100 Jahre Paul Celan
"Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben…
…ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben." schrieb der Philosoph Theodor W. Adorno 1949 in einem Aufsatz.
Paul Celan hatte seit langem großes Interesse an Adorno. Er war für ihn der jüdische Intellektuelle, der nach Deutschland zurückgekehrt war. Der die deutsche Nachkriegsgesellschaft kritisch begleitete Der über Heine, Kafka und Schönberg geschrieben hatte.
Wie konnte der Jude Adorno ihm, der die Spuren der Vernichtung für immer an sich trug, das Recht absprechen, das Leiden zur Sprache zu bringen? „Was wird hier als Vorstellung von ‚Gedicht' unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht, hypothetisch - spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu berichten" schrieb Celan später in seinen Notizen.
Im Sommer 1959 sollte es zur Begegnung der beiden kommen. Peter Szondi, Adorno-Schüler und mit seiner Familie als ungarischer Jude KZ-Häftling, hatte sich bemüht, ein Treffen in Sils-Maria im Engadin zu arrangieren. Celan kam dort hin mit seiner Frau Gisèle und seinem Sohn Eric, unternahm mit Szondi Spaziergänge in langen Minuten des Schweigens vor der fremden Natur. Aber noch bevor Adorno eintraf, fuhr die Familie Celan zurück nach Paris.
Celan äußert sich auf seine Weise. Er schreibt eines seiner wenigen Prosastücke: „Gespräch im Gebirg“. Er nennt es ein „Mauscheln“ zwischen sich und Adorno. Es ist ein Gespräch zwischen zwei Juden über die Sprache. Die deutsche Sprache, die einem Juden nach Auschwitz bleibt. Mit allen Verwerfungen und Abgründen. Celan lehnt sich dabei sprachlich an das Jiddische an (von dem er sonst von Kindheit auf Distanz hielt): Jiddisch war die Alltagssprache der osteuropäischen Juden. Mit deren Auslöschung hätte auch die Sprache ausgelöscht werden.
„Jud Klein“ und „Jud Groß“ sprechen miteinander. Und Celan, der Meister der Chiffren und Rätsel, erzählt offen: Dies sei das Gespräch des Juden Celan mit dem Juden Adorno gewesen. Er schickte das Stück Adorno zu – der bedankte sich „aufs herzlichste für ihr höchst merkwürdiges und hintergründiges Prosastück.“
Doch dabei blieb es. Adorno schrieb Bücher über die konservativen Lyriker Rudolf Borchardt und Wilhelm Lehmann, nie über Celan. Auch kein solidarischer Beistand des prominenten Gelehrten, als der damals hoch angesehene Lyriker Hans Egon Holthusen, ein früherer SS-Mann, Celan als "Fremdling und Außenseiter der dichterischen Rede" bezeichnete, dessen Metapher von den "Mühlen des Todes", künstlich und daher "gänzlich tot" sei.
Später schrieb Celan seinem Freund Reinhard Federmann von Sils, "wo ich den Herrn Prof. Adorno treffen sollte, von dem ich dachte, dass er Jude sei…“ Das war dieser zweifellos – aber auf eine so diskrete Art, dass er seinerzeit den Geburtsnamen seiner Mutter angenommen hatte und den Namen des jüdischen Vaters zum Kürzel „W.“ stilisierte. Eben „Jud Groß“, wie Celan schrieb.
Albrecht Thiel, Castrop-Rauxel