In Bruchstücken

Meditation zur Verkündigung am 27. Januar


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Wie lässt sich menschliches Leben in und nach Auschwitz mit Gottes Wort versprechen?

Nach Auschwitz, nach all dem Bösen, für das dieser Name steht, ist die Welt nicht mehr, wie sie war. Das Leid unzähliger Opfer schreit zum Himmel. Ihr Schrei stellt die Welt, ja stellt den Ewigen, unseren Gott, in Frage. Was vor Auschwitz noch gut und schön erschien, ist durch Auschwitz in Frage gestellt. Auch der Glaube bleibt nicht unberührt von dem, was geschehen ist. Im Glauben versprachen und versprechen Menschen immer wieder Worte der Bibel mit ihren eigenen Erfahrungen.

Wie lässt sich menschliches Leben in und nach Auschwitz mit Gottes Wort versprechen? – Indem wir bedenken

  • die Erfahrungen von Opfern und ihre Frage nach Gott;
  • die Schuld der Täter und Täterinnen, die Verantwortung ihrer Nachkommen und Gottes Gerechtigkeit;
  • dass wir hindurchgehen müssen "durch die tausend Finsternisse todbringender Rede";
  • dass das Wort Gottes Hoffnung und Zukunft eröffnet.

Der Schrei unzähliger Opfer und das Schweigen Gottes

Eine Überlebende schreibt:

"Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich -
Unsere Leiber klagen noch nach
Mit ihrer verstümmelten Musik.
Wir Geretteten,
immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub." (Nelly Sachs)

Auf dem Grund der Tiefe sind sie gewandelt. Des Todes Tore haben sie gesehen, die Tore der Finsternis (vgl. Hiob 38, 16f). Für sie stellt sich nicht die Frage, ob sie sich erinnern wollen oder nicht. Angst und Grauen sitzen tief.

Und immer wieder werden ihre Seelen in Brand gesteckt, wenn man ihr Leid leugnet, eine Entschädigungszahlung verweigert, wenn man sie, die Opfer, mit den Tätern verwechselt und ihnen vorwirft, eine Schande über Deutschland gebracht zu haben.

Einige der Überlebenden sind in der Tiefe von Angst, Verzweiflung, Heimatlosigkeit, Enttäuschung versunken, haben ihrem Leben ein Ende gesetzt:

"nie werden wir die Tiefe ihrer Leiden die Zweifel an sich selbst und uns verstehn allein der Tod kennt ihr Geheimnis ..." (Harm G. Dik)

Aus der Tiefe des verschlingenden Abgrunds rufen die Opfer: Ihren Psalm: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne." Sie singen ihr Lied: "Wie singen! wie die Augen hoch zum Himmel drehn Erstarrte Tränen kleben mir am Lid. Ich zerr Die Tränen aus dem Aug und kann nicht sehn Ich kenn DICH nimmer, seh DICH nicht, o HERR." (Jizchak Katzenelson).

Und Gott, der Herr: Warum schweigt er? Hat in Auschwitz der Teufel selbst gesiegt? Ist Gott, gepriesen sei sein Name, in Auschwitz getötet worden? Oder ist auch er, der Ewige, ein Überlebender?

Im Angesicht des Grauens werden wir nicht umhinkommen, werden wir aushalten müssen, dass alle Erklärungen und Glaubenssätze brüchig werden. Eine Tiefe werden wir im Glauben suchen müssen, die Gottes Unbegreiflichkeit, Gottes verborgenes Antlitz nicht ausblendet. Wund leiden wird sich der Glaube an Gott, wird sich wie Hiob sagen lassen müssen: "Die Weisheit Gottes ist tiefer denn die Hölle." (Hiob 11,8) Die Frage nach Gott zieht die Frage nach seinem Geschöpf, dem Menschen nach sich.

Schuld, Verantwortung und Gottes Gerechtigkeit

Die Schuld derer, die unschuldige Menschen verfolgten, quälten, ermordeten: Wer will sie bemessen? Aus der Tiefe rufen wir zu Gott: "Wenn du, Ewiger, Sünden anrechnen willst - wer der Täterinnen und Täter wird bestehen?" Und die Schuld derer, die wegschauten, die gleichgültig blieben, als ihre Nachbarn abgeholt wurden, als sie in der Zeitung von Konzentrationslagern lasen, als sie im Weeneraner Bahnhof die Zugwagons sahen: in ihnen Menschen eingepfercht wie Vieh, um Wasser bittend.

Wer wagt es, von dieser Schuld zu sprechen? Wenige taten es: bekannten ihre Schuld, suchten Versöhnung. Andere nahmen und nehmen die Last ihrer Schuld mit ins Grab. Sehen wir auf menschliche Schuld, wird die Botschaft vom richtenden Handeln Gottes eine Frohbotschaft: Das Gericht macht es möglich, die Taten zu sehen. Zum Beispiel so:

Ein Offizier, der 1944 daran beteiligt war, als Vergeltungsaktion gegen die französische Widerstandsbewegung eine Siedlung völlig zu zerstören, 600 Männer, Frauen, Kinder verbrennen zu lassen oder zu erschießen, wird 36 Jahre später verhaftet, angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Aus seiner Stellung als angesehener Angestellter, liebevoller Familienvater und Opa kommt er ins Gefängnis. Dort besucht ihn eine Reporterin und spricht lange mit ihm. Dabei weint er immer wieder. Auf die Frage: "Warum weinen sie jetzt?", antwortet er: "Weil ich jetzt so glücklich gelebt habe, und nun nimmt das ein solches Ende."

Die Journalistin fragt weiter: "Haben sie auch schon einmal geweint über die Kinder, Frauen und Männer, die sie damals umgebracht haben?" Antwort: "Nein." "Haben sie nie daran gedacht, dass sie an diesen Menschen ein furchtbares Unrecht begangen haben?" Antwort: "Solange ich in Freiheit war, nicht. Es war doch alles ganz normal. Aber jetzt denke ich doch oft, da muss was nicht gestimmt haben, da war ich selber irgendwie verwickelt, das war wohl alles falsch." (Quelle unbekannt)

Erst die Gefängnisstrafe bringt den Offizier zur Einsicht, dass er etwas falsch gemacht hat. Alle, die lieber von Gottes Gnade als von seinem Gericht sprechen, sei dies gesagt: Die Frohbotschaft des göttlichen Gerichts ist dies: Der Schöpfer des Lebens richtet die Lebenden und die Toten, um den Opfern Recht zu schaffen, und die Täter zur Einsicht zu bringen. Dabei spricht der Ewige, unser Gott: "Meinst du, ich habe Gefallen am Tode des Gottlosen, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?"

Von der Generation der Täter und Täterinnen wird bald niemand mehr leben. Doch wie steht es um ihre Nachkommen? Zu ihnen zähle ich selbst. Zur Enkelgeneration. Über 60 Jahre nach Kriegsende schäme ich mich als Enkelin über das, was meine Vorfahren taten: Auch einer meiner Großväter war in der SA. Und ich bin traurig, dass er damals nicht anders handelte, dass meine Großmutter auch nach dem Krieg an ihren antisemitischen Vorurteilen festhielt.

Doch diese Geschichte gehört zu meiner Identität dazu. Ich bin nicht in einem Nirgendwo aufgewachsen, sondern in einer konkreten, geschichtlich geprägten Umwelt. Und dazu gehört das Erbe der Vergangenheit. Die Geschichte meiner Vorfahren kann ich nicht loswerden und ich will sie auch nicht vergessen. Das Erbe der Hitler-Zeit kann ich nicht ausschlagen und gleichzeitig stolz darauf sein, zum Volk zu gehören, aus dem Goethe hervorging. An den Gedichten aus Weimar kann ich mich nicht freuen, ohne um den harten Klang des Lagerappells in Buchenwald zu wissen. Auch wer persönlich keine Schuld trägt an den Verbrechen der Hitler-Zeit, haftet für das Erbe.

Ein Wort der Bibel bemüht Bundespräsident Roman Herzog, um das zu sagen: "dann denken wir an die Worte des Alten Testamentes, das Juden und Christen gemeinsam ist: ‚Unsere Väter haben gesündigt, sie sind nicht mehr: Wir tragen deren Sünden.‘ An diesen Sünden tragen wir Deutschen schwer. Nichts darf verdrängt werden, nichts darf vergessen werden. Wir tragen Verantwortung dafür, dass sich so etwas nie mehr wiederholt."

Nicht zu verdrängen und Verantwortung tragen, das heißt für mich auch, die Frage nach dem Menschen und seiner Sprache wachzuhalten.

"Hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede"

Millionen Menschen ermordet, vernichtet mit Chemie wie Ungeziefer. Die dies taten: Männer und Frauen. Kluge, gelehrte Köpfe und Einfältige. Klare Denker und schlichte Gemüter. Besorgte Eltern, nette Nachbarn. Brutale Schläger, Schreibtischtäter. Denunzierende Hausfrauen, NS-Karrierefrauen. Ein treusorgender Familienvater, ein liebender Ehemann und ein gewissenhafter Beamter selbst der berüchtigte Kommandant von Auschwitz: Rudolf Höß.

Aus Menschen wurden Bestien. Abgrund der Hölle: die "furchtbare Banalität des Bösen". Aus der Tiefe rufen wir zu Gott: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Und des Menschen Kind, dass du sich deiner annimmst?" In mich selbst blicke ich und frage: Kann ich selbst besser widerstehen? Habe ich mehr Mut und Klarheit, mich dem Bösen zu verweigern?

Und die Sprache: das Wort zwischen Menschen, zwischen Mensch und Gott? Sind noch Gedichte zu schreiben nach Auschwitz? Und das Wort Gottes? Leuchtet sein Angesicht still und klar wie vordem? Wie ich so etwas fragen kann? So spricht der Ewige zu Israel: "Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an." Israels Leib in Rauch aufgelöst – Gottes Antlitz verletzt. Gibt es noch Licht nach Auschwitz?

"Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem", so sagt ein Dichter, "Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede." Auch meine Rede von Gott, unsere Rede von Gott, unser Sprechen zu Gott, das Gebet muss hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede:

  • hindurchgehen durch die falsche und böse Rede, die Juden seine Gottesmörder, verantwortlich für den Tod Jesu am Kreuz;
  • hindurchgehen durch die todbringende Rede, Israel sei von Gott verworfen;
  • hindurchgehen durch die böse und falsche Rede, das Judentum sei eine starre und tote Religion des Gesetzes;
  • hindurchgehen durch die böse und falsche Rede, dass die Liebe zwischen Mann und Mann, zwischen Frau und Frau eine schändliche Leidenschaft sei;
  • hindurchgehen durch die böse und falsche Rede, psychisch Behinderte seinen von bösen Geistern besessen;
  • hindurchgehen durch die falsche und böse Rede, unheilbare Krankheit sei eine Folge von Sünde.

Durch die Tiefe der Schuld muss unsere Rede von Gott hindurchgehen hin zum Angesicht der Opfer, muss sich von ihnen befragen lassen. Durch die Gleichgültigkeit muss unsere Rede von Gott hindurchgehen hin zum Angesicht der anderen. Denn das ist der Übergang von der Nacht zum Tag, wenn ich das Gesicht eines Menschen sehe und entdecke darin das Gesicht meines Bruders oder meiner Schwester, dann ist die Nacht zu Ende und der Tag ist angebrochen.

Hoffnung und Zukunft nach Auschwitz

Hoffnung für die Opfer, die gibt es, anderes kann ich im Glauben nicht sagen – mit Worten von Psalm 71:

"Ewiger, deine Gerechtigkeit reicht bis zum Himmel; der du große Dinge tust, Ewiger, wer ist dir gleich? Du lässt mich erfahren viele und große Angst und machst mich wieder lebendig und holst mich wieder herauf aus den Tiefen der Erde."

Auch wenn hier auf Erden verhindert wird, dass die Namen der Toten in Stein gehauen werden, sind ihre Namen im Himmel geschrieben. Von der Hoffnung für die Täterinnen und Täter, die ihre Schuld bekennen, spricht Jesaja: "Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Ewigen, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserem Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung."
Und Zukunft: Zukunft nach Auschwitz eröffnet die Frage:

"Wie können wir das Geschehene aufarbeiten, damit es nicht wie ein inneres Gift weiterwirke und zum Schema für Kommendes werde?" (Romano Guardini)

  • indem wir uns erinnern und erinnern lassen;
  • indem die Nachgeborenen die Last des Schweigens ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern nicht mehr ertragen und fragen;
  • indem wir nicht gleichgültig bleiben, wenn "Jude" ein Schimpfwort wird, wenn jüdische Gräber geschändet werden, wenn "Spasti" eine Beleidigung sein soll, wenn die Vorurteile gegen Sinti und Roma weiterbestehen, sie als umherziehende Gauner diffamiert werden, wenn man neben einem Kirchenturm kein Minarett duldet;
  • indem wir im Tiefsten erschüttert auf Gottes Wort hören, was Izrael Aszendorf so sagt: "höre doch ENDLICH auf mit ‚ich bin anders‘ ‚du bist anders‘ und vor allem ‚sie sind anders‘ als Ebenbild Gottes sind wir Alle gleich".

Barbara Schenck