Das gute Ende sehen

Predigt über 1. Mose 22,1-14


Christian Wilhelm Ernst Dietrich: Abraham spricht vor dem Opfer mit Isaak (Ausschnitt) © Wikicommons

Von Jürgen Kaiser

Wer biblisch von Gott reden will, muss Geschichten erzählen. Jede Geschichte hat einen Anfang und ein Ende und ihren eigenen „drive“. Beim Blick auf die Geschichte, die heute zu erzählen ist, ist mir klar geworden, dass es entscheidend darauf ankommt, ob ich den „drive“ der Geschichte mit Blick auf den Anfang oder mit Blick auf das Ende bekomme.

Es gibt Geschichten, die kriegen ihre Energie am Anfang. Im griechischen Drama ist das das sogenannte „erregende Moment“, eine Konstellation am Anfang, ein Wort, eine Prophezeiung gibt Spannung hinein, so dass die Erzählung läuft wie Pfeil, der von einem gespannten Bogen sein Ziel findet.

Oder eine Geschichte erhält ihre Energie vom Ende her, wird dann langsam aber kraftvoll ins Ziel gezogen wie ein Karren, der feststeckt, durch eine Seilwinde aus dem Schlamm gezogen wird. Die meisten biblischen Geschichten sind so. Man liest sie besser mit Blick auf das Ende.
Hier ist die Geschichte, um die es heute geht. So steht sie im 22 Kapitel der Genesis:

Nach diesen Begebenheiten stellte Gott Abraham auf die Probe. Er sprach zu ihm: Abraham! Er sprach: Hier bin ich. 2 Und er sprach: Nimm deinen Sohn, deinen Einzigen, den du lieb hast, Isaak, und geh in das Land Morija und bring ihn dort als Brandopfer dar auf einem der Berge, den ich dir nennen werde. 3 Am andern Morgen früh sattelte Abraham seinen Esel und nahm mit sich seine beiden Knechte und seinen Sohn Isaak. Er spaltete Holz für das Brandopfer, machte sich auf und ging an die Stätte, die Gott ihm genannt hatte. 4 Am dritten Tag blickte Abraham auf und sah die Stätte von ferne. 5 Da sprach Abraham zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel, ich aber und der Knabe, wir wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir zu euch zurückkommen. 6 Dann nahm Abraham das Holz für das Brandopfer und lud es seinem Sohn Isaak auf. Er selbst nahm das Feuer und das Messer in die Hand. So gingen die beiden miteinander. 7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Vater! Er sprach: Hier bin ich, mein Sohn. Er sprach: Sieh, hier ist das Feuer und das Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer? 8 Abraham sprach: Gott selbst wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen, mein Sohn. So gingen die beiden miteinander. 9 Und sie kamen an die Stätte, die Gott ihm genannt hatte, und Abraham baute dort den Altar und schichtete das Holz auf. Dann fesselte er seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. 10 Und Abraham streckte seine Hand aus und ergriff das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. 11 Da rief ihm der Bote des Herrn vom Himmel her zu und sprach: Abraham, Abraham! Er sprach: Hier bin ich. 12 Er sprach: Strecke deine Hand nicht aus gegen den Knaben und tu ihm nichts, denn nun weiß ich, dass du gottesfürchtig bist, da du mir deinen Sohn, deinen Einzigen, nicht vorenthalten hast. 13 Und Abraham blickte auf und sah hin, sieh, ein Widder hatte sich hinter ihm mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Da ging Abraham hin, nahm den Widder und brachte ihn als Brandopfer dar an Stelle seines Sohns. 14Und Abraham nannte jene Stätte: Der-Herr-sieht, wie man noch heute sagt: Auf dem Berg, wo der Herr sich sehen lässt.

Diese Geschichte ist an sich so ungeheuerlich, dass sie schon viele beschäftigt hat. Ich will zunächst zeigen, was mit dieser Geschichte passiert, wenn man zu sehr auf ihren Anfang fokussiert ist.

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Wer diese Geschichte heute liest oder hört, bleibt meistens schon am Anfang hängen.
Schon der erste Satz kann einen rauswerfen. Stellt Gott auf die Probe? Und dann noch einen wie Abraham, auf den Gott all seine Hoffnung setzt?
Wen nicht schon dieser Satz rausgeworfen hat, wird spätestens beim nächsten aus der Geschichte geworfen: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebhast, und opfere ihn mir!

Immanuel Kant, Sören Kierkegaard, Thomas Mann und andere nahmen noch die Hürde des ersten Satzes. Sie meinten, Gott habe tatsächlich Abraham auf die Probe stellen wollen. Sie kamen dann aber über den zweiten Satz nicht hinweg. Als Gott den Befehl gab, den Sohn zu schlachten, hätte Abraham Nein sagen sollen. Er hätte sich weigern sollen. Er hätte sagen sollen: So ein Gott ist nicht mein Gott. Er hätte Widerstand leisten sollen gegen so einen Befehl. Genau das habe Gott von Abraham erwartet. Keinen Kadavergehorsam, sondern einen Gehorsam, der nachdenkt und notfalls den Befehl verweigert. Aber Abraham habe hier versagt. Statt Nein zu sagen, sei er losgezogen, um seinen Sohn zu opfern. Leider habe Abraham die Probe nicht bestanden.

Das, liebe Gemeinde, ist eine moderne Interpretation, und sie trägt ja viel Wahrheit in sich. Wir wollen keinen fanatischen Glauben, wir sollen einen kritischen Glauben. Wenn mir jemand als Pfarrer erzählt, er wollen sein Kind töten, weil Gott es ihm befohlen habe, würde ich nicht sagen: „Ah, interessant, das ist ja wie bei Abraham“, sondern ich würde die Polizei rufen, die den Menschen in die Psychiatrie bringt, wo er hoffentlich von seinem religiösen Wahn geheilt wird.

Wer auf den Anfang dieser Geschichte blickt, bleibt dort hängen. Man kommt dann gar nicht mehr in diese Geschichte hinein, denn in dem Moment, in dem die Geschichte eigentlich losgeht, indem Abraham losgeht, ist er schon durchgefallen und alles, was dann kommt, wird ganz und gar unmöglich.

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Ich möchte aber in diese Geschichte hineinkommen. Ich möchte nicht gleich am Anfang schon aus ihr aussteigen müssen. Ich möchte mit Abraham losziehen. Wenn ich die ersten beiden Sätze auszublenden versuche, wenn ich mit Abraham und Isaak nun losziehe, als hätte ich nie gehört, was Gott dem Abraham an Ungeheuerlichem ins Ohr geflüstert hat, dann kann ich gut Schritt halten. Es liegt dann nicht einmal der Hauch einer Spannung in der Luft.

Ich begleite einen Vater mit seinem Sohn, ihren beiden Knechten und dem Esel, die früh am Morgen aufbrechen. Sie spalten Brennholz, alle legen sie miteinander Hand an, der Vater, der Sohn und die Knechte, dann ziehen sie los durch eine karge Landschaft. Drei Tage lang, bis Abraham aufblickt und etwas sieht.

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Er sagt seinen Knechten, sie sollten an Ort und Stelle bleiben mit dem Esel, und wenn wir angebetet haben, wollen wir zu euch zurückkommen
Abraham sieht etwas. Er sieht den Berg, er sieht die Opferstätte und er sieht sich zusammen mit dem Sohn von dort zurückkehren. So gehen also die beiden los. Sie gehen beide miteinander. Zweimal wird das betont. Ein an sich belangloser Satz. Aber er sagt hier fast alles. Sie gehen miteinander. In aller Seelenruhe. Kein Ziehen und kein Stoßen, kein Widerwille, keine Panik. Und wenn dann Isaak den Vater fragt: „Papa, da ist Holz und Feuer, aber es fehlt doch was. Wo ist das Lamm, das wir opfern werden?“ – dann gerät der Vater nicht in Panik und auch der Sohn fragt nicht aus einer bösen Ahnung heraus, sondern aus purer Neugier, wie aufgeweckte Kinder das tun, wenn sie von ihren Eltern lernen, wie die das tun, was zu tun ist.

Gott selbst wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen, mein Sohn.
Wer von euch immer noch den Nachhall des ungeheuerlichen Schlachtungsbefehls im Ohr hat, dem verzerrt der Nachhall den reinen und unschuldigen Klang dieser Antwort und er wird darin eine Notlüge hören müssen, die ein verzweifelter Vater sagt, um seinen Sohn nicht in entsetzliche Angst zu versetzen.

Aber ihr habt hoffentlich den Eingangssatz längst vergessen, so wie Abraham ihn längst vergessen hat. Oder besser noch: Er hat ihn nicht vergessen, aber überlagert, übertönt – nein – übermalt hat er ihn, übermalt mit einer Aussicht. Abraham sieht das gute Ende. Abraham sieht den guten Ausgang. Dieses erstaunlich Sehen Abrahams ist aufs Engste verwoben mit Gottes Sehen. Denn auch Gott sieht. Gott wird sich das Lamm ausersehen. Abraham wird am Ende – am guten Ende – diese Stätte dann auch nennen: „Der Herr sieht“.

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Das ist doch der Glaube, von dem diese Geschichte erzählt. Seine größte Fähigkeit ist eben nicht die Fähigkeit zu einer bedingungslosen Treue. Seine größte Fähigkeit ist das Sehenkönnen, die Weitsicht, das Bis-zum-Ende-Sehen-können – bis zum guten Ende. Das gute Ende sehen können. Das gute Ende klar durch alle Nebel hindurchsehen können. Abraham weiß nicht, wie diese Geschichte gut ausgehen soll. Er weiß nur: Sie wird gut ausgehen. Er sieht nur das Dass. Das Wie sieht er nicht. Aber es genügt, um seinen Weg zu gehen. Denn er sieht noch etwas. Er sieht, wie Gott das Wie sieht. Gott wird sich das Lamm ausersehen. Es wird eine Lösung geben. Ich weiß nicht, wie sie aussehen wird, aber ich weiß, Gott es weiß. Gott wird eine Lösung finden.

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Mit Blick auf das gute Ende hat Abraham den befremdlichen Anfang überspringen können. Aus einer unüberwindlichen Hürde wurde allenfalls ein Stolperstein. Was immer Gott ihm da an Ungeheuerlichkeiten ins Ohr geraunt hat – er hat es nicht für letzten Ernst genommen. Darum hat er hier nicht gleich Nein zu Gott gesagt, wie Immanuel Kant oder Thomas Mann es von ihm erwartet hätten. Er hat nicht gesagt: „Wenn du das von mir verlangst, ist hier unser gemeinsamer Weg zu Ende. Du bleibst hier und ich gehe meinen Weg mit meinem Sohn, aber ohne dich!“ Abraham hat nicht Nein gesagt, sondern sich auf diesen Weg eingelassen, auf den Weg gemeinsam mit seinem Sohn und mit Gott. Sie sind ihn zu dritt gegangen. Miteinander. Und es ging so aus, wie Abraham es gesehen hatte: Er kam vom Berg wieder, zusammen mit Isaak und mit Gott. Er hatte unterwegs weder seinen Sohn verloren, noch seinen Gott. Denn er verlor nie das gute Ende aus den Augen.

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Und wie halten wir es mit unseren Wegen? Das Leben ist voller Zumutungen und Ungeheuerlichkeiten. Das lässt sich nicht leugnen. Sagt dann nicht gleich empört Nein zu Gott! Lasst ihn nicht gleich am Anfang bei jeder Zumutung links liegen. Geht euren Weg mit Gott an der Seite. Es nimmt ein gutes Ende. Auch wenn wir in so vielem überhaupt nicht wissen wie. Auch wenn man manchmal bis zum Äußersten gehen muss wie Abraham – mit dem Messer in der Hand – es wird ein gutes Ende nehmen. Es wird ohne Opfer gehen. Es wird sich lösen, wie sich die Fesseln mit einem Mal lösten, in die Abraham seinen Sohn gelegt hatte. Abraham musste seinen Sohn nicht opfern.

Es ging nur bis zur Bindung, weshalb diese Geschichte bei den Juden die Geschichte von der Bindung Isaaks heißt und nicht wie bei den Christen die Geschichte von der Opferung Isaaks. Die Christen blicken bei dieser Geschichte immer nur auf den Anfang, die Juden wissen, dass man auf das Ende blicken muss.

Man muss die biblischen Geschichten nicht vom irritierenden Anfang her lesen, sondern vom guten Ende her. So wie wir die Geschichten unseres Lebens vom Ende her lesen müssen und nicht vom meist irgendwie verkorksten Anfang. Es wird ein gutes Ende nehmen, trotz mancher Zumutungen und Ungeheuerlichkeiten. Es wird ein gutes Ende nehmen – mit uns und der Welt und all diesen Geschichten. Es wird ein gutes Ende nehmen.

Amen.

 

Gebet

Allmächtiger und ewiger Gott,
gepriesen seiest Du, dass Du Abraham berufen und seine Nachkommen zu deinem Volk erwählt hast, gelobt seiest Du, dass Du durch Jesus Christus, den Sohn Israels, auch uns berufen hast, deine Kinder zu sein.
So bitten wir dich:
Wenn Du uns rufst, gib uns auch die Geistesgegenwart, dir antworten zu können und zu sagen: Hier bin ich, Herr.
Wenn Du uns auf den Weg schickst zu unbekannten Zielen, gib uns auch die Gewissheit, dass Du mit uns gehst. Und wenn du uns die nächsten Schritte in Nebel hüllst, halte uns doch das gute Ende klar vor Augen.
Bevor Du uns auf die Probe stellst, stärke uns den Glauben. In Versuchung führe uns nicht, sondern erlöse uns vor jeder religiösen Wahnvorstellung, dir Leben opfern zu müssen.
Die Bedrängten und Verfolgten, die Traurigen und Verzweifelten, die Kranken und Sterbenden festige im Glauben, dass Du ihnen den guten Ausgang ersehen wirst. Amen.


Jürgen Kaiser