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Leben und Werk eines europäischen Reformators
von Jörg Schmidt
Die Ansprache des Generalsekretärs Jörg Schmidt:
"Mit dem 1. Januar dieses Jahres hat ein Jahr begonnen, das vor allem für uns Reformierte, aber auch für andere Evangelische wichtig werden kann: Am 10. Juli vor 500 Jahren wurde in Noyon (Nordfrankreich) Johannes Calvin geboren; und wir verlebendigen seine theologischen Entscheidungen in diesem „Calvin-Jahr“ 2009.
Allerdings erinnern wir mit ihm einen eher unbekannten Reformatoren. Das gilt jedenfalls weithin für die kirchliche Öffentlichkeit in Deutschland, geschweige denn dass darüber hinaus der Name Johannes Calvin groß bekannt ist. Und das gilt weithin auch für die Reformierten, wenngleich hier die eine oder andere Information über Leben und Werk des Genfer Reformators mehr gekannt wird.
Weltweit sieht das anders aus, in den USA etwa ist Calvin bekannter als Luther. Und insgesamt ist die Zahl reformierter Christinnen und Christen, die sich auf die theologischen Grundentscheidungen Calvins berufen, mit über 80 Millionen weltweit höher als etwa die der Lutheranerinnen und Lutheraner. Auch das ein Ergebnis der reformatorischen Entwicklungen in Genf, wie sie Calvin wesentlich gestaltet hat.
Nun ist es erst einmal nicht unverständlich, dass Calvin in Deutschland eher unbekannt ist. Die reformatorische Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Kirche begann in Deutschland. Und sie begann mit Martin Luther. Johannes Calvin ist ein Reformator der zweiten Generation, der sich im Übrigen immer als ein Schüler des jungen Luther verstanden hat. Und Calvin lebte und wirkte im französischsprachigen Raum, vor allem eben in Genf.
Zum anderen: Die, die sich in Deutschland auf Calvin berufen, die Evangelisch-Reformierten, sind ein Minderheit unter den anderen Evangelischen. Was sie geprägt hat und prägt, was sie bewegt hat und bewegt, das ist eher unbekannt und wird oft von anderem Evangelischen überdeckt.
Und schließlich: Etliche Reformierte tendieren dazu, „ihren“ Reformator zu verschweigen. Denn wenn etwas über ihn bekannt ist, dann sind es Vorstellungen, die ihn und seine Theologie nicht gerade attraktiv erscheinen lassen. Nicht zuletzt genährt durch das Buch von Stefan Zweig „Castellio gegen Calvin. Ein Gewissen gegen Gewalt“ aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts existiert ein Bild von Calvin, das nun wahrlich nicht zum Erinnern einlädt: Calvin, der Despot von Genf, der in Gestapo-Manier die Bewohnerinnen und Bewohner ausspionieren und kontrollieren läßt. Und vor allem: Calvin, der Mörder Servets, der einen theologischen Gegner ans Messer liefert und zu Tode bringt.
Dazu kommt dann noch, was Max Weber als Folge der Calvinschen Lehre von der so genannten doppelten Prädestination meint beschreiben zu können: dass die Reformierten, um sich ihrer Erlösung sicher werden zu können, mit erhöhtem Arbeitseifer an ihrem Wohlstand arbeiten. Was nach Weber letztlich die Entwicklung des Kapitalismus befördert hat.
Im Rahmen meiner Einführung ist nicht Raum, auf diese Zerr-Bilder – denn das sind sie – einzugehen. Ich verweise auf die Ausstellung, die das Ihre tut, um Vor-Urteile jedenfalls in Bezug auf Person und Werk Calvins zu widerlegen.
Allerdings will ich kurz auf einen Umstand hinweisen, dessen Folgen für das Verständnis der Theologie Calvins erst in den letzten Jahren deutlicher sich abzeichnet.
Calvin entwickelt Grundentscheidungen seiner Theologie in einer spezifischen Situation. Als er 1536 nach Genf kommt, ist die Lage der evangelischen Christenmenschen mehr als prekär: Innerlich noch nicht stabil; abhängig von Entscheidungen des Rates der Stadt, in dem die Mehrheiten oft wechseln; von außen bedroht, vor allem durch einen erstarkenden Katholizismus.
Dazu kommt, dass im Laufe der Zeit, die Calvin in Genf zubringt, die Zahl der Einwohner sich nahezu verdoppelt. Glaubensflüchtlinge aus Frankreich sind es vor allem, die in Genf Schutz finden, nicht zuletzt eingeladen und angezogen von Johannes Calvin. Man muss sich das einmal vorstellen: Innerhalb von knapp 30 Jahren verdoppelte sich in etwa die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner. Man kann noch heute an Häusern in der Innenstadt Genfs sehen, wie sie aufgestockt wurden, damit mehr Menschen einen Ort zum Leben fanden.
Calvins Hinweise zur Kirchenzucht werden auf diesem Hintergrund verständlich als das, was sie zuerst waren: Versuche, eine Ordnung herzustellen; die immer wieder neu sich bildende, in Konflikten sich gestaltende Gemeinschaft nicht auseinander brechen zu lassen, sondern zusammen zu halten.
Und seine Hinweise zur Erwählung, zur Prädestination waren Trost für die Gemeinden auf der Flucht. Unzählige Briefe Calvins an die Flüchtlingsgemeinden oder einzelne bedrohte Christenmenschen zeugen von dieser Leidenschaft Calvins für die Verfolgten. Auf ihre Situation hin hat er den Gedanken der Erwählung konsequent entwickelt; anderes hatten sie nicht viel auf ihren Fluchtwegen als diese Zusagen: Wir gehören zu den Auserwählten, wenn wir denn im festen Glauben an Christus stehen.
Vielleicht ist es etwas überspitzt formuliert, wenn ich sage: die Theologie Calvins ist Theologie für Vertriebene, für Flüchtlinge, ist Theologie für Bedrohte: Gemeinden wie Einzelne. Aber diese Aussage trifft sicher einen wesentlichen Kern seines theologischen Denkens: Es geht immer wieder und immer wieder neu um Trost und Halt für die bedrohten evangelischen Gemeindekirchen.
Wenn Sie die Ausstellung wahrnehmen, dann werden Sie darauf mehrfach stoßen: die Verankerung der Theologie Calvins, seines Denkens und Handelns in der Situation bedrohter Christengemeinden.
Damit stellt sich aber auch die Frage: Was ist eigentlich passiert, als die reformierten Gemeinden, die sich auf die Entscheidungen Calvins beriefen, sich etabliert haben? Was passiert, um es allgemeiner zu formulieren, mit einer Theologie, die die Bedrohung reflektiert, wenn sie in einer Situation erinnert wird, in der die Gemeinden in Sicherheit existieren?
Dann kann schnell aus der Kirchenzucht als Hilfe zur Ordnung die Kirchenzucht als moralisierendes Instrument werden. Dann kann schnell aus der Lehre der doppelten Prädestination die Vorstellung von eigener Erwählung und der Verwerfung der anderen werden. Dann kann es schnell zu der Enge und Abgeschlossenheit kommen, die mit manchen Varianten reformierter Kirchen ja auch vorliegt.
Wir Reformierten werden uns – nicht nur mit dieser Ausstellung – im kommenden Jahr damit zu befassen haben: die reformatorischen Entscheidungen Calvins als Trost-Theologie für die versammelte Gemeinde zu verstehen. Und auch zu reflektieren, welche Abwege es bedeuten kann, wenn wir bei dieser Reflexion unserer Etabliertheit uns nicht mehr bewusst sind.
So lade ich Sie also ein, die Ausstellung sich anzuschauen in dieser Perspektive: Wie gewinnen wir, wie leben wir Trost, worin finden wir Halt für uns, für unseren Glauben, aber auch für die weltweite Gemeinschaft der Menschen, die Ökumene.
Diese Ausstellung, die ich nun eröffne, geht in insgesamt 11 Exemplaren auf die Reise in mehr als 100 deutschsprachige Gemeinden in Deutschland, aber auch in Österreich und der Schweiz. Offensichtlich besteht – trotz der genannten Unkenntnis von Person und Werk Calvins – ein großes Interesse am Calvinjahr 2009. Vielleicht gerade weil der reformierte Reformator so wenig bekannt ist. Vielleicht weil mit all den Angeboten im Calvinjahr etwas vorliegt, was in den Gemeinden einfach aufzunehmen und zu gestalten ist. Vielleicht aber auch, weil manche spüren: Da liegt noch etwas vor uns, was mit Calvin begonnen hat und was es neu zu entdecken gilt.
Bevor Sie nun losgehen noch ein Letztes – Dank:
– an die Reformierte Kirchengemeinde Hannover, die die Eröffnung der Ausstellung als Gastgeberin möglich gemacht hat;
– an die Evangelische Kirche in Deutschland, die diese Ausstellung nicht nur finanziell unterstützt hat;
– an Ilka Crimi (Büro für Design und Programmierung, Hannover-Garbsen), der wir die Gestaltung der 14 Tafeln verdanken;
– vor allem an Dr. Achim Detmers (Calvinbeauftragter der EKD und des Reformierten Bundes), der diese Ausstellung „gemacht“ hat;
– nicht zuletzt an Sie, die Sie gekommen sind, die Ausstellung anzusehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit."
Pfr. Jörg Schmidt
Generalsekretär des Reformierten Bundes
Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung „Johannes Calvin. Leben und Werk eines europäischen Reformators“ in der Kirche der Ev.-reformierten Gemeinde am 11. Januar 2009
Pfr. Jörg Schmidt, Generalsekretär des Reformierten Bundes