bibel, in denen es um das Erlassen von Schulden geht, weil Überschuldung Abhängigkeiten schafft, Armut hervorruft und einen Teufelskreis in Gang setzt, der Leben unmöglich macht. Die Sprüche bringen es auf eine ganz einfach und bis heute gültige Lebensweisheit: „Der Reich herrscht über den Armen, und zum Sklaven gegenüber dem Gläubiger wird, wer eine Anleihe macht“ (Sprüche 22,7). Dass diese Lebensweisheit nicht das letzte Wort hat, dieser Kreislauf durchbrochen wird, dass erklärt das Alte Testament zum Gottes-Gebot, indem es ein Erlassjahr festschreibt.
Ach, das ist doch jetzt alles im Alten Testament gesagt, mag mancher vielleicht denken. Und selbst den Reformierten ist der Gedanke ja nicht wirklich völlig fremd, dass man beim Übergang ins Neue Testament gerade in diesen Fragen von Recht und Geboten eine scharfe Trennlinie zieht und das Neuen Testament stattdessen von der Gnade, von der Liebe und vom Glauben reden hört. Aber was bei einem Höhenflug über die beiden Bibelteile vielleicht auf den ersten, flüchtigen Blick richtig zu sein scheint, wird nicht nur schwierig, sondern auch falsch, wenn man in die Tiefe geht. Von der Tora, der Weisung Gottes, zu der auch der regelmäßige Schuldenerlass und der Kampf gegen Überschuldung gehört, sagt Jesus im Matthäusevangelium: „Kein Jota, kein einziges Häkchen davon soll wegfallen“ (Mt. 5,17f)
Und nun ist es wohl mehr als ein Zufall sein, dass Jesus in dem Gebet, dass er die Seinen lehrt, wörtlich Begriffe verwendet, die zum Schuldenerlassgebot des Alten Testaments gehören. Wir beten zu Gott, dem Vater: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldner.“ So muss es wörtlich heißen. Die Übersetzung der Lutherbibel mit: „Vergib uns unsere Schuld (in der Einzahl), wie wir vergeben unseren Schuldigern (ein Kunstwort) verengt und moralisiert, was gemeint ist. Das Gleichnis vom König, der seinem Knecht alle Schulden erlässt, aber dann mit ansehen muss, wie der viel kleinere Schulden bei seinen Nachbarn gerichtlich eintreiben lässt, ist eine Auslegung dieser Unser-Vater-Bitte (Matthäus 18,21-35). Vergebung, Erlass, hat nicht nur eine geistige, moralische, sondern auch eine ganz materielle bis ins finanzielle gehende Seite.
Wen Schulden und Überschuldung drückt, der hört das sehr genau aus der biblischen Botschaft heraus. Die Bauern von Solentiname, die mit Ernesto Cardenal zusammen die Bibel auslegten haben es einmal so umschrieben: „Wir sollen unseren Schuldigern vergeben. Das kann irgendeine Beleidigung sein. Es können aber auch Geldschulden sein. Ich sage nicht, dass wir unser Geld nicht von einem zurückfordern sollen, der etwas hat, aber einem, der nichts hat, dem sollen wir auch diese Schuld vergeben. Für viele Reiche ist es leichter eine Beleidigung zu vergeben, als eine Geldschuld zu streichen.“ Wir hören es seit Jahren in den Nachrichten, lesen es in der Presse und haben es uns heute morgen noch einmal vor Augen stellen lassen: Schulden sind nicht nur ein Problem von Privatleuten und Firmen in Deutschland, sondern weltweit. Es gibt Schuldenverstrickungen über den ganzen Globus und die Zins-, Zinseszins- und Tilgungslasten würgen ganze Länder.
Es sind Abhängigkeiten entstanden, aus denen sich Länder nicht mehr befreien können. Nicht selten waren es korrupte Regierungen, die Kredite aufnahmen und völlig zweckentfremdet zur eigenen Bereicherung oder zum Kriegführen ausgaben. Den Geldgebern war es da meist recht gleichgültig, wem sie Geld verliehen, Hauptsache der Vertrag war lukrative. Bezahlen müssen die Zeche andere. Es hat auch auf Druck der Öffentlichkeit in den letzten Jahren Entschuldungen gegeben. Den gesellschaftlichen Kräften, den Politikern und Finanzexperten, die sich dafür stark gemacht haben sei Dank und ich will darin auch ein Wirken vieler Gebeten erkennen und Gott danken.
Es gibt gute Anfänge, die aber nur dann wirklichen Wert haben, wenn sie eben Anfänge sind und nicht Feigenblätter, die anderes notdürftig bedecken sollen. In Köln und Geneagles hat es 1999 und 2005 Schuldenerlasse der G-8-Nationen gegeben. Aber man sieht heute, wie löchrig deren Umsetzung ist, da es schon private „Geierfonds“ gibt, die ehemals staatlichen Schulden nun privatrechtlich eintreiben. Ein rechtsstaatlich geregeltes internationales Insolvenzrecht wäre hier unbedingt nötig. Die Predigt ist nicht der Ort, an dem ich als Laie große, geborgte Analyse vorlegen soll. Es ist im Konkreten nämlich immer noch mal komplizierter als man denkt. Der Teufel steckt immer im Detail.
Aber wie wäre es, wenn in der Frage des globalen Wirtschaftens und der Kapitalströme der Teufel das Detail schon lange verlassen hätte und im System steckte, in der Zielrichtung, in der Dynamik als solcher? Wir alle als einzelne, als Kirchen, als Gesellschaften stecken im System. Seid der Kommunismus und Sozialismus als Alternativmodelle im Praxistest eingegangen scheinen, sind wir alle dem Experiment „Kapitalismus“ ausgesetzt. Fast alle „Ismen“ haben sich in der Menschheitsgeschichte als lebensfeindlich erwiesen und auch dem letztgenannten ist diese Bescheinigung schon ausgestellt und wird früher oder später auch überreicht.
Am letzten Sonntag haben wir auf den 1.Timotheusbrief gehört und auf seinen Aufruf, dass der Gemeinde „vor allen Dingen“ das Gebet für die Könige und Mächtigen aufgegeben ist. Bei allem notwendigen Ringen um Alternativen, um Entschuldungskampagnen, um redliche und schrittweise realistische Vorschläge, der Verschuldung und ihrer Folgen beizukommen, tut in der Tat dies Gebet not! Das Gebet für die, die Macht haben, dass sie ihre Möglichkeiten nutzen. Das Gebet, dass sie in ihren Entscheidungen frei und nicht selber Knechte und Schuldner einzelner Lobbys sind. Das Gebet, dass Gottes Geist nicht nur einmal am Pfingsttag, sondern auch noch heute ausgegossen wird auf alles Fleisch, auch auf das politisch aktive, beherberge es eine Christin oder Atheistin, einen Juden, Muslim oder Humanist.
Ihr Lieben, wenn das Gebot Gottes – in diesem konkreten Fall das Gebot des Schuldenerlasses und der Kampf auch um menschliche Gerechtigkeit – in der Wirklichkeit unserer Welt keinen Raum bekommt, dann soll es nicht abgeschafft werden. Frei nach dem Motto: „Das ist doch alles blauäugig, Ideologie, Traumtänzerei!“, sondern dann wird das Gebot zum Gegenstand des Gebetes! Wenn Schuldenerlass nicht praktiziert wird, dann wird das Gebot nicht aufgehoben, sondern ins Gebet genommen, damit Gott selber die Menschen so verändert, dass sein Wille geschehe – auch auf Erden.
Aber täuschen wir uns nicht. Die Bitte, die wir an Gott richten, ist eine Bitte um unser eigenes Tun. Aus unserem Gebet wird ein „gebet“. Gebet frei, erlasst die Schuld. Im Gebet hören wir das Gebot, sprechen es selber über unser Leben als verbindlich aus. Wer die Gabe der Vergebung von Gott erbittet und empfängt, der kann die Gabe der Vergebung anderen nicht verweigern. Wem Gott die Schulden erlässt, damit er frei wird, der kann seinen Mitmenschen unter der Last der Schulden nicht umkommen lassen.
Wenn wir die biblische Botschaft ernst nehmen, dann kann der Kirche, den Gemeinden und jedem Christenmenschen das Thema der Verschuldung in all ihren Dimensionen nicht gleichgültig sein. Wir können das Gebet unseres Herrn nicht sprechen, ohne diese Zusammenhänge im Blick zu haben. Und wir werden nach unserer eigenen kleinen Praxis befragt. Nach unserer Art zu geben, nach unserer Art Geld „anzulegen“. Geld stinkt nicht – sagt der Volksmund. Stimmt nicht ganz, sagt die Nase, wenn sie an der Hand riecht, die Geld gezählt hat. Aber der Geruch ist’s ja nicht. Es sind die Menschen, die sich des Geldes bedienen! Es ist die Frage, was wir damit machen und wozu es dienen soll – wenn es uns und dem Menschen denn noch dient und nicht wir ihm. Am Beispiel der Entschuldungsbereitschaft kann man erkennen, wer hier wem dient. Was wichtiger ist – die Vermehrung von Geld oder die Mehrung von Leben. Es gibt die Punkte, an denen diese Alternativen auf dem Tisch liegen und in der Frage der Entschuldung sehe ich einen solchen.
Vater, erlass uns unsere Schulden – so beten wir und dürfen darauf vertrauen, dass Gott uns erhört. Wir erlassen unseren Schuldnern – so beten wir (und wohl auch viele, die in umfassenden Maße die Macht hätten, das zu tun) und wir beten damit zugleich zu Gott, dass wir uns beten hören, damit wir unserer Bitte gemäß auch handeln. Begleiten wir die Verhandlungen der nächsten Wochen und die Umsetzungen guter Beschlüsse von früher mit unseren Gebeten, denn sie tun unserer Welt not.
Amen.
Gottesdienst in Ronsdorf am 20.05.2007
Georg Rieger