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Die beziehungsstiftende Heiligkeit Gottes als Tiefendimension reformierter Identität
Eine Buchbesprechung von Jürgen Kaiser
Auf der Suche nach reformierter Identität wählt die Autorin weder einen religionssoziologischen Zugang noch einen konfessionskundlichen Ansatz, um Komponenten reformierter Identität in der Differenzierung zu anderen Konfessionen herauszuarbeiten. Margit Ernst-Habib nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand mit Mitteln der dogmatischen Theologie und den von Karl Barth bereitgestellten Kategorien.
Die Suche nach Identität wird in der Dissertation zu Recht als Krisenphänomen wahrgenommen. Mit den von der Dialektischen Theologie bereitgestellten Denkmustern wird diese Identitätssuche dann jedoch als Krise ganz anderer Art beschrieben, nämlich als Folge der „Krisis der Selbstoffenbarung Gottes im Christusgeschehen“. (43) Der dogmatisch theologische Ansatz der Untersuchung rechtfertigt auch die Begrenzung des Untersuchungsgegenstands auf schriftliche Bekenntnistexte des 20. und 21. Jahrhunderts. Für eine religionssoziologische oder konfessionskundliche Untersuchung würde es nicht ausreichen, sich auf eine überschaubare Textgattung zu beschränken. Denn in den Bekenntnistexten wird ein Anspruch formuliert, der die in der Kirche gelebte Wirklichkeit nicht abbildet – wie die Autorin selbst unter Berufung auf Peter Bukowski einräumt.
Ausführlich und umsichtig wird das offene reformierte Bekenntnisverständnis analysiert. Hier liegt sicher eine der Stärken dieser Monografie. Aus der Vielfalt, Zeitgebundenheit und Unabgeschlossenheit reformierten Bekennens ergibt sich eine Dialektik zwischen Autorität und Relativität, Bindung und Freiheit, die ebenso herausgearbeitet wird wie die Spannung zwischen Regionalität und Katholizität.
Die Stoßrichtung der Untersuchung gilt aber dem Versuch, in den untersuchten Bekenntnistexten so etwas wie eine „Tiefendimension“ reformierter Identität zu entdecken. Dazu führt Ernst-Habib die Kategorie der „Heiligkeit“ ein. Das Zentrum christlicher Identität sei die Heiligkeit Gottes in seiner Gnade. (396) Die Heiligkeit Gottes wird dabei als identitätsstiftendes und gleichzeitig identitätshinterfragendes Beziehungsgeschehen gedeutet. Die Kategorie der Heiligkeit wird aus Calvins Institutio entlehnt und biblisch theologisch fundiert. Wie die Autorin selbst bemerkt, spielt sie aber in systematisch theologischen Abhandlungen und in Bekenntnistexten kaum eine Rolle. Es handelt sich also nicht um eine aus den Texten selbst gewonnene Kategorie, sondern um ein von außen an sie herangetragenes Interpretament.
Entlang eines trinitarischen Aufrisses befragt die Autorin die Bekenntnisse. Die Textbasis ist global; Bekenntnistexte aus allen Kontinenten werden herangezogen. Eine Liste der herangezogenen Bekenntnisse findet sich im Anhang. Obwohl die Reformierten so bekenntnisproduktiv sind wie keine andere Konfession, hat doch nur eine Minderheit der Reformierten Kirchen überhaupt eigene Bekenntnisse formuliert.
In der Durchsicht durch die Texte macht Ernst-Habib teils sehr interessante Beobachtungen. Sie stellt z. B. heraus, dass manche Bekenntnisse bei Jesus Christus ganz auf eine Erwähnung des Kreuzes verzichten. Andere nehmen es nur als historische Replik auf ohne soteriologischen Bezug. Interessant ist auch, dass die Prädestination kaum mehr eine Rolle spielt, wohingegen ökologische Aspekte oder durch die Genderfrage motivierte Formulierungen eingebaut werden. Da es der Autorin aber nicht um eine Entwicklungsgeschichte reformierter Bekenntnisse geht, werden solche Beobachtungen mehr am Rande notiert.
Um die „Tiefendimension“ reformierter Identität freizulegen, bedient sich Ernst-Habib eines Theologumenons, das sie als „Sein und Handeln des Heiligen Gottes in seiner Selbigkeit in der Beziehung mit seiner Gemeinschaft der Heiligen“ definiert (241). Man könnte auch einfach so formulieren: Die Tiefendimension des Bekennens ist die Tatsache, dass Gott sich in Jesus Christus den Menschen geoffenbart hat. Ob die Verfasserin damit wirklich eine Tiefendimension freigelegt oder nur eine einfache theologische Wahrheit umetikettiert hat, bleibt zu fragen. Jedenfalls muss sie das, was sie als „Tiefendimension reformierten Glaubens und Handelns“ und „reformierter Identität“ einführt, schon zwei Sätze später als Tiefendimension allgemein christlichen Lebens und christlicher Identität entfalten. (ebd.) Man darf also vermuten, dass sich eine so definierte Tiefendimension in Bekenntnistexten nahezu aller christlichen Konfessionen aufspüren ließe.
Am Ende erfährt man, dass die Tiefenbohrung nach einer reformierten Identität doch nur eine christliche Identität zutage gefördert hat. (385) Reformierte Identität ist dann nicht mehr, als der historisch kontingente kirchliche Kontext von Menschen, die auf dem Weg zur christlichen Identität sind, d. h. zur Identität in Christus. Entsprechend bestimmt die Autorin als Kennzeichen reformierter Identität u. a. ihren „ex-zentrischen“ und „deiktischen“, also auf etwas anderes verweisenden, Charakter. Letztlich hat also erst derjenige eine echt reformierte Identität gewonnen, der gar keine reformierte Identität mehr haben will, weil er an der christlichen mehr als genug hat.
Dass die „Wirkungsgeschichte von Barths Lehre vom Bekenntnis kaum zu überschätzen“ ist, wie Ernst-Habib gleich zu Beginn mit einem Zitat von Georg Plasger behauptet, belegt ihre Arbeit eindrücklich. Sie selbst ist Teil dieser Wirkungsgeschichte. Die behutsame, mitunter selbstreferentielle, manchmal auch redundante Entwicklung der Gedanken zeigt, dass Karl Barth bei den Reformierten noch lebt, jedenfalls dann, wenn sie regelmäßig nach ihrer Identität fragen und eigentlich keine rechte Antwort finden, das Offenhalten der Frage aber auf Gott zurückführen und es ihm zur Ehre gereichen lassen.
Margit Ernst-Habib
Reformierte Identität weltweit.
Eine Interpretation neuerer Bekenntnisse aus der reformierten Tradition
Göttingen 2017 (FSÖTh 158)
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
ISBN: 978-3-525-56453-0
Jürgen Kaiser, Berlin