Hingabe, nicht Opfer!

Predigt von Gudrun Kuhn aus Nürnberg über Johannes 11, 47-53

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Jesus war kein passives Opfer, dessen Leben zur Besänftigung Gottes stellvertretend geopfert werden musste. Jesus hat sein Leben lang sich hingegeben für Gottes Kinder - und das bis in den Tod.

Liebe Gemeinde,

sind Sie schon einmal Opfer geworden? Hat man an Ihnen schon einmal ein Exempel sta­tu­iert? Mussten Sie schon einmal für etwas büßen, was Sie gar nicht zu verantworten hatten? Ich wünsche Ihnen sehr, dass nicht.

Aber so etwas kommt nicht selten vor. Da opfert ein Ministerium einen Staats­se­­kretär, der für die Vorwürfe grade stehen muss, die seinem Minister gemacht werden. Da ent­­lässt ein Un­ter­nehmen einen Mitarbeiter, um die Machenschaften der Führungsriege zu ver­tuschen. Da greift ein Lehrer einen aus der Klasse heraus, um an ihm zu zeigen, wie die Strafe für alle aus­sehen könnte. Stellvertretend. Einer für die anderen.

Wir nehmen das hin. Wir halten das vielleicht für bedauerlich, aber tun nicht wirklich etwas da­gegen. Und wir merken gar nicht, welchem archaischen Muster wir da folgen. Der Reflex eines solchen uralten Mechanismus ist noch in der Jona-Geschichte aus der Le­sung zu fin­den. Dass da einer ins Wasser geworfen wird, um das Wüten des Mee­resgottes zu be­sänf­­ti­gen, ist das ur­sprüng­liche Muster der Erzählung. Aber heute wie damals muss einer gehen, damit die Ordnung des Systems bestehen bleibt. Einem wird vorgeworfen, was alle zu verantworten hätten. Einer wird zum Opfer gemacht.

Hören Sie dazu den Text, mit dem im Johannesevangelium die Erzählung von Jesu Passion beginnt.

Johannes 11

47 Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen. 48 Lassen wir ihn so, dann werden sie alle an ihn glau­ben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute. 49 Einer aber von ihnen, Kaiphas, der in dem Jahr Hoherpriester war, sprach zu ihnen: Ihr wisst nichts; 50 ihr be­denkt auch nicht: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das gan­ze Volk verderbe. 51 Das sagte er aber nicht von sich aus, sondern weil er in dem Jahr Ho­her­priester war, weissagte er, dass Jesus sterben würde für das Volk 52 und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen. 53 Von dem Tage an war es für sie beschlossen, dass sie ihn töteten.

Sie haben sicher gemerkt, an welcher Stelle des Textausschnitts ich hängengeblieben bin: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das gan­ze Volk verderbe. Das Böse der Gegner Jesu ist ganz banal.

Einer muss gehen, damit die Ordnung des Systems bestehen bleibt, damit die römische Be­sat­­zungsmacht sich nicht provoziert fühlt. Immerhin vollbrachte dieser dahergelaufene Na­za­re­ner Dinge, die das Volk als messianische Zeichen verstand. Aber ein Messias, ein kö­nig­li­cher Davidssohn - das konnte für die Römer nur heißen: ein rebellierender Anführer, ein auf­stän­­discher Judenkönig. Und das ohne Eingreifen der Behörden? Nein, einer solchen Ver­däch­­­tigung wollte sich der Hohe Rat nicht aus­setzen. Darum: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das gan­ze Volk verderbe.

Einem wird vorgeworfen, was alle zu verantworten hätten, die Unruhen im Land. Die ein­fa­chen Leute in Judäa und Galiläa hatten erleben müssen, wie die priesterliche Oberschicht nur noch am Erhalt der eigenen Privilegien interessiert war. Sie hatten erleben müssen, dass der Feind nicht nur in Rom sitzt, sondern auch am Tempel, wo die Dynastie der Priester längst nicht mehr nach den Weisungen der Tora fragte und lebte. Wie naheliegend also, dass gerade diese Priester ein Angstszenario aufbauen: … dann kommen die Römer und neh­men uns Land und Leute. Das Schreckgespenst eines äußeren Feindes war schon im­mer nützlich, um von eigenen Verantwortlichkeiten abzulenken. Darum: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das gan­ze Volk verderbe.

Einer wird zum Opfer gemacht. Auch hier ein leicht zu durchschauender Droh-Mechanismus: Da wird ein schlechtes Gewissen produziert. Und wenn dann möglichst viele in Furcht und Schrec­ken verfallen sind, wird Hilfe versprochen. Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das gan­ze Volk verderbe.

Ein kluger Kopf also, dieser Kaiphas. So sind wir geneigt zu urteilen. Vorsicht!

Weder die Worte eines Kaiphas oder Pilatus noch die Worte Jesu sind Zitate im heutigen Sinn. Genauso wenig sind die in den Passionserzählungen dargestellten Details historisch. Das Wissen über den Prozess und die Hinrichtung Jesu ist und bleibt äußerst schmal. Als ge­­­si­chert kann gelten, dass er in Folge eines mehr oder weniger regelrechten Prozesses ge­kreu­zigt wurde. Als gesichert kann gelten, dass der Vorwurf politisch war: Aufruhr gegen die römische Provinzverwaltung. Als gesichert kann gelten, dass die jüdische Oberschicht, die mit den Römern kollaborierte und sich für den eigenen Machterhalt interessierte, an dem Ge­sche­hen beteiligt war.

Was uns die Bibel darüber hinaus überliefert, sind theologische Deutungen von Jesu Tod, un­­terschiedliche theo­logi­sche Deutungen, die zwei bis drei Generationen später in Ge­schich­ten ein­ge­klei­det wurden. Glaubenserfahrungen. Nicht mehr. Aber erst recht nicht weniger.

Wie man sich das vorzustellen hat? Der Predigttext bietet ein treffliches Beispiel, um das zu erläutern. Im Evangelium soll die Beteiligung der "Juden" am Prozess Jesu verständlich gemacht werden, auch wenn man - Ende des Jahrhunderts - darüber nichts Genaues mehr weiß. Drei Interpreta­tions­lini­en zeichnen sich ab:

1. Deutung

Die aktuellen Erfahrungen der johanneischen Gemeinde mit Juden werden auf die Zeit Jesu zu­­rück­­pro­jiziert. Hohepriester und einen Hohen Rat gibt es zur Entstehungszeit des Evan­ge­liums nicht mehr. Nach der Zerstörung des Tem­pels durch die Römer im Jahre 70 ver­sam­meln sich die Juden in den Syna­go­gen um die To­ra, die Schrift und Leh­re, als ihr ein­zig ver­blie­benes Heiligtum. Ihre geistlichen Führer sind die Schriftgelehrten, die Pharisäer, die zur Zeit Jesu wie dieser im Wi­­der­spruch gegen die Priesterelite in Je­rusalem standen. Aber das kön­nen sich die Christen 50 Jahre spä­ter nicht mehr vor­stel­len. Zu sehr liegen sie im hef­ti­gen Streit mit der jüdischen Ge­meinde vor Ort. Also werden die eigenen Feinde auch zu Fein­den Jesu. Wie heißt es im Text? Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat. Ganz einfach: Alle Juden sind schuld an Jesu Tod. So wird die Pas­sions­ge­schich­te - falsch gelesen - zur Wurzel des Antijudaismus und Antisemitismus. Mit verheerender Wirkung, wie wir wis­sen.

2. Deutung

Allgemein menschliche Erfahrungen und Verhaltensweisen werden als Motive für das Han­deln des Hohen Rats angenommen. Einer muss gehen, damit die Ordnung des Systems be­stehen bleibt. Einem wird vorgeworfen, was alle zu verantworten hätten. Einer wird zum Op­fer gemacht. So wird die Passionsgeschichte - allgemein gelesen - zu einem Gleichnis für unser eigenes falsches Handeln. Mit moralischer Wirkung, wie zu hoffen ist.

3. Deutung

Hier geschieht etwas Aufregendes. Die Rede des Kaiphas ist gewissermaßen zweistimmig. Er sagt, dass Jesus sterben solle für das Volk. Was das aus seiner Sicht bedeutet, ist uns klar geworden. Doch die christliche Gemeinde hört in diesen erzählten Worten etwas ganz anders. Jesus wird sterben. Aber nicht so wie es gemeint war: Nicht für das Volk, sondern für alle Kinder Gottes. So wird der Hohepriester zum unfreiwilligen Weissager. Mit welt­um­span­nender Wirkung, wie die Ge­schich­te des Chris­tentums zeigt.

Das ist weit mehr als eine wunderhafte Geschichte. Das verändert die Welt. Denn indem der Evangelist dem Hohenpriester das Wort im Mund umdreht, dreht er auch dessen Opferlogik um. Die christliche Gemeinde, die den Gekreuzigten als den Auferweckten bekennt, ver­kün­det damit das Ende aller Opfer. Nie wieder soll es eine Situation geben, in der es gut ist, wenn einer für andere sterben muss.

Vielleicht wollen Sie mir hier nicht folgen. Wieso soll Jesu Sterben am Kreuz das Ende aller Opfer sein? Lesen wir nicht immer wieder im Katechismus von Christi "Opfertod"? Unsere Karfreitagslieder sind voll von solchen Formeln: Dass er für uns geopfert würd, trug unsrer Sünden schwere Bürd wohl an dem Kreuze lange. Einer unserer wunderbarsten Pas­sions­cho­räle!

Wie soll man ihn noch singen können? Diese grausame Vorstellung vom Gericht Gottes, der an seinem eigenen Sohn die Strafe vollzogen hat, die die Sünder nicht ableisten können. Einer für alle.

Aus einer Umdeutung des Opfer-Gedankens, wie sie in unserem Predigttext an­gelegt ist, wird auf diese Weise plötzlich ein quasi juristischer Sachverhalt. Und die Gerechtigkeit Got­tes wird zu einem sadistischen Racheakt. Den eigenen Sohn hinschlachten … Was für eine perverse Religion. Oft genug wird uns das von Kirchenkritikern vorgeworfen. Ist es ein Wunder, dass man in einem solchen Denksystem auch selbst wieder andere ge­opfert hat? Den Ketzer verbrennen, damit nicht das ganze Volk verderbe. Die Ge­dan­ken­frei­heit op­fern, da­mit die reine Lehre erhalten bleibe. Mit schlechtem Vorbild ging die Kirche da voran. Und hat es so auch nicht vermocht, den Opfermechanismus der mo­der­nen Ge­sell­schaf­ten zu verhindern. In ihnen muss man eben Ver­kehrsopfer hin­nehmen, da­mit die Auto­mo­bil­wirt­schaft nicht verderbe. In ihnen muss man eben Rationalisie­rungs­opfer hinnehmen, damit das Wirt­schaftswachstum nicht verderbe. In ihnen muss man eben Leis­tungsdruckopfer hin­neh­men, damit das Auslesesystem der Schulen nicht verderbe.

Warum achten wir nicht genauer darauf, dass im Neuen Testament die - ohnehin seltene - Re­de von Jesu Opfer etwas vollkommen anderes zeigt: das Gegenteil eines menschen­ver­ach­­­tenden Opfermechanismus.

Aber wie müsste die Kirche denn dann vom Kreuz sprechen, wenn man nicht in das falsche Opfer-Schema zurückfallen will? Warum immer Opfer? - Warum nicht Hingabe? Juristisch betrachtet ist Jesus das Opfer eines Justizirrtums der Römer geworden. Historisch ge­sprochen ist er von den religiösen Führern aufgeopfert worden.

Aber Jesus war kein passives Opfer. Jesus hat sein Leben aktiv hingegeben. Spätestens nach dem Mord an Johannes dem Täufer hat er wissen müssen, dass ihm das Gleiche drohe. Trotzdem ist er nicht in Galiläa geblieben. Trotzdem ist er nach Jerusalem gezogen. Mitten hinein in die Höhle des Löwen.

  • Wenn es wahr sein sollte, dass er in völliger Einheit mit Gott lebte, den er Vater nannte
  • Wenn es wahr sein sollte, dass er Sohn des lebendigen Gottes heißen durfte, wie Martha und Petrus bekennen
  • Wenn es wahr sein sollte, dass er zu den Mühseligen und Beladenen gesandt war

Wenn all das wahr sein sollte, dann musste er auch leben, was er lehrte: Wer sein Leben verliert, der wird es finden (Mt 10,39 u.a.) Und: Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. (Joh. 15,13)

Jesu Hingabe übersteigt darum die zweckgebundenen Opfer nach dem Verständnis des Ho­hen­priesters: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das gan­ze Volk verderbe. Solche Opfer sind immer zielgerichtet: für das Vaterland sterben, für die Par­tei, für die Konfession, für eine Idee … Zielgerichtet auf das eine und das eigene.

Jesu Hingabe dagegen ist absolut. Es geht um Gottes Kinder, also um alle Menschen. Zu allen wusste er sich gesandt.

Aber seine Gewissheiten schwanden auf Golgatha dahin. Musste er nicht selbst so denken wie die Spötter in der Passionserzählung: … hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! (Mt 27,40) Wohin war jetzt jene völlige Einheit mit Gott?

Wenn man das zu Ende denken will, kommt man immer wieder an unüberwindbare Grenzen des Verstandes, und die Theologie zermartert sich seit 2000 Jahr ihr Hirn daran. Mit mäßigem Erfolg. Wie sollen wir darauf eine Antwort des Glaubens finden können?

Lassen Sie mich - ganz vorsichtig - etwas dazu versuchen:

Gott war in Jesus auf Golgatha ganz nahe und ganz fern zugleich. So hat er die Wi­der­sprü­che unserer Welt zu den seinen gemacht. So wollte er den Mechanismus, dem wir alle als Op­fernde oder als Geopferte unterliegen ein-für-allemal durchbrechen. So geschah Hingabe zum Heil der Welt.

  • Wer darauf vertraut, muss niemand, auch Gott nicht, Opfer bringen.
  • Wer darauf vertraut, darf niemals dulden, dass Menschen geopfert werden.
  • Wer darauf vertraut, muss nicht verzweifeln, wenn Leid und Gewalt noch nicht überwunden sind.
  • Wer darauf vertraut, darf hoffen, dass der Gott, der in Jesus mit-gelitten hat, weiß, wie er einmal die Tränen abwischen wird von aller Augen. (Offenbarung 21,4)

In der Jona-Geschichte hat deshalb die Christenheit früherer Zeiten eine Analogie zu Jesus gesehen: Der Prophet war von Menschen geopfert worden, aber Gott will keine Opfer. Da­rum hat er Jona am dritten Tage aus dem Bauch des Wals befreit. Am dritten Tage, am Auf­er­stehungsmorgen.

Die Jona-Geschichte - ein Märchen für Kinder? Gott möge uns solchen Kinderglauben schenken, wenn wir unseren Verstand an den schwierigen theologischen Fragen wundgestoßen haben. AMEN.


Gudrun Kuhn, Nürnberg