Das Unerwartete ist das Markenzeichen Gottes

Predigt zu Johannes 5, 1-16 (19. Sonntag nach Trinitatis)

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Angesichts der Heilung des Lahmen am See Betesda schlägt Prädikant Jost Harzer Bögen zu Problemen und Chancen der Neuzeit.

Version Zürcher Bibel 2007

Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. In Jerusalem beim Schaftor ist ein Teich mit fünf Hallen, der auf hebräisch Betesda heisst. In den Hallen lagen viele Kranke. Dort war auch ein Mensch, der seit achtunddreissig Jahren an seiner Krankheit litt. Als Jesus diesen liegen sieht und erkennt, dass er schon eine lange Zeit leidet, sagt er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufgewühlt wird, in den Teich trägt; und wenn ich versuche, selber hinzukommen, steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus sagt zu ihm. Steh auf, nimm deine Bahre und zeig, dass du gehen kannst! Und sogleich wurde der Mensch gesund, er nahm seine Bahre und konnte gehen. An jenem Tag aber war Shabbat. Die Juden sagten nun zum Geheilten: Es ist Shabbat, es ist dir nicht erlaubt, deine Bahre zu tragen. Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, hat zu mir gesagt: Nimm deine Bahre und zeig, dass du gehen kannst! Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm sie und zeig, dass du gehen kannst? Der Geheilte wusste aber nicht, wer es war, denn Jesus hatte sich zurückgezogen, da an dem Ort ein Gedränge entstanden war. Später findet ihn Jesus im Tempel, und er sagt zu ihm: Du siehst, du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr, damit dir nicht etwas Schlimmeres widerfährt! Der Mensch ging fort und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Und darum verfolgten die Juden Jesus, weil er solches an einem Shabbat tat.

Version Bibel in gerechter Sprache

Danach gab es ein jüdisches Fest, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. In Jerusalem ist am Schaftor ein Teich, der auf Hebräisch Betesda genannt wird und der fünf Säulenhallen hat. In ihnen lagen viele Kranke: blinde, bewegungsunfähige und verkrüppelte Menschen. Es gab dort einen Menschen, der schon 38 Jahre krank war. Als Jesus diesen liegen sah und erkannte, dass er schon lange Zeit krank war, sagte er ihm: «Willst du gesund werden?» Der Kranke antwortete ihm: «Rabbi, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich trägt, wenn das Wasser unruhig ist; während ich aber komme, steigt jemand anderes vor mir hinein.» Jesus sagt ihm. «Steh auf, hebe deine Liege hoch und geh umher!» Sofort wurde der Mensch gesund und hob seine Liege hoch und ging umher. Jener Tag war ein Shabbat. Andere jüdische Menschen sagten zu dem Geheilten also: «Es ist Shabbat, und es ist dir nicht erlaubt, deine Liege zu tragen.» Er antwortete ihnen: «Der mich gesund gemacht hat, der hat mir gesagt: „Hebe deine Liege hoch und geh umher!“» Sie fragten ihn: «Wer ist der Mensch, der dir gesagt hat: „Hebe sie hoch und geh umher!“?» Der Geheilte wusste nicht, wer es war, denn Jesus hatte sich entfernt, als viele Leute an dem Ort zusammenkamen. Danach fand Jesus ihn im Tempel und sagte ihm: «Sieh du bist gesund geworden: entferne dich nicht wieder von Gott, damit dir nicht etwas Schlimmeres geschieht!» Der Mensch ging weg und erzählte anderen jüdischen Menschen, dass es Jesus sei, der ihn gesund gemacht habe. Deshalb verfolgte die jüdische Obrigkeit Jesus, weil er dies an einem Shabbat getan hatte.

Kanzelgebet

Allmächtiger Gott, gib, dass dein Wort bei uns nicht ein steinernes Herz und eine eiserne Stirn vorfindet, sondern den gelehrigen Sinn, der sich dir erwartungsvoll öffnet. Lass uns erfahren, dass du unser Vater bist und stärke uns in dem Vertrauen, dass du uns als deine Kindern angenommen hat. (Johannes Calvin)

Predigt

Still und starr liegt der See - nicht irgendwo im mitteleuropäischen Winter, sondern in der meist von Hitze geprägten Stadt Jerusalem. Drumherum ein paar schattenspendende Hallen. Darin sitzen oder liegen jene Personen, die die Gesellschaft wenn nicht vergessen oder abgeschoben so doch zumindest separiert hat. Und jene Invaliden, Rekonvaleszenten oder unheilbar Kranken warten darauf, dass sich das Wasser, auf welches sie wie gebannt starren, bewegt, um dann als erster hineinzusteigen. Und wer immer der Gewinner dieses periodisch ausgetragenen grotesken Wettbewerbes war, konnte eine Heilung von seinen Gebrechen erwarten. Eine absurde Situation: am letzten Strohhalm aufgestützt hinken die Moribunden zum Ufer, stolpern womöglich kopfüber ins Wasser - um hinterher zackig dem Tümpel zu entsteigen.

Doch nicht jeder Kandidat kann dieses Rennen aufnehmen, traut sich eventuell gar nicht an den Start - so wie jener seit achtunddreissig Jahren darniederliegende Mensch, der so heftig vom Schicksal gebeutelt ist, dass er ohne fremde Hilfe zu einem deprimierenden Dasein bei überschaubaren Aktionsradius verdammt ist. Verdammt? Als Bestrafung? Wofür? Hat er seine Behinderung seit Geburt oder ist er für ein massives Vergehen derart drastisch verurteilt worden? Später, als Jesus ihn geheilt hat, heisst es, dass er nicht mehr sündigen, sich also von Gott entfernen soll. Ist es etwa Gottes Rache oder sein Wille, diesen unglückseligen Menschen mit einem solchen Handicap zu schlagen?

Doch der Reihe nach. In Ermangelung einer organisierten Krankenpflege und medizinischen Versorgung, wie wir sie aus den hochzivilisierten Ländern dieser Erde kennen, wurde den Kranken früherer Epochen oft genug nur noch das Prinzip Hoffnung als Arznei angeboten, eine besondere Art High-end-Medizin, die, wenn schon nicht am Himmel so doch an Zauberei grenzte. Wunderheiler hatten zur Zeit Jesu eine leidlich gute Konjunktur, und auch der Mann aus Nazareth betätigte sich mit Erfolg in diesem Gewerbe - freilich mit dem Unterschied, dass bei ihm nicht die Magie oder der Überraschungseffekt im Vordergrund stand und er auch keine materielle Gegenleistung für seine ärztliche Tätigkeit erwartete - er erwartete vielmehr das Reich Gottes, ach nein, er verkündete, dass es schon angebrochen sei, hier und jetzt, durch ebensolche Taten. Für jedermann sichtbar und dabei den einzelnen Menschen in seiner ganzen gebrochenen Existenz ansprechend und so umfassend verstanden auch zurechtrückend und heilend. Nicht umsonst heisst es im Deutschen von Jesus, er sei der Heiland: einer, der ganzheitliche Medizin praktiziert, für die Mühseligen und Beladenen, für die, die des Arztes bedürfen: die Schwachen, die, die von der Mehrheit aufgegeben, doch immerhin am Leben gelassen - und allzu oft dann aus dem alltäglichen Blickfeld geschafft werden.

Allein dieser Umstand ist schon erstaunlich genug: nicht nur die Reinheitsgesetze machten den Umgang mit schwer Erkrankten zu einer delikaten Angelegenheit: das Ansehen konnte leicht Schaden nehmen, wenn auf einmal die sonst gemiedenen Hilflosen und Leidenden ernst genommen und der direkte Kontakt zu ihnen gesucht wird. Jesus konnte also nichts gewinnen, ihm war es vermutlich egal, wie über ihn gedacht wurde. Stellen Sie sich einmal Ulla Schmidt vor, wie sie in der Teestube des Diakonischen Werkes eine Platzwunde nach einer Schlägerei versorgt - bei ausgeschalteter Kamera… schwierig. Und in welch krassem Gegensatz steht der Einsatz des Zimmermannsohnes zum Management unsrer Tage, welches Krankenhäuser führt wie Industrieunternehmen und wo Menschenleben nach Fallpauschalen abgerechnet werden, um dann unter irgendeiner Ziffer in der Jahresbilanz des Geschäftsberichts zu enden.

Doch weil es sich bei dieser Einnahmequelle um biologisches Material handelt, werden Patienten der Moderne, - obwohl klinisch schon tot - auf Intensivstationen künstlich am Leben gehalten (der frühere israelische Ministerpräsident Ariel Sharon zum Beispiel seit über anderthalb Jahren) und, um es salopp zu formulieren: durchgefüttert - so wie jene Figuren in Samuel Becketts Theaterstück Endspiel, wo ein greises Ehepaar in Mülltonnen vegetierend auf den täglichen Brei oder eine Praline wartet, wo doch der Tod nicht kommen will. Spätestens hier stellt sich die Frage, welchen Wert das Leben jenseits von Effizienzssteigerung und Profitmaximierung hat oder noch hat, wenn für den einzelnen Betroffenen gesundheitlich nicht alles so läuft, wie wir uns das vorstellen.

Sie kennen vermutlich den Spruch: Gesundheit ist nicht alles, doch ohne Gesundheit ist alles nichts. Natürlich, wer von akuten oder chronischen Schmerzen geplagt wird und an nichts andres mehr denken kann, ausser dass dieser Schmerz verschwinden oder nachlassen möge, der wird dieser Devise zustimmen. Und auch der normale, gesunde Mensch (also jener Zeitgenosse, der, wie Spötter es nennen, noch nicht gründlich genug untersucht wurde) wünscht sich meist nichts so sehr wie Gesundheit, besonders anlässlich seines Geburtstages. Wir haben es also mit so etwas wie einer anthropologischen Konstante zu tun, die wohl dem Überlebenstrieb entspringt. Andrerseits gehören Krankheit, Schmerz und Verletzungen zum Leben dazu - alles andre: zu glauben, dem entfliehen zu können, wäre eine Illusion. Denn wer meint, durch noch so viel Vorsorge den gesundheitlichen Schattenseiten aus dem Weg zu gehen wird eines Tages umso heftiger im Regen stehen, wenn es ihn dann doch erwischt und zum physischen Leid auch noch durch das Zusammenbrechen einer Lebenslüge Frustationsgefühle hinzukommen.

Also: Krankheit ist elementarer Bestandteil der menschlichen Existenz - und die Minimierung derselben eine hohe Kunst - und mitunter ein einträgliches Geschäft. Das war schon immer so, auch zur Zeit Jesu wird es Wunderheiler gegeben haben, deren ärztliche Fähigkeiten sich auf das Verabreichen einer süsslich schmeckenden Arznei ohne nachhaltige Wirkung beschränkt haben mag. Mittelalterliche Quacksalber sind klassische Protagonisten verantwortungslos verpuffender Behandlungen, die nicht selten mit einem einträglichen Auskommen verbunden war.

Und heutzutage muss gar nicht der am Mittwoch nachmittag tennisspielende Doktor für derlei Wurschtigkeit herhalten - selbst aufrichtig ihren Beruf nachgehende Mediziner haben damit zu kämpfen, dass der Wunsch der meisten Menschen nach Gesundheit ein Ausmass angenommen hat, das zum einen durch eine immense Erwartungshaltung und dem entsprechenden Anspruchsdenken verstärkt wird und so andrerseits bisweilen religiöse Züge aufweist (denken Sie an den Halbgott in Weiss, der vielen Zeitgenossen, die sonst ihr Leben prima alleine zu meistern wähnen, als letzter Retter erscheint). Selbst redliche Ärzte sind dem oft nicht gewachsen und suchen dann in einem Akt der Hilflosigkeit Zuflucht zur Apparatemedizin. Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hält eine Wachstumsideologie am Laufen, welche vom ewigen Leben träumt und dies mit dem Heraufsetzen des Todesalters verwechselt - und ganz nebenbei eines gar nicht so fernen Tages nicht mehr bezahlbar sein wird.

Alles, was durch die moderne Heilkunst an diagnostischen und therapeutischen Techniken möglich geworden ist, wird in den westlichen Industriestaaten in Anspruch genommen - und durchgeführt. Koste es was es wolle oder ob es in jedem Einzelfall sachlich sinnvoll ist: gespeist aus einem unheilvollen Machbarkeitswahn ist ein solch gigantisches System entstanden, das aufgrund seiner Komplexität selbst von Eingeweihten nicht mehr durchschaut wird und dank so vieler Einzelinteressen (und auch Arbeitsplätzen, die davon abhängen) vor jeglicher Veränderung gefeit ist. Noch jede Bundesregierung in den letzten Jahrzehnten ist mit dem hehren Ziel einer Gesundheitsreform angetreten - und grandios gescheitert. Und auf der andren Seite, am andren Ende der Erde, gerade noch im Blickfeld, fehlen vielen z.B. an Cholera oder ähnlichen Infektionskrankheiten erkrankten Menschen eine Behandlung und solche Medikamente, die nur für den Bruchteil der Kosten einer plastisch-chirurgischen Schönheitsoperation bei vollstationärer, mit vier Sternen ausgezeichneter Wellnessunterkunft zu haben wären. Kann sich die westliche Wertegemeinschaft das erlauben und verantworten? Oder sollen die wirklich Kranken wie zur Zeit Jesu warten, dass sich ein Tümpel bewegt?

Wieso trifft es ausgerechnet jene, die nach den Massstäben der reichen Länder ein ohnehin wenig angenehmes Dasein fristen? Ein Zyniker würde einwenden, dass in den Tropen die Wahrscheinlichkeit, sich bestimmte gefährliche Erkrankungen wie Malaria oder das Ebola-Fieber einzufangen signifikant höher als in Mitteleuropa ist. Abgesehen von solch einer schäbigen Ansicht hilft diese Ursachenforschung auch nicht weiter - doch vielleicht in Blick in den Predigttext: jenen seit 38 Jahren gelähmt dahinvegetierenden Menschen, den Jesus geheilt hat, fordert er auf, in Zukunft nicht mehr zu sündigen. Was haben also die Kranken in der sogenannten dritten Welt falsch gemacht?

Ist solch ein Denken, dass zwischen einer gewissen Tat und dem daraus folgenden Ergehen ein Zusammenhang besteht, überhaupt legitim? Für den alten Orient mag diese Einschätzung gelten, hat er doch nicht das biologische Wissen um die Entstehung einer Krankheit und diese deshalb mangels Alternative als göttliche Bestrafung aufgefasst. Angesichts der menschlichen Natur des permanenten Sünders (auch wir Christen!): führt also die ständige Verstrickung in Schuld zwangsläufig zur Krankheit, dann allerdings zum chronischen Ausnahmezustand, dessen Elend nicht nur die Krankenkassen in den vollständigen Ruin triebe? Im Alltag, gar nicht einmal auf der theologischen Ebene, gibt es da nicht auch Tendenzen, die kaputte Leber eines Trinkers dessen überzogenen Alkoholgenuss zuzuschreiben, nach dem Motto: selber schuld!, während z.B. jemand, bei dem die Leber aufgrund einer während einer Operation verabreichten und mit dem Hepatitis-B-Virus verseuchten Blutkonserve zerstört ist, dass also eine solch unglücklich betroffene Person bemitleidet wird?

Mitleid hilft hier nicht weiter, zumal das Jesuswort vom «Sündige nicht mehr!» nicht nur dem Hiob aus den gleichnamigen biblischen Buch wie Hohn in den Ohren klingen müsste - denn korrektes Verhalten allein ist keine Garantie, um Krankheit aus dem Weg zu gehen. Pechvögel wird es, so bitter das ist, immer geben, solange Menschen auf diesem Planeten herumlaufen - und Not und Elend auch (beachten Sie, dass das Wort Elend etymologisch von Eiland, Ausland herrührt - und dabei immer ein Abgeschnittensein mitschwingt: die Trennung von Gott schon sprachlich sich abzeichnet).

So freilich bekommt jedes körperliches (geistiges, seelisches) Gebrechen den Charakter eines Schicksalsschlages: ohne eigenes Zutun, aus heiterem Himmel und unverschuldet an Schmerzen fast zu zerbrechen: ist das Gottes Masterplan, um seine Allmacht in grauenvoller Maske zu demonstrieren? Und wenn ja (und der Ewige ist autonom, das gewiss): wird dann also alles beliebig, weil unbeeinflussbar? «Sündige nicht mehr! Entferne dich nicht mehr von Gott!», das ist gemeint, nicht die Diätsünde, mit der der Zuckerkranke bei der Sachertorte ordentlich zulangt, um dann zwei Monate später seinen nekrotischen diabetischen Fuss amputiert zu bekommen. Der vorher seit rund zwei Generationen Gelähmte soll den Skeptikern künftig nicht Anlass zum Anstoss geben, nachdem er scheinbar mir nichts dir nichts gesundet ist.

Zuerst war da Jesu Zuspruch an diesen Invaliden: «Steh auf, nimm deine Bahre», und gleich geht es mit einem Anspruch weiter, «und zeig, dass du gehen kannst» Aha! Ohne dass die Frage explizit gestellt wird, wohin denn bitteschön, lautet der kategorische Imperativ jetzt: «Sündige nicht mehr!» Aus dem Zuspruch wird eine Zumutung: in einer Art göttlichem Schaulaufen soll er von nun an quasi aus dem Stand und aus Dankbarkeit heraus durch korrektes Leben entlang der Torah und Gottes Willen leuchtendes Vorbild sein für das Himmelreich auf Erden. Mit nunmehr festen Füssen soll er auf dem Boden der veränderten Tatsachen diese Mutprobe angehen - und vertrauen, dass mit Jesu Auftreten und Wirken eine neue Epoche beginnt.

So ist Jesu Heilung doch zu verstehen: nicht als blosses Wunder, sondern als Zeichen für die allumfassend hereinbrechende Herrschaft Gottes, der, weil er der Schöpfer ist, letzten Endes dafür sorgen wird, dass eben auch die körperlichen Leiden verschwinden werden - ebenso plötzlich wie die unerwartete und physiologisch nicht erklärbare Genesung unsres Kameraden im Predigttext. Denn wie wir auch im 21. Jahrhundert vor manchen naturwissenschaftlich nicht oder noch nicht erklärbaren Rätseln stehen, so wird Gott, dem doch schon heute nichts unmöglich ist, eines Tages dafür sorgen, dass auch die Naturgesetze ihre Gültigkeit verlieren.

Das Unerwartete als Markenzeichen des Reiches Gottes - in welchem eintritt, womit niemand mehr rechnet: nach 38 Jahren - wer von den Zeitgenossen hätte dem Mann am Teich noch eine Chance gegeben? Vor diesem Hintergrund kann sich Jesus dann übrigens auch herausnehmen, solch eine Heilung am Shabbat gegen die reine Lehre der Schulmedizin (die vertreten wird durch die Angehörigen der classe politique und Schriftgelehrten seiner Glaubensgenossen) durchzuführen. Dieser Konflikt, der später in Jesu Kreuzigung gipfeln wird, ist zwar auch ein machtpolitischer, ohne dass der Mann aus Nazareth so etwas vordergründig beabsichtigt.

Das medizinische Phänomen, die Heilung, ruft bei den Anhängern der traditionellen und etablierten Methoden natürlich Widerspruch hervor - ganz einfach schon deshalb, weil dadurch ihr Deutungsmonopol und damit ihr Einfluss, wenn nicht gar ihr Herrschaftswissen infrage gestellt wird. Das ist bei homöopathischen Heilpraktikern unserer Tage und deren bisweilen stattfindenden Behandlungserfolgen nicht anders; nur dreht es sich im Disput des Predigttextes eben nicht nur um alternative Therapiekonzepte, sondern um die wirklich wichtigen Dinge im Leben und im Sterben. Es geht um die Rettung oder Wiederherstellung der Existenz als solcher, und ein Abarbeiten an diesem Punkt ist selbst am Shabbat gestattet, wenn denn Gefahr für Leib und Leben besteht. Notfallversorgung kennt keine Manteltarifverträge, und der Ein- oder Anbruch des Reiches Gottes schon gar nicht (Ihr wisst weder die Zeit noch die Stunde!).

Um diesen Prozess zu beschleunigen: sollen wir also künftig statt in die Apotheke in den Gottesdienst rennen und fromm und fleissig beten, damit alles gut wird? Schaden kanns nicht, doch wenns so einfach wäre… Nein, noch befinden wir uns nicht in dieser Ära, und müssen uns mit den Schilderungen von immer wieder auftretenden Spontanheilungen oder dem schlichten Vorhandensein von Krankheit in der unerlösten Welt begnügen. Das schliesst jedoch die Hoffnung ein, dass in der kommenden Welt die naturwissenschaftliche Logik in der uns vertrauten Form überwunden wird. (…überwunden wird…über die Wunde hinaus!)

Bei Versagen aller ärztlicher Kunst, wenn keine Therapie anschlägt und sämtliche Medikamente nichts mehr nutzen, dann heisst es oft: da hilft nur noch Beten. Und auch wenn derartige Heilungen gerade bei Krebserkrankungen immer wieder beschrieben worden sind: es handelt sich um mehr: dein Reich komme - darum bitten wir in jedem Gottesdienst, vielleicht täglich im stillen Solo. Der Gelähmte nimmt seine Bahre in die Hand, in der wir das Heft des Handelns nach Gottes Willen halten - vielleicht auch durch die Umsetzung der zwar bitteren, doch möglicherweise erforderlichen Maxime, bei uns verantwortungsbewusst so wenig wie möglich und viel wie nötig medizinische Leistungen bereitzuhalten. Vielleicht kämen wir so einem finanziell bedingten Kollaps (verstärkt durch die demographische Entwicklung: steigende Lebenserwartung, weniger Beitragszahler auf seiten der erwerbstätigen Bevölkerung) des Gesundheitswesens zuvor, ohne dass jemand wirkliche Not litte - und hätten immer noch genug Kapital (geistiges und materielles!) zur Verfügung, um die anderswo bestehende primitivste Krankenversorgung zu verbessern.

Die Initiativen z.B. eines Bill Gates und seiner Stiftung Bill and Melinda Gates Foundation zielen in diese Richtung; es liegt also an dieser Gesellschaft, die lange Zeit über ihre Verhältnisse gelebt hat und deren Teil jeder ist, der hier in der Kirche sitzt, etwas vom Schmerz in der Welt, von der seufzenden Kreatur, wegzunehmen und überzogene Ansprüche freiwillig herunterzuschrauben. Denn auch wenn der Kontostand der meisten hier Anwesenden möglicherweise ein wenig unter dem des Mr. Gates liegen sollte - wir sind reicher als wir denken: am Karfreitag vor knapp 2000 Jahren wurden uns sämtliche Schulden vergeben. Mit der verblüffenden Nebenwirkung: Jesus - fürwahr, er trug unsre Krankheit.

Amen.

am 14.10.07 in der Heilig-Geist- Kirche in Wiesbaden


Jost Harzer, Prädikant