Die friedliche Revolution vor 25 Jahren sei stark protestantisch geprägt gewesen – durch kirchliche Lieder, Debatten und Demos in Gotteshäusern und durch viele Engagierte aus dem kirchlichen Milieu –, weshalb die Kirchenleitungen damals mit einer „Renaissance“ der Religiosität gerechnet hätten, schreibt Zeithistoriker Prof. Dr. Thomas Großbölting vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster in einem Gastbeitrag für die November-Ausgabe der Zeitschrift „Herder Korrespondenz“ aus Freiburg. Schon bald sei aber klar geworden, dass die „kirchen- und religionsfeindliche Politik der SED-Diktatur“ die Religion „zum Absterben gebracht“ habe. Seit den 1950er Jahren habe sich in der DDR eine „Kultur der Konfessionslosigkeit“ durchgesetzt, an der sich auch nach der Wende bis heute in Ostdeutschland nichts geändert habe. 1989 sei nur „das letzte Aufbäumen früherer volkskirchlicher Strukturen“ gewesen.
Insbesondere die evangelische Kirche „konnte vom Zusammenbruch des SED- Regimes und der Wiedervereinigung nicht profitieren“, betont der Historiker. „Viele derjenigen, die sich vor 1989 von der Gemeinschaft Kirche als Gegenmodell zum sozialistischen Staat angezogen fühlten, distanzierten sich nach der Wiedervereinigung wieder.“ Das politische System der Bundesrepublik habe andere zivilgesellschaftliche Freiräume geboten, so dass die „kirchliche Ersatzöffentlichkeit“ an Relevanz verloren habe. Andere Menschen waren Prof. Großbölting zufolge von den Glaubensinhalten so weit entfremdet, dass sie nach der Wende „keinen Weg zum Glauben oder zur Kirche zu finden vermochten oder finden wollten“. Vor allem in Familien, die bereits in der zweiten Generation konfessionslos waren, fehlten dem Wissenschaftler zufolge jegliche christlich-religiösen Anknüpfungspunkte.
Für einen religiösen Aufschwung nach der Wende sei das „Nichtbekenntnis“ zu stark in der Lebenswelt der Ostdeutschen verankert gewesen, so der Zeithistoriker. Heute liege der Anteil der Konfessionslosen und Atheisten in Ostdeutschland bei drei Viertel der Bevölkerung. Dass die Kirchenleitungen zu Umbruchzeiten auf eine gegenteilige Entwicklung gehofft hätten, fuße auf einer Wahrnehmung der friedlichen Revolution als „protestantischer Revolution“, wie der Historiker darlegt. Viele Christen, aber auch die evangelische Kirche als Institution hätten in der friedlichen Revolution eine wichtige Rolle gespielt. Gotteshäuser wie die Leipziger Nicolaikirche wurden zu Symbolen des Protestes. Das nährte dem Beitrag zufolge die Hoffnung der Kirchenleitungen auf einen Aufschwung kirchlichen Lebens. Doch faktisch seien die Unzufriedenen der DDR vor der Wende vor allem aus Protest gegen die SED-Mächtigen unter Kirchendächern zusammengekommen, nicht aufgrund einer „persönlichen religiösen Haltung“. Das hätten kirchlich Verantwortliche missverstanden und fälschlicherweise auf eine religiöse Renaissance gehofft.
„Schon die Montagsdemos waren nicht im Kern Ausdruck des Glaubens“, vielmehr hätten die Protestler kirchliche Räume und Kommunikationsmöglichkeiten genutzt, schreibt der Zeithistoriker. Damit sei es gelungen, „eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit zu erkämpfen, die die SED-Diktatur sonst nicht zuließ.“ Die protestantische Kirche habe für die Revolution insofern eine wichtige Rolle gespielt, als sie „die einzige intakte und leidlich unabhängig vom Staat agierende Institution in der DDR war“. Das hätten Bürgerrechtler und Massenprotestler für sich genutzt und sich zum Diskutieren und Demonstrieren, „nicht aber zum Beten“, in Kirchen getroffen.
Der Gastbeitrag trägt den Titel „Dem Glauben entwöhnt. Der Kirchenkampf der SED und seine Folgen bis heute“. Darin beschreibt der Historiker detailliert, wie die christlichen Kirchen in 40 Jahren DDR ihre gesellschaftliche Verankerung verloren. Spätestens seit der Auseinandersetzung um die Jugendweihe Mitte der 1950er Jahre, die die Konfirmation und Firmung als staatlicher Übergangsritus ablösen sollte, hätten die Kirchenleitungen den „Kampf um die Gefolgschaft der Bevölkerung“ verloren. „Die Kirchenaustrittszahlen stiegen in der DDR ebenso wie die Beteiligung am kirchlichen Leben sank.“ Aus diesem „Relevanzverlust“ der Kirchen und einer „forcierten Säkularität“ sei eine „religiöse Indifferenz“ entstanden, die die Wende nicht aufgehoben habe und die bis in die Gegenwart anhalte.
Thomas Großbölting ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Uni Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte des religiösen Wandels im Nachkriegsdeutschland und Ausprägungen der DDR-Erinnerung im wiedervereinigten Deutschland. In der zweiten Förderphase des Exzellenzclusters leitet er das Projekt C2-8 „Neue Soziale Bewegungen und religiöse Sozialformen in der Nachmoderne: ein deutsch-nordamerikanischer Vergleich“. (ska/vvm)
Pressemeldung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“, 3. November 2014