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Wie das Militär prägt
Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 20. Kapitel
Tobias Kriener schreibt:
Viel Klein-Klein – und mal wieder ein besonderer Moment…
5.11.2016
Es passiert ja immer was Interessantes – aber irgendwie lohnt es sich dann häufig doch nicht so richtig, sich hinzusetzen und es aufzuschreiben... Heute aber war mal wieder so ein besonderer Moment.
Mittwoch hat Avner Shai uns über die Bedeutung der israelischen Armee für das Land und die Gesellschaft erzählt. Er erging sich in ausführlichen Beschreibungen, wie hart die Militärzeit ist – aber ohne jedes Bedauern, sondern eher so mit der Haltung: Seht her, wie tolle superharte Hunde wir doch sind. Es wurde jedenfalls klar, dass das der eigentliche Kristallisationspunkt der israelischen Gesellschaft ist – und wer nicht beim Militär war, wird nie wirklich dazu gehören. Das gilt für uns Ausländer natürlich sowieso – aber es gilt eben auch für die arabischen Staatsbürger. Und solange das so ist, wird der Staat Israel nicht der „Staat aller seiner Bürger“ sein können und wollen. Punkt. Alles andere ist Träumerei. (So hat er's nicht gesagt – ist mein Fazit...)
Leider konnte ich nicht bis zum Ende bleiben, weil ich die Teilnehmerbeiträge des Arabisch-Kurses eintreiben musste. Konnte also keine meiner kritischen Fragen anbringen. Habe nicht mitbekommen, was die beiden jungen Frauen aus seinem Kibbutz erzählt haben, die ihren Militärdienst gerade beendet haben. Die Volos erzählten mir hinterher, dass die eine gar nichts gesagt habe, und die andere kaum zu Wort kam, weil Avner sozusagen nach jedem Satz selber den Faden aufnahm und so die Erfahrungen der jungen Frauen leider nicht so zum Ausdruck kamen.
Am nächsten Abend war Tanja Ronen aus Regba zu Gast, die uns ihre Geschichte mit Nes Ammim erzählt hat, wo mir erstmals klar wurde, was Nes Ammim tatsächlich für eine Bedeutung für Menschen in der Nachbarschaft hat: Nämlich als ein Ort, wo eine weltoffenere Atmosphäre herrscht. Für Tanja war das v.a. als junge Frau wohl sehr beeindruckend. Und für sie ist Dialog dadurch zum Lebensthema geworden.
Dann erzählte sie noch von ihrer Frauen-Dialog-Gruppe, mit der sie jetzt in den USA war. Wieder Leute, auf die ich neugierig geworden bin und mich freue, sie zu treffen.
Gestern war ich dann morgens wieder die Zeitung holen und in der Strandbar von Shavei Zion abhängen. Mein Traumort...
Nachmittags habe ich dann Ants in ihrem romantischen Garten in Shavei Zion besucht, die sich um die Senioren von Shavei Zion kümmert, und danach fragt, ob wir nicht eine Tradition wieder aufleben lassen können, die es gab, als es noch ein Altenheim in S.Z. gab: wo die Volontäre einen Nachmittag in der Chanukka-Woche mitgestaltet haben mit Musik und Geschichten. Nach der Schließung des Heims ist das eingeschlafen. Aber jetzt gibt's einen Altenclub, und da kann man das mal wieder versuchen.
Ihr Haus liegt direkt neben der Synagoge von S.Z., und so bin ich dort in die Kabbalat Shabbat gegangen – das wirklich komplette Gegenteil zu den Reformierten in jeder Hinsicht – auch wenn die Texte großenteils dieselben sind. In dieser Synagoge singen sie auch noch die sephardischen Melodien – es hört sich also sehr orientalisch an. Und es gibt natürlich keinen, der einem irgendwas erklärt. Sie lesen in einem Affenzahn (die Reformierten haben die Texte sehr eingedampft – darum können sie sich mehr Zeit lassen), um nicht allzu sehr über eine Stunde zu kommen. Auch bei ihnen wechseln sich die Vorsänger (-innen gibt's natürlich nicht) ständig ab – mehrmals haben auch Jungs im Alter von 12/13 vorgesungen. Das Hohelied wird ganz gelesen – auch von mehreren: jeder liest ein Kapitel – jeder auch mit leicht veränderter Lesemelodie. Häufig lesen sie leise vor sich hin – und wenn man nicht schon einige Kabbalat-Shabbats mitgemacht hat und weiß, welche Stichworte an welcher Stelle stehen, so dass man dann wieder einsteigen kann, wäre man hoffnungslos verloren. Die Auslegung war superkurz und völlig nichtssagend – keine Ahnung mehr, was er da für einen Gedanken vorgetragen hat. Auf jeden Fall ist das nun überhaupt nix für die Volos – und ich bin froh, dass wir die nette Emet-weShalomSynagoge der Reformierten in Naharija haben.
Was aber auf keinen Fall heißen soll, dass dieser Gottesdienst oberflächlich oder weniger „spirituell“ wäre: Sie singen mit großer Inbrunst und sind mit ganzem Herzen und ganzer Seele dabei – nur eben auf eine Art, die mir völlig fremd ist; und anders als die Reformierten haben sie eben nicht den geringsten Drang, mir ihre Art nahe zu bringen.
Abends dann habe ich (zusammen mit dem Ganz-Neu-Volo Max) Mathis ein bisschen im dishwash geholfen – er war ganz alleine eingeteilt und hätte angesichts der großen Zahl der Hotelgäste womöglich bis weit nach Mitternacht gebraucht. Da kam dann Netta (vom Hotelbüro) rein und fragte, ob ich spontan noch einer Gruppe im Hotel ein bisschen Nes Ammim erklären könnte:
Es handelt sich um eine Art Klassentreffen: Die „Jungs“ kennen sich aus der Schule vor 55 Jahren und scheinen sich jährlich mehrmals zu treffen – inzwischen auch mit den Ehegesponsten. Es ist ein ehemaliger Knessetabgeordneter darunter, mehrere Professoren, Doktoren undundund. Sie waren sehr interessiert, haben viel nachgefragt – auch heikle und kritische Fragen nach der Darstellung Israels in den deutschen Medien (ihr Wortführer liest den „Spiegel“ – ich hab' ihm geraten, was anders zu lesen...) – danach, wie Nes Ammim Stellung nimmt; eine Frau sprach die biblische Landverheißung an und was ich dazu denke. Ich habe mich so gut es geht erklärt, betont, dass wir vor allem zum Zuhören und Lernen hier sind – aber auch gesagt, dass die Besatzung halt ein Problem für Israels Image ist, und dass man Außenpolitik nicht auf der Grundlage von Heiligen Schriften machen kann, sondern nach Kompromissen suchen sollte. Hat aber nichts geschadet: Sie sind ja selber eine sehr vielschichtige Gruppe und konnten auch eine abweichende Meinung gut vertragen. Sie haben sich sehr bedankt, waren beeindruckt von Nes Ammim, machten mir Komplimente in Bezug auf mein Aussehen: dass ich schon 60 bin, wollten sie gar nicht glauben, sie hatten eher auf 40 geschätzt (heute Morgen, bei hellem Tageslicht, gingen sie nicht etwa rauf mit dem Alter, sondern meinten sogar, ich sähe aus wie 30...) – und dann haben wir uns für heute noch zu einem kleinen Rundgang verabredet.
Als ich sie dann am Eingang zum Hotel abholte heute, fragten andere Hotelgäste, ob sie auch mitgehen könnten – und so zog ich dann mit an die 50 Leuten im Schlepptau zum Museumsbus und zum HOPS. Wieder sehr angeregte Gespräche – große Sympathie für die Idee von Nes Ammim – auch große persönliche Sympathie zwischen ihnen und mir – irgendwie war da der Funke sofort übergesprungen.
Als ich mich dann verabschiedete im HOPS, blieben sie noch ein bisschen und begannen zu singen: Verse aus dem Hohen Lied zu einer dieser melancholischen osteuropäischen Melodien. Im großen Saal des HOPS mit seiner Überakustik klang das noch mal besonders gut. Und sie sangen und sangen – ich konnte mich gar nicht losreißen. Es war einfach bewegend, sie singen zu hören: Von der Sehnsucht nach dem Geliebten – in traditionell-jüdischem Verständnis natürlich Gott –, und sie erklärten mir dann, wie das für sie zusammengehört auch mit dem Judenmord in Europa – mit der Frage, wo Gott denn da gewesen ist...
Ja, das war dann wieder einer dieser Momente, die man nicht in Worte fassen kann. Wir werden in Verbindung bleiben, haben wir uns versprochen...
Als „Nachschlag“ gab's heute Abend dann noch Taize-Andacht mit Lichtinstallation der Volos.
Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, November 2016
Ein Fortsetzungs-Tagebuch auf reformiert-info. Von Tobias Kriener