10. Sonntag nach Trinitatis: Lukas 19,41-48 – Jesus weint über Jerusalem

von Johannes Calvin

''Wenn es jemandem jedoch befremdlich vorkommt, daß Christus hier über einen Mißstand Schmerz empfindet, dem er hätte abhelfen können, so ist leicht darauf zu antworten. Wie er aus dem Himmel zu uns kam, um in der Gestalt menschlichen Fleisches Zeuge und Diener des göttlichen Heils zu sein, so hat er auch, ganz unsere menschlichen Empfindungen angenommen, soweit das mit dem übernommenen Auftrag zusammenhing.''

Lukas 19,41-44
41 Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie 42 und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist`s vor deinen Augen verborgen. 43 Denn es werden über dich die Tage kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder einen Wall aufwerfen, dich belagern und an allen Orten ängstigen; 44 und werden dich schleifen und werden keinen Stein auf dem andern lassen, darum daß du nicht erkannt hast die Zeit, darin du heimgesucht bist.

Luk. 19, 41. Er... weinte über sie. Da Christus nichts mehr wünschte, als das ihm vom Vater aufgetragene Werk auszuführen, und da er genau wußte, daß der Zweck seiner Sendung war, die verlorenen Schafe des Hauses Israel zu sammeln, war es ihm ein Anliegen, daß sein Kommen allen das Heil bringen möge. Das war auch der Grund, warum er, von Erbarmen erfaßt, über den nahen Untergang der Stadt Jerusalem weinte. Denn wenn er bedachte, daß gerade sie von Gott zur heiligen Wohnung erwählt war, in der der Bund des ewigen Heils seine Stätte haben sollte, zum Heiligtum, von dem das Heil für die ganze Welt ausgehen sollte, mußte ihr Untergang ihn schmerzlich treffen. Und wenn er erst sah, wie das Volk, das zur Hoffnung auf das ewige Leben berufen war, durch seinen Undank und seine Bosheit jämmerlich zugrunde ging, dann war es kein Wunder, daß er die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Wenn es jemandem jedoch befremdlich vorkommt, daß Christus hier über einen Mißstand Schmerz empfindet, dem er hätte abhelfen können, so ist leicht darauf zu antworten. Wie er aus dem Himmel zu uns kam, um in der Gestalt menschlichen Fleisches Zeuge und Diener des göttlichen Heils zu sein, so hat er auch, ganz unsere menschlichen Empfindungen angenommen, soweit das mit dem übernommenen Auftrag zusammenhing. Es ist immer genau darauf zu achten, in welcher Gestalt er vor uns hintritt, wenn er spricht oder sich um das Heil der Menschen bemüht. An dieser Stelle zum Beispiel, muß er, um den Auftrag des Vaters treu auszuführen, sehnlich wünschen, daß die Frucht der Erlösung dem ganzen erwählten Volk zugute komme. Da er also diesem Volk als Diener für sein Heil gegeben war, beklagt er vom Standpunkt seines Amtes aus den Untergang dieses Volkes. Natürlich war auch er Gott; aber immer wenn er in seinem Amt als Lehrer auftrat, verbarg er gewissermaßen seine Gottheit, um nicht seinem Amt als Mittler hinderlich zu sein. Im übrigen beweist Christus mit seinem Weinen, daß er die, um derentwillen er Mensch geworden war, nicht nur wie ein Bruder liebte, sondern daß auch der Geist väterlicher Liebe von Gott in seine menschliche Natur ausgegossen war.

Luk. 19, 42 „Wenn doch auch du erkenntest...“ Die Rede ist bewegt und geht darum in abgebrochenen Sätzen. Wir wissen ja, je mehr wir in heftigen Gefühlen aufwallen, desto weniger können wir ihnen Ausdruck verleihen. Außerdem kommen hier zwei Empfindungen zusammen: Christus beklagt nicht nur den Untergang der Stadt, sondern er hält dem undankbaren Volk auch seinen schlimmsten Fehler vor, daß es das ihm dargebotene Heil abweist und dadurch selbst Gottes furchtbares Gericht auf sich herabzieht. Betont ist das Wörtchen auch, das eingeschoben ist. In Gedanken vergleicht Christus Jerusalem mit den andern Städten Judäas, ja er vergleicht es mit Städten aus der ganzen Welt. Er meint: Wenn doch auch du, die du einen besonderen Vorzug vor der ganzen Welt genießt, wenn du wenigstens, die du ein himmlisches Heiligtum auf der Erde bist, erkennen würdest. Es folgt dann eine zweite Unterscheidung: Zu dieser Zeit. Damit will Christus sagen: Obwohl du dich bisher in deinem Trotz frevlerisch und böse gegen Gott gebärdet hast, wäre es doch wenigstens jetzt an der Zeit, daß du in dich gingest. Damit deutet er an, daß der Tag bereits da sei, der nach dem ewigen Ratschluß Gottes für das Heil Jerusalems bestimmt und von den Propheten angekündigt war (vgl. Jes. 49, 8; 2. Kor. 6, 2; Jes. 55, 6): Jetzt ist die angenehme Zeit; dies ist der Tag es Heils; suchet den Herrn, solange er sich finden läßt, rufet ihn an, denn er ist nahe. Mit dem Wort „Frieden“ bezeichnet die hebräische Sprache alles, was zur Glückseligkeit gehört. Christus behauptet nicht einfach, Jerusalem kenne sein Heil nicht, sondern es erkenne nicht, was zu seinem Heil „dient“. So ist es ja oft, daß die Menschen sich über ihr Glück sehr wohl im klaren sind; aber sie sind durch ihre Bosheit so verblendet, daß sie den Weg und die Mittel dazu nicht erkennen. An der Mischung von Erbarmen und Tadel können wir übrigens erkennen, daß die Menschen um so härtere Strafe verdienen, je herrlicher die Gaben sind, mit denen sie ausgestattet wurden; denn dann kommt zu anderen Sünden noch die frevelhafte Verachtung der göttlichen Gnade. Weiter müssen wir beachten, daß wir, je näher Gott uns das Licht seiner heilsamen Predigt bringt, desto weniger zu entschuldigen sind, wenn wir diese Gelegenheit nicht nutzen. Zwar ist die Tür zum Heil immer offen; aber weil Gott zuweilen auch schweigt, ist es ein ganz besonderes Geschenk, wenn er uns mit lauter Stimme freundlich zu sich einlädt; darum erwartet den Verächter auch eine um so schwerere Strafe.

„Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.“ Das wird nicht gesagt, um die Schuld Jerusalems zu verharmlosen. Im Gegenteil, zur Schande Jerusalems wird sein unnatürlicher Stumpfsinn hervorgehoben, daß es Gott, der vor ihnen steht, nicht erkennt. Zwar kann Gott allein die Augen von Blinden öffnen, und niemand ist fähig, in die Geheimnisse des himmlischen Reiches zu blicken, den Gott nicht im Inneren mit seinem Geist erleuchtet. Das heißt jedoch nicht, daß man die entschuldigen muß, die durch ihre grobe Verblendung untergehen. Christus wollte den Anstoß aufheben, der sonst Ungebildete und Schwache hätte hindern können. Denn da aller Augen an jener Stadt hingen, war ihr Beispiel in guter wie in schlechter Hinsicht von großer Bedeutung. Darum wird sie wegen ihrer gräßlichen Verblendung verurteilt, damit ihr Unglaube und ihre hochmütige Verachtung des Evangeliums niemandem schade.

Luk. 19, 43. „Denn es werden über dich die Tage kommen.“ Nun nimmt Christus gewissermaßen die Gestalt des Richters an und findet noch härtere Worte über Jerusalem. So tun es auch die Propheten. Obwohl sie unter Tränen das Schicksal derer verfolgen, um derentwillen sie in Angst sein müssen, nehmen sie sich doch zusammen, um harte Ankündigungen auszusprechen, weil sie wissen, daß ihnen nicht nur die Sorge für das Heil von Menschen anvertraut ist, sondern daß sie auch zu Herolden des göttlichen Gerichts bestimmt sind. Von diesem Gesichtspunkt aus kündigt Christus Jerusalem schreckliche Strafen an, weil es die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannte, das heißt, weil es den ihnen dargebotenen Erlöser verschmähte und seine Gnade nicht annahm. Die grausame Strafe, die Jerusalem über sich ergehen lassen mußte, soll uns eine Warnung sein, daß wir nicht in unserer Gleichgültigkeit das Licht des Heils ersticken, sondern eifrig darauf aus sind, die Gnade Gottes zu gewinnen, ja, daß wir ihr tatkräftig entgegenlaufen.

Lukas 19,45-48
45 Und er ging in den Tempel und fing an auszutreiben, die da verkauften, 46 und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jes. 56, 7): „Mein Haus soll ein Bethaus sein“, ihr aber habt`s gemacht zur Räuberhöhle. 47 Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohepriester und Schriftgelehrten und die Vornehmsten im Volk trachteten danach, daß sie ihn umbrächten, 48 und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn alles Volk hing ihm an und hörte ihn.

Die Berichte des Matthäus und Markus über den vertrockneten Feigenbaum Reichen voneinander ab. Matthäus läßt das Ereignis an dem Tag stattfinden, an Christus sich als der König bekannt hatte; Markus scheint es dagegen auf folgenden Tag zu verschieben. Diese Schwierigkeit ist leicht zu lösen; denn die beiden stimmen darin überein, daß Christus den Baum verflucht habe am Tag nach seinem feierlichen Einzug in die Stadt. Nur berichtete Markus noch, was von Matthäus übergangen wurde, daß die Jünger die Sache erst einen Tag später bemerkten. Obwohl Markus also die zeitliche Reihenfolge genauer angibt, enthält er doch nichts Abweichendes. Deutlicher scheint er jedoch sowohl von Matthäus wie von Lukas abzuweichen in der Geschichte von der Zurechtweisung der Tempelhändler. Denn während jeder der beiden andern versichert, Christus habe sofort nach seinem Betreten der Stadt und des Tempels die Verkäufer und Käufer hinausgetrieben, sagt Markus einfach, Christus habe sich alles angesehen; die Austreibung selbst verlegt er dann auf den folgenden Tag. Meine  Vermutung geht dahin, daß Markus, nachdem er die Reinigung des Tempels ursprünglich nicht erzählt hatte, sie dann nicht an der richtigen Stelle einfügte. Er berichtet, Christus sei am ersten Tag in den Tempel gegangen und habe sich dort alles angesehen. Wozu aber sollte er sich so sorgfältig umgeschaut haben, wenn er nicht Mißbräuche hätte abstellen wollen? Denn da er nach seiner Gewohnheit den Tempel schon früher häufig aufgesucht hatte, war ihm der Anblick dort nichts Neues mehr. Statt daß nun Markus sofort im Anschluß daran berichtete, daß Christus die Verkäufer und Käufer aus dem Tempel hinauswarf, läßt er Christus die Stadt erst wieder verlassen. Was er jedoch an Erzählenswertem ausgelassen hatte, bringt er später nach. Allerdings könnte man auch mehr der Meinung sein, daß Markus auch bei dieser Geschichte die zeitliche Leihenfolge genau eingehalten hat, die die beiden andern übergingen. Denn wenn sie auch durch ihren Zusammenhang einen fortlaufenden Faden zu spinnen scheinen, ist es doch nicht ganz abwegig, daß man bei ihnen beiden die Geschichten auseinanderzieht, weil sie nämlich keinen bestimmten Tag angeben. Mir sagt jedoch die zuerst genannte Vermutung mehr zu. Denn es ist doch anzunehmen, daß Christus diesen Beweis seiner Vollmacht vor versammelter Volksmenge gegeben hat. Wie man sich übrigens auch entscheiden mag, jedenfalls kann uns diese Verschiedenheit des Berichts nicht mehr stören, wenn wir bedenken, wie wenig die Evangelisten an genauen Zeitangaben interessiert sind.

Matth. 21, 10. „Und als er zu Jerusalem einzog...“ Matthäus erzählt, die ganze Stadt sei bewegt gewesen. Christus hatte also die Sache nicht verstohlen und im geheimen ausgeführt, sondern vor den Augen des gesamten Volkes und mit Wissen der Priester und Schriftgelehrten. Durch die verächtliche Hülle des Fleisches war also die Herrlichkeit des Geistes sichtbar geworden. Denn wieso hätten sonst alle geduldet, daß Christus, trotz der großen Gefahr, die damit verbunden war, in königlicher Pracht in die Stadt einzog, wenn sie von seinem Auftreten nicht geradezu gebannt gewesen wären? Es zeigt sich also, daß sich der Einzug Christi nicht im geheimen abgespielt hat und daß sich seine Feinde nicht deshalb ruhig verhalten haben, weil sie ihn verachteten, sondern weil sie vielmehr von einer geheimen Angst gehalten waren. Gott hatte ihnen den Mut genommen, etwas zu unternehmen. Übrigens wird hier die hochmütige Gleichgültigkeit des Städter getadelt, dergegenüber die Frömmigkeit der Landbevölkerung gelobt wird. Denn mit ihrer Frage, wer denn der Mann sei, der einen solchen Auflauf zustande bringe, beweisen sie, daß sie nicht gerade zu den engsten Begleitern Christi gehören.

Matth. 21, 12. „Und Jesus ging in den Tempel hinein.“ Obwohl Christus öfter zum Tempel hinaufstieg und ihm dieser Mißbrauch immer wieder unter die Augen kam, hat er doch nur zweimal Hand angelegt, ihn abzustellen: einmal, am Anfang seiner Sendung [Calvin denkt an Joh. 2, 13ff.], und nun wieder beinahe am Ende seiner Laufbahn. Aber obgleich sich eine schmähliche, gottlose Unordnung uneingeschränkt durchgesetzt hatte und der Tempel mit seinen Heiligtümern dem Untergang geweiht war, begnügte sich Christus damit, die Schändung des Tempels nur zweimal öffentlich zu brandmarken. Als er begann als von Gott gesandter Lehrer und Prophet, machte er es sich zur Aufgabe, den Tempel zu reinigen, um die Juden aufzuwecken und aufmerksamer zu machen. Jetzt aber, am Ende seiner Laufbahn, gebraucht er seine Macht ein zweites Mal und zeigt den Juden die Entheiligung ihres Tempels, indem er zugleich darauf hinweist, daß eine Erneuerung bevorstehe. Dabei ist jedoch völlig klar, daß Christus sich damit als König und oberster Priester, als Schutzherr des Tempels und Gottesdienstes, bezeugte. Das ist darum so wichtig, damit nicht jeder beliebige auf die Idee kommt, er für seine Person könne sich dasselbe leisten. Der Eifer allerdings, durch den Christus zu dieser Handlung gedrängt wurde, sollte allen Frommen gemeinsam sein. Damit sich aber nicht jemand unter dem Vorwand, Christus nacheifern zu wollen, unüberlegt in eine solche Sache stürzt, ist wohl zu überlegen, was unsere Berufung von uns will und wie weit wir nach Gottes Auftrag gehen dürfen. Wenn ein solcher Unrat in die Gemeinde eingedrungen ist, sollten alle Kinder Gottes darüber traurig sein. Aber da Gott nicht allen die Waffen dazu in die Hand gegeben hat, sollen die Privatleute darüber seufzen, bis Gott Abhilfe schafft. Ich gebe allerdings zu, daß jeder, der bei einer Beschmutzung des Hauses Gottes nicht tiefes Unbehagen empfindet, mehr als stumpfsinnig ist und daß es nicht ausreicht, nur innerlich traurig zu sein, sondern daß man sich selbst von der Verunreinigung fernhalten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit laut bezeugen muß, wie sehr man sich nach einer Änderung der Lage zum Besseren sehnt. Wer aber keine öffentliche Befugnis hat, muß sich damit begnügen, die Mängel, die er kraft seiner Vollmacht nicht abschaffen kann, mit der Zunge, die ihm niemand sperren kann, zu bekämpfen. Hier erhebt sich jedoch die Frage, warum Christus, der noch sah, wie der Tempel voll war voll abergläubischen Irrbräuchen, nur einen verhältnismäßig geringen oder doch wenigstens einigermaßen erträglichen Mißstand angegangen ist. Es war nicht Christi Wille, alle heiligen Bräuche auf ihren ursprünglichen Sinn zurückzuführen, und er hat auch keine Betrachtungen darüber angestellt, welche Mißbräuche die größeren oder kleineren seien, sondern seine Absicht war nur, anhand eines sichtbaren Zeichens klarzumachen, daß ihm die Reinigung des Tempels von Gott au getragen und daß der ganze Gottesdienst durch häßliche, handgreifliche Mißbräuche verderbt sei. Jenes Schachern entbehrte zwar nicht eines Scheins des Rechtes; es sollte das Volk der Mühe entheben, sich die Opfer von fern her besorgen zu müssen. Außerdem war es angenehm, wenn man gleich das Geld zur Hand hatte, das man opfern wollte. Außerdem saßen die Wechsler gar nicht innerhalb des Heiligtums selbst, und auch die Opfertiere wurden nicht dort verkauft, sondern nur im Vorhof, den man zuweilen auch unter den Namen „Tempel" einbezieht. Trotzdem bedeutete es eine Entweihung, die man auf keinen Fall dulden durfte; denn nichts schlägt der Majestät des Tempels mehr ins G sieht, als wenn man dort einen Warenmarkt einrichtet und Geldgeschäfte abwickelt. Und Christus ging um so schärfer dagegen an, als es in der Öffentlichkeit bekannt war, daß diese Sitte nur aus der schändlichen Gewinnsucht der Priester entstanden war. Denn wer etwa einen mit mancherlei Waren schön ausgestatteten Laden betritt, läßt sich, obwohl er gar nicht im Sinn hatte, etwas zu kaufen, wohl auch einmal verlocken und ändert seine Absicht. So hatten die Priester ihre Netze ausgespannt, um Opfergaben einzuheimsen und jeden Temelbesucher für sich auszubeuten.

Matth. 21, 13. „Es steht geschrieben.“ Christus führt zwei Zeugnisse aus den Propheten an: Jes. 56, 7 und Jer. 7, 11. Die Stelle aus Jesaja paßte besonders gut auf den vorliegenden Fall: dort wird nämlich die Berufung der Heiden vorausgesagt. Jesaja verheißt also nicht nur, Gott werde dem Tempel seine ursprüngliche Herrlichkeit wieder schenken, sondern auch, daß alle Völker aus allen Richtungen dort zusammenströmen werden und daß der ganze Erdkreis eines Sinnes sein werde in wahrer, aufrichtiger Frömmigkeit. Es ist zwar sicher, daß der Prophet hier bildlich redet; denn wenn die Propheten von dem geistlichen Gottesdienst sprechen, der unter der Herrschaft Christi kommen sollte, bedienen sie sich der Schattenbilder des Gesetzes. Und es ist gewiß auch niemals in Erfüllung gegangen, daß alle Völker nach Jerusalem hinaufstiegen, um dort anzubeten. Wenn Jesaja also ankündigt, der Tempel werde eine Stätte des Gebets für alle Völker sein, hätte er statt dessen auch sagen können, die Heiden sollten zur Gemeinde Gottes versammelt werden, um zusammen mit den Kindern Abrahams einstimmig den wahren Gott anzurufen. Da Jesaja aber nun den Tempel erwähnt, der damals die sichtbare Stätte für die Gottesdienste war, wirft Christus den Juden zu Recht vor, sie hätten den Tempel gegen seine Bestimmung mißbraucht. Der Sinn ist also: Gott wollte den Tempel bis heute erhalten als ein Zeichen, auf das alle seine Anbeter ausgerichtet sein sollen. Wie unwürdig und frevelhaft ist es also, ihn in einen öffentlichen Marktplatz zu verwandeln! Außerdem war zur  Zeit Christi dieser Tempel wirklich das Haus des Gebets, da ja das Gesetz mit seinen Schattenbildern noch in Kraft stand. Er wurde dann für alle Völker zum Haus der Anbetung, insofern von dort die Verkündigung des Evangeliums ausging, die den ganzen Erdkreis in Einmütigkeit des Glaubens zusammenschloß. Und obwohl der Tempel kurze Zeit darauf von Grund auf zerstört wurde, steht uns doch bis heute die Erfüllung dieser prophetischen Verheißung vor Augen. Denn da das Gesetz einmal von Zion ausgegangen ist, müssen alle, die richtig beten wollen, auf diesen Anfang zurückschauen. Natürlich gibt es keine besonderen Orte, da der Herr überall angerufen sein will. Aber wie man von den Gläubigen, die sich zu dem Gott Israels bekennen, sagt, sie redeten die Sprache Kanaans, so heißt es von ihnen auch, sie gingen in den Tempel, weil von dort die wahre Gottesoffenbarung kam. Ebendort befand sich auch der Quell der Wasserströme, die in kurzer Zeit so wunderbar gewachsen sind und in reicher Fülle dahinfließen, um denen das Leben zu bringen, die daraus trinken, wie Ezechiel (vgl. 47, 9) sagt, oder die, nach Sacharja (vgl. 14, 8), vom Tempel ausgehen und sich dann vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang ausbreiten. Obwohl wir heute auch Gotteshäuser für unsere frommen Versammlungen benutzen, liegt die Sache doch etwas anders. Seit Christus offenbart worden ist, braucht uns das Bild seiner Gegenwart nicht mehr äußerlich und schattenhaft vor Augen gestellt zu werden wie einst den Vätern unter dem Gesetz. Wir müssen außerdem beachten, daß der Prophet mit dem Wort „Beten" den gesamten Gottesdienst meint. Denn wie mannigfach auch die Fülle der Zeremonien damals war, so wollte Gott den Juden kurz einprägen, was sie alle eigentlich bedeuteten, nämlich daß er im Geist verehrt sein wolle, wie es noch deutlicher im Ps. 50 ausgedrückt ist. Dort gründet Gott auch alle Übungen der Frömmigkeit auf das Gebet.

„Ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus.“ Christus erklärt, die Klage des Jeremia treffe auch auf seine Zeit zu, in der es mit dem Tempel nicht weniger im argen liege. Der Prophet wirft den Heuchlern vor, daß sie sich im Vertrauen auf den in Besitz des Tempels die Freiheit nahmen zu sündigen. Denn während es Gottes Plan war, die Juden durch äußere Zeichen wie durch eine Vorschule zur wahren Frömmigkeit zu erziehen, begnügten sich die Heuchler, wie es unter solchen Leuten üblich ist, mit dem nichtigen Vorwand, den Tempel zu haben, und verkehrten dabei Gottes Wahrheit in Lüge, als ob es ausreichte, seine Aufmerksamkeit nur auf die äußeren Zeremonien zu richten. Demgegenüber behauptet der Prophet, daß Gott in keiner Weise an den Tempel oder die Zeremonien gebunden sei und daß man sich darum bitter täuscht, wenn man sich auf den Tempel etwas zugute tut, den man zu einer Räuberhöhle gemacht hatte. Denn wie die Räuber in ihren Höhlen nur noch frecher sündigen in der Meinung, dort könnten sie es ungestraft tun, so wächst bei den Heuchlern unter dem erlogenen Vorwand, fromm zu sein, die Verwegenheit, daß sie schließlich glauben, Gott gewissermaßen betrügen zu können. Da man das Bild von der Höhle auf alle Arten von Verderbnis beziehen muß, wendet Christus diese Stelle aus dem Propheten sehr passend auf den vorliegenden Fall an. Bei Markus (11, 16) wird noch hinzugefügt, Christus habe verboten, daß jemand ein Gefäß durch den Tempel trage. Das Bedeutet, er habe nicht geduldet, was mit dem Heiligtum nicht in Einklang stand. Mit dem Wort „Gefäß" meint die hebräische Sprache alle Art von Geräten. Kurz: Christus verbot alles, was der Ehrfurcht gegenüber dem Tempel und seiner Herrlichkeit widersprach. (...)

Luk. 19, 47. „Und er lehrte täglich im Tempel.“ Markus und Lukas zeigen zuerst, aus was für einer Art Menschen sich die Gemeinde zusammensetzte: aus der ungebildeten Masse des Volkes. Und dann zeigen sie, welche Feinde Christus gehabt hat, nämlich die Priester und Schriftgelehrten und alle Höhergestellten. Das ist ein Teil der Torheit des Kreuzes, daß Gott das in der Welt Hervorragende übergeht und sich das Törichte, Schwache und Verachtete aussucht. Außerdem erwähnen die Evangelisten, daß jene trefflichen Führer der Gemeinde Gottes eine Gelegenheit suchten, um Christus aus dem Weg zu räumen. Darin enthüllt sich ihre verbrecherische Gottlosigkeit. Denn wenn sie auch eine rechtmäßige Ursache dafür gehabt hätten, Christus nachzustellen, so war es doch keine Art und Weise, wie Räuber und Mörder seine Vernichtung anzustreben oder ihm im geheimen Meuchelmörder zuzutreiben. Als drittes zeigen die Evangelisten, daß ihre gottlose Verschwörung nicht zum Ziel kam, weil Christus nach dem verborgenen Ratschluß Gottes zum Tode am Kreuz bestimmt war.


Aus: Otto Weber, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Dreizehnter Band: Die Evangelien-Harmonie 2. Teil, Neukirchener Verlag, 1974, S. 174-182. 186.
 

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