Schwierige Religionsfreiheit

Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Staat

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Nach Kruzifix-Urteil und Kopftuch-Verbot muss sich die Kirche nach ihrem Selbstverständnis fragen lassen.

Als Bundespräsident Johannes Rau in seiner Weihnachtsansprache 2003 ein Wort zum sog. Kopftuchstreit sagte, trat er eine mittelgroße Lawine los. Er stellte eine Alternative vor: Entweder – oder! Entweder sind alle religiösen Symbole aus öffentlichen Einrichtungen zu entfernen und das Tragen solcher Symbole zu verbieten oder auch das Kopftuch ist, insofern es ein religiöses Symbol ist, zuzulassen.

Sehr rasch nach der Ansprache meldeten sich Vertreter der politischen Parteien und der Kirchen zu Wort. Das Echo war sehr unterschiedlich, aber durchweg nicht ohne Emotionen. Für die einen war es längst fällig, dass mal ein klares Wort gesprochen wird: Das Kopftuchverbot verstößt gegen das Gebot der staatlichen Neutralität in religiösen und weltanschaulichen Angelegenheiten. Für die andere war es ein gruseliges Wort, dass den Untergang des christlichen Abendlandes besiegelt und dem Islam Tür und Tor öffnet. Ich karikiere bewusst. Im Lauf des letzten Jahres (2005) ist die Diskussion sicher präziser geworden und auch die Worte des Bundespräsidenten ausgewogener als das in einer 10minütigen Ansprache möglich ist.

Nach dem Kruzifix-Urteil 1995 hat sich das Bundesverfassungsgericht 2003 erneut mit der Frage des Verhältnisses von Staat und Religion(en) befassen müssen und den Grundartikel 4 nicht mehr nur im Blick auf die christliche Religion, sondern auch auf den Islam ausgelegt. Das Votum des Gerichtes war eine schwere Geburt und es wirft wohl in der Praxis mindestens so viele Fragen auf, wie es löst.

Ich halte den Kopftuchstreit deshalb für interessant und wichtig, weil an ihm stellvertretend zwei große Fragen deutlich werden, die uns in der Bundesrepublik Deutschland und in den Kirchen in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen müssen.

1. Es stellt sich die Frage nach der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates im Kontext einer multireligiösen Gesellschaft (dieses Problem kannten die Väter des Grundgesetzes so nicht!).

Diese Frage wird für eine gelingende Integrationspolitik von erheblicher Bedeutung sein. Denn wir dürfen nicht vergessen, in welchem gesellschaftspolitischen Kontext und in welcher Atmosphäre die Diskussion nach dem 11. September 2001 und den Terroranschlägen danach geführt wird. Hier ist Gelassenheit und Differenzierung gefragt, aber eben nicht immer gegeben.

2. Neben dieser politischen und gesellschaftlichen Frage wird aber auch die Kirche nach ihrem Selbstverständnis und ihrem Umgang mit der Religionsfreiheit gefragt. Hier gilt es, redlich mit der eigenen Geschichte und der heutigen Situation umzugehen und eine klare Linie in den Fragen der Religionsfreiheit zu entwickeln.

Auch wenn die christlichen Kirchen im sog. christlichen Abendland seit Jahrzehnten eine Phase der Regression und des Bedeutungsverlustes mitmachen, ist die weltweite Kirche Jesu Christi in vielen Bereichen eine wachsende Kirche. Der Einsatz für die Religionsfreiheit aller ist die Bedingung der Möglichkeit des Einsatzes für die Religionsfreiheit des Christentums weltweit.

Ich möchte versuchen, einen langen Weg mit Ihnen zu gehen und hoffe, sie begleiten mich dabei. Ich denke, es lohnt sich, den sehr schwierigen Fragen der Religionsfreiheit und der Verhältnisbestimmung von Staat und Religion nachzugehen, weil wir damit auch über die Zukunft und Glaubwürdigkeit unserer demokratischen Grundordnung und der christlichen Kirchen in der Bundesrepublik sprechen.

Ich möchte mit Ihnen folgende Etappen abschreiten:<

I. Religionsfreiheit in Deutschland – eine lange Geschichte in kurz

II. Wenn Religionsfreiheit schwierig wird

III. Religiöse Symbole – vom Elend der Mehrdeutigkeit

IV. Kopftuchverbot – für wen und wo?

V. Integration – auf dem Boden der Verfassung

VI. Der Wahrheitsanspruch der Religionen und Toleranz als Gestalt der Nächsten- und Feindesliebe in dieser Welt.

Der gesamte Vortrag ist als >>>WORD-Datei oder als >>>PDF-Datei hier zum Download bereit gestellt.

 1.  Religionsfreiheit in Deutschland – eine lange Geschichte in kurz

Vorab: Religionsfreiheit ist keine Bedingung für Religion, aber Religionsfreiheit ist eine Bedingung echter Freiheit.

Es gibt sehr wohl Religion in totalitären Regimen. Es gibt bekennende christliche Gemeinden im Irak oder in China, selbst in Nord-Korea. Dort gibt es Christen, obwohl es keine wirkliche Freiheit gibt. Christsein hängt nicht an den staatlichen Vorgaben, unter denen wir leben.

Umgekehrt muss aber gesagt werden: Wo keine Religionsfreiheit ist, da ist keine wirkliche Freiheit. Religionsfreiheit ist darum ein entscheidendes Freiheitsmerkmal eines Staatswesens.

Die Kirche hat diesen Zusammenhang erst mühsam lernen müssen und war in Sachen Religionsfreiheit wahrlich keine Avantgarde. Denn es gilt auch: Unfreiheit kann Religion nicht unterdrücken, sehr wohl aber die Religion die Freiheit.

Wenn wir uns die Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Staat bis zur Reformationszeit anschauen, so war sie gewiss eine konfliktreiche Geschichte insofern sich die Interessen zweier Großinstitutionen oft in die Quere kamen. Die Frage der Religionsfreiheit stand aber gar nicht zu Diskussion. Selbst die kirchenkritischsten Herrscher wären nie auf den Gedanken gekommen, sich aus dem corpus christianum auszugliedern. Die Konflikte waren gewissermaßen Konflikte innerhalb des Christentums nicht gegen das Christentum und schon gar nicht zugunsten einer anderen Religion.

Erst in nachreformatorischer Zeit, als eine Mehrzahl von Konfessionen innerhalb eines Staatsgebietes möglich waren, stellte sich die Frage der freien Wahl – noch nicht einer Religion, sondern – einer christlichen Konfession. Der Augsburger Religionsfrieden 1555 schuf die Formel „cuius regio eius religio“ und machte die Untertanen abhängig von der Konfession ihrer Herren. Es konnte zwar unterschiedliche Konfessionen in einem Reich geben, aber „Religionsfreiheit“ für alle kann man das wahrlich nicht nennen. Konfessionsfreiheit für die Herrschenden – Religionsfreiheit für niemanden – könnten man die Situation beschreiben.

Erst der Westfälische Frieden 1648 bringt hier eine Besserung auch für Untertanen, die nun ihrer Konfession auch bei Herrschaftswechsel treu bleiben können. Konfessionsfreiheit galt nun allen, dass sie sich aber einer christlichen Konfession zuzuordnen hatten, stand noch immer außer Frage und die Zugehörigkeit zu einer anderen Religion blieb problematisch.

In der Folgezeit differenziert sich besonders der Protestantismus aus und es kommt zu einer gewissen Pluralität der Konfessionen in einem Herrschaftsgebiet. Das berühmte Wort des „alten Fritz“: In meinem Reich „,mus jeder nach seiner Fasson selich werden“ drückt das neue aufgeklärte Verhältnis des Staates zur (christlichen) Religion aus.

Aber Religionsfreiheit war dies noch nicht wirklich, insofern Anhänger nicht-etablierter christlicher Gemeinschaften weiterhin vom Recht des öffentlichen Gottesdienstes ausgeschlossen waren. Von anderen Religion zu schweigen. Und den Wechsel hin zur Konfessionslosigkeit wird erst Friedrich Wilhelm IV offiziell zulassen.

Die nie in Kraft gesetzte Paulskirchenverfassung von 1849 gewährte volle Glaubens- und Gewissenfreiheit, aber erst die Weimarer Reichsverfassung (1919) wird dies umsetzen und die kirchlichen Angelegenheiten in die Selbstverwaltung der Kirchen stellen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1949) hat dann erstmals die Glaubens- und Gewissenfreiheit zum persönlichen Grundrecht eines jeden Menschen erklärt, das unter dem Schutz des Staates steht.

Hier sind dann die „positive“ und die „negative“ Religionsfreiheit erstmals verankert worden. Das meint: Zum einen schützt der Staat das Recht, die eigene Religion auszuüben (positive Religionsfreiheit, Art. 4). Zum anderen schützt er davor, dass jemand gegen seinen Willen zu religiösen Handlungen gezwungen wird (negative Religionsfreiheit, Art 4 in Verbindung mit Art 136,4 Weimarer Verfassung, der auch im Grundgesetz in Geltung bleibt).

Unser Staat ist mit Art. 4 des GG aber kein religionsloser oder ein religionsfeindlicher Staat geworden. Es wird vielmehr festgeschrieben, dass sich der Staat in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutral zu verhalten hat. Wir sind also kein laizistischer Staat wie etwa Frankreich, in dem die Religion ganz aus dem öffentlichen Leben herausgehalten werden soll. Die Verfassung der Bundesrepublik sieht im Gegenteil vor, dass auch die Ausübung der Religion unter dem Schutz und gegebenenfalls der Förderung des Staates steht. Der Staat garantiert die Möglichkeit, das Religion bestehen und fortbestehen kann. Religion und Bekenntnis können in Freiheit ergriffen oder abgelehnt werden. Solange es Menschen gibt, die ihre Religion praktizieren wollen, ist dieses Praxis geschützt.

Der Verfassungsrechtler Böckenförde hat es so formuliert:

„Unser Staat ist der Religion gegenüber neutral und deshalb offen. Er unterscheidet sich dadurch vom laizistischen Staat, der auf Zurückdrängung der Religion aus dem öffentlichen Leben ausgerichtet ist. Der säkulare Staat ... gewährt der Religion freien privaten und öffentlichen Entfaltungsraum, ohne sich mit ihr irgendwie zu identifizieren oder sich für religiöse Zwecke in Dienst nehmen zu lassen.“

Das Bundesverfassungsgericht hat mehr noch sogar von einer „fördernden Neutralität“ des Staates gesprochen, insofern der moderne, freiheitliche und demokratische Staat, der auf eine theologische bzw. metaphysische Begründung seiner selbst verzichtet und damit seine Grenzen anerkennt, die Religion und ihre Ausübung befürwortet, insofern sie für viele seiner Bürgerinnen und Bürger eine lebensfördernde und –ausrichtende Kraft in sich trägt. Das sind rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen wir die Frage nach der Religionsfreiheit stellen und unter denen der sog. „Kopftuchstreit“ geführt wird.

Soweit scheint „alles klar“ zu sein. Aber wie immer – so einfach ist es nicht. Denn die anstehenden Fragen berühren weitere Grundrechte und Verfassungsziele der Bundesrepublik und darum müssen auch sie im Blick haben.

II.   Wenn Religionsfreiheit schwierig wird

Schwierig wird das Thema „Religionsfreiheit“ im persönlichen Bereich immer dann, wenn man sich selber mit einer Religion identifiziert und die Freiheit auch anderen Glaubensrichtungen zugestehen muss, deren Ideen oder Lehren man nicht teilt, vielleicht gar für falsch oder gefährlich hält. Als Anhänger einer Religion kann ich in religiösen Fragen nicht mehr neutral sein, ohne meine eigene Identität zu leugnen.

Für den Staat wird das Thema Religionsfreiheit dann schwierig, wenn es widerstreitende Interessen gibt, wenn unterschiedliche Verfassungsziele in Konkurrenz miteinander kommen.

Ich gebe ein Beispiel: Das Recht auf freie Entfaltung der Religion ist das eine – der Tierschutz ist das andere verfassungsmäßig verankerte Recht. Wie steht es mit rituellen Schlachtungen im Judentum und im Islam? Welches Recht steht höher? Das der Religionsausübung oder das des Tierschutzes?

Der Staat ist beauftragt zu prüfen, ob die Ausübung einer Religion den Verfassungszielen und den in ihr verbrieften Rechten widerspricht. Darum muss sich jede Religionsgemeinschaft, die die (fördernden) Neutralität des Staates in Anspruch nehmen will zugleich vom Staat befragen lassen:

  • Anerkennt die Religion das Gewaltmonopol des Staates und verzichtet auf Durchsetzung ihrer Interessen und Überzeugungen mit Mitteln der Gewalt?
  • Akzeptiert eine Religion die Existenz anderer Religionen mit gleichen Rechten und Pflichten und anerkennt die Würde der Menschen, die einen anderen glauben haben?
  • Akzeptiert und bejaht eine Religion die Gleichstellung von Mann und Frau in Familie und Gesellschaft?
  • Sagt eine Religion rassistischen und fremdenfeindliche Ideologien ab
  • Anerkennt eine Religion die Grundrechte aller auf Meinungsfreiheit und freier Entfaltung der Persönlichkeit und damit die Grundpfeiler der Demokratie?

Widerspricht eine Religionsgemeinschaft ideologisch oder in ihrer Praxis diesen Grundrechten, verliert innerhalb unserer Verfassung das Recht auf ihre Ausübung. Denn: Toleranz und Freiheit darf nicht zur Ignoranz gegenüber Gefahren für die Freiheit werden.

Der Staat steht vor der problematischen Aufgabe, die Lebensäußerung der Religionen in seinem Autoritätsbereich daraufhin zu prüfen und zu beurteilen, inwieweit sie der Verfassung gemäß sind. Ein wehrhafter Rechtsstaat wie eine wehrhafte Demokratie muss dies tun, will sie sich nicht selber auflösen. (Aus anderem Zusammenhang hat man hier die Lehren aus der Machtlosigkeit der Weimarer Verfassung gezogen). Im Blick auf das Christentum und hier besonders die großen verfassten Kirchen hat unser Staat keine (oder kaum) Probleme.

Schwieriger wird es schon bei kleineren christlichen Gemeinschaften – auch hier findet sich Fundamentalismus – und bei Sekten mit christlichem oder anderem Hintergrund. Besonders virulent wird dieses Problem heute beim Umgang mit dem Islam.

Der Islam ist (ebenso wie das Christentum und das Judentum) keine homogene Größe. Im Unterschied zu den anderen beiden großen Religionen stehen dem Staat hier aber keine Verbände und Strukturen gegenüber, die Ansprechpartnerinnen wären. Die Diskussion um islamischen Religionsunterricht zeigt, dass es bis heute, trotz ca. 3 Millionen Muslimen in Deutschland, nicht gelungen ist, einen festen Ansprechpartner zu finden, mit dem Fragen des Curriculums, der Lehrerlaubnis etc. abgesprochen werden könnten. Alle Gespräche sind bisher gescheitert, weil die Zusammenschlüsse von islamischen Organisationen, die einen Islam-Unterricht beantragen könnten entweder untereinander uneins sind oder nicht nachweisen können, dass sie für eine repräsentative Anzahl der Muslime in Deutschland sprechen können. Hinzu kommt, dass einige islamische Organisationen in der Bundesrepublik offen oder versteckt verfassungsfeindliche Ziele verfolgen und der Beobachtung des Verfassungsschutzes unterliegen.

Religion und Politik liegen im Islam de facto noch weitaus enger beieinander als in manch anderen Religion. Davor die Augen zu verschließen wäre dumm, gefährlich und fahrlässig. Ebenso dumm, gefährlich und fahrlässig wäre es allerdings auch, den Islam rundweg zu einer verfassungsfeindlichen Religion zu erklären und Muslimen darum das Recht auf Religionsfreiheit abzuerkennen. Es muss weiterhin das Bemühen bleiben, islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache an Regelschulen einzuführen, damit die Konfrontation muslimischer Kinder, die in Deutschland aufwachsen nicht in den Winkel von Koran-Schulen, sondern coram publico erfolgen kann.

Wenn wir islamische Menschen in unsere Gesellschaft integrieren wollen, dann wird dies nur gehen, wenn es auch gelingt, den Islam zu integrieren. Bei diesem Prozess wird es eine gegenseitige Annäherung geben müssen, weil Integration nie eine Einbahnstraße ist. Die Integration des Islam ist von so entscheidender Bedeutung, weil nur eine integrierte Gruppe zugleich eine berechenbare Gruppe und damit Partner des Staates und einer Gesellschaft sein kann. Eine Ghettoisierung und Ausgrenzung des Islam ist deshalb von vorneherein abzulehnen. Mit ihr wird nichts weiter erreicht als die Verhärtung von Vorurteilen auf beiden Seiten. Auf diesem Weg gewinnen die fremdenfeindlichen Tendenzen auf der einen Seite und die Fundamentalisten auf der anderen Seite.

Versuchen wir die Schwierigkeiten der Religionsfreiheit und der staatlichen Neutralität in Religions- und Weltanschauungsfragen am konkreten Beispiel des Kopftuchstreites zu verdeutlichen und uns weiter auf das Feld der Differenzierung vorzuwagen. Leichter wird es dabei nicht!

III.  Religiöse Symbole – vom Elend der Mehrdeutigkeit

Von der Vielfalt des Islam habe ich bereits gesprochen. Wir erleben ihn in Deutschland. Wir sehen ihn aber vielleicht noch deutlicher, wenn wir uns die islamischen Ausprägungen in verschiedenen Ländern vor Augen führen.

Es macht eben einen großen Unterschied, ob ich in die Türkei reise oder nach Ägypten, ob nach Tunesien oder Marokko. Im Iran prägt sich der Islam anders aus als in Jordanien.... Es gibt einen gleichsam „aufgeklärten“ Islam ebenso wie den aus unserer Sicht geradezu mittelalterlichen.

Auch das Symbol des Kopftuchs hat an dieser Vielfalt Anteil. Es kann ein religiöses Symbol sein, mit dem eine Frau ihren Glauben zum Ausdruck bringt. Daneben ist das Kopftuch auch ein politisches Symbol, insofern es gerade in islamistischen Kreisen (was eben nicht identisch ist mit islamisch) Symbol für die Gesellschaftsordnung ist, in der die Gleichberechtigung von Mann und Frau prinzipiell verneint wird. Insofern ist das Kopftuch auch ein Symbol für die Unterdrückung der Frau, denn in diesem Kontext geht es dezidiert um die Sexualität der Frau, die symbolisch verdeckt wird und nur dem einen Mann – dem Herrn über die Frau – zur Verfügung steht. Das Kopftuch kann auch gewissermaßen seiner Symbolkraft beraubt werden und ist für einige muslimische Frauen nichts weiter als ein Modeaccessoire. Für andere weist es wiederum auf die eigene kulturelle( und religiöse) Identität hin, die sie auch in einer andersgläubigen Gesellschaft nach außen hin erkennbar machen möchte. Die Vieldeutigkeit des Symbols macht den Umgang mit ihm schwierig. Und dabei ich habe nur 4 von wohl noch weiter auszudifferenzierenden Bedeutungsmöglichkeiten angesprochen.

Nun wird von unserer Verfassung das Recht auf positive Religionsfreiheit geschützt. Im Blick auf das Kopftuch heißt das: Einer Muslima, die mit dem Kopftuch ihren Glauben zum Ausdruck bringen will, kann das Tragen grundsätzlich nicht verboten werden, selbst dann nicht, wenn man selber der Überzeugung wäre, dass sie damit einer falschen Werte- und Glaubenswelt angehört und sich ggf. sogar selber schadet.

Religionsfreiheit bedeutet auch: Freiheit sich in Glaubensfragen zu irren – darüber hat nicht der Staat zu befinden, sondern das freie Gewissen. Freiheit heißt eben auch Freiheit zum Irrtum. Aus meiner Sicht gilt es auch zu beachten, dass die Bedeutung eines religiösen Symbols auch einem Wandel der Zeiten unterworfen. Heute – in der Bundesrepublik – ist das Kreuz zum Beispiel gewiss kein Symbol der Unterdrückung mehr.

Man wird aber doch sagen müssen und dürfen, dass das Kreuz im Mittelalter sehr wohl auch diese Symbolbedeutung hatte und als Unterdrückungssymbol wahrgenommen worden ist. Es gibt auch heute keine Instanz, die den Bedeutungsgehalt eines Symbols beurteilen kann. Es gibt wohl Mehrheits- und Minderheitenmeinungen, es gibt für die eine oder andere Deutung mehr oder weniger nachvollziehbare Erklärungen, die immer auch etwas mit der Stellung des einzelnen zu dem Symbol zu tun haben, aber es wird auch heute niemandem verweigert werden können, in dem Kreuz nicht das Symbol der Versöhnung, sondern eben ein Folter- und Machtinstrument zu sehen. Ein Symbol der Versöhnung – der Versöhnung Gottes mit dem Menschen – ist es für die, die den Glauben an Christus teilen. Im Kreuz als solchem steckt diese Symbolkraft allein keineswegs.

Im Blick auf die Bedeutungsvielfalt des Kopftuches ist abschließend zu sagen: Wenn heute das Kopftuch als verfassungsfeindliches Symbol verstanden wird, dann ist das eine Möglichkeit neben anderen. Aber es ist eine. Um die Lage nun noch etwas zu differenzieren und zu komplizieren der nächste Schritt:I

V.  Kopftuchverbot – für wen und wo?

Ich sagte eben: Auch wenn das Kopftuch Symbol der Unterdrückung der Frau wäre (oder ist), so kann einer Frau nicht verboten werden, dieses Symbol als Ausdruck ihres Glaubens zu tragen. Nun geht es aber im Kopftuchstreit nicht allein um die individuelle Religionsfreiheit, sondern zunächst darum, ob das Kopftuch von einer Amtsperson in Ausübung ihres Dienstes getragen werden darf.

Das Problem ist also weiter zu differenzieren, denn nun ist zu fragen, ob die Mehrdeutigkeit eines religiösen Symbols zum Problem für die Ausübung eines staatlichen Amtes wird. Von einem Amt ist zunächst zu sagen: Niemand gibt sich in einer Demokratie selber ein Amt. Ein Amt wird verliehen und damit eine Aufgabe zugeteilt.

Im Blick auf den konkreten Fall einer Lehrerin: Die Trägerin eines Amtes verkörpert in Ausübung ihres Amtes eine Staatsfunktion, über die sie nicht selber verfügt. Sie hat, so ist es im Amtseid vorgesehen, die Grundwerte und die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland zu schützen und in ihrem Unterricht an die ihr anvertrauten Kinder weiterzugeben. Darum gibt es für Staatsbedienstete ein „Mäßigungsgebot“, das darauf abzielt, dass eine Person in Ausübung ihres Amtes ihre eigenen Interessen zurückzustellen hat, wenn sie in Konflikt mit der Aufgabe ihres Amtes kommt. Oder sie hat ihr Amt niederzulegen. Dies ist insofern von zentraler Bedeutung, weil die Ausübung des Amtes darauf angewiesen ist, dass sie von der Allgemeinheit vertrauensvoll angenommen wird. Darum hat ein Amtsträger alles zu vermeiden, was das Vertrauen in die Amtsführung beeinträchtigen könnte. Für das Funktionieren eines Staates ist dies ein unverzichtbare Sache.

Die Würde eines Amtes ist keine Bagatelle, denn an ihr hängt die Autorität mit der eine wichtige Funktion des Staates ausgeübt werden kann. Autoritätsverlust in diesem Bereich gefährdet die Grundlagen des Staates. Wenn ein Polizist nicht mehr als Vertreter des Gesetzes wahrgenommen wird, sondern als mehr oder weniger sympathischer Mensch, dann ist ein wichtiges Element des friedlichen und geregelten Zusammenlebens in einer Gesellschaft gefährdet. Die Autorität des Amtes hängt nicht (und darf nicht hängen) an der Autorität des Amtsinhabers und der Sympathie, die man ihm als Person entgegenbringt. Wenn ein Richter nicht mehr als Vertreter des Rechtes wahrgenommen wird, gerät die Grundlage des Rechtsstaates in Gefahr. Bei aller Gefahr, die die Ämter in sich bergen – Machtmissbrauch, Hierarchisierung – sie sind eine wichtige Säule unseres Gemeinwesens, weil sie im Konfliktfall die Regelung nicht in das individuelle Belieben und die individuellen Durchsetzungsmöglichkeit der Konfliktparteien verlegt. Das macht nach I. Kant gerade das Recht aus, dass es die Bedingungen dafür schafft, „dass die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden können“ oder anders gesagt: Recht und Ordnung dienen der Freiheit aller und sollen Willkürherrschaft der Starken verhindern. Die Ämter innerhalb des Staates dienen – idealiter! – dieser Funktion. Bei allem Missbrauch, den wir kennen – die Funktion des Staates in dieser Hinsicht, so sagt es die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen in ihrer V. These, erkennt auch die Kirche in Dankbarkeit gegen Gott als Wohltat an.

Es geht im Kopftuchstreit also letztlich gar nicht um ein Kleidungsstück, auch nicht darum, ob dieses Kleidungsstück ein Ausdruck des Glaubens derer ist, die es tragen oder mehr ein politisches Symbol. Es geht viel grundsätzlicher darum, ob der Staat seine Neutralität in religiösen Fragen wahrt, ob also eine Lehrerin in Ausübung ihres Amtes das Kopftuch tragen darf, oder ob das Kopftuch einen Symbolgehalt besitzt, der geeignet ist, das Vertrauen in die Ausübung des Amtes durch diese Person zu beeinträchtigen.

Im „Kopftuchstreit“ steht mit der Frage der religiösen Neutralität des Staates darüber hinaus auch die Frage im Raum, ob der Staat einer Religion, in unserem Fall z.B. dem Christentum, Rechte gewährt, die anderen Religionen und Weltanschauungen verschlossen bleiben. Hierin sehe ich das grundsätzliche Problem der Entscheidung des Saarlandes.Konsequent allerdings mit laizistischer Stoßrichtung ist die Entscheidung Berlins.

V. Integration – auf dem Boden der Verfassung, nicht der christlichen Weltanschauung

Nicht alles muss und kann per Gesetz geregelt werden. Durch die Verabschiedung eines Gesetzes wird nicht selten Handlungszwang erzeugt, der ohne das Gesetz gar nicht zustande gekommen wäre. In NRW zum Beispiel unterrichten schon seit Jahren Lehrerinnen mit Kopftuch (die Zahlengaben schwankten zwischen 7 und 20), ohne das es zu einer Störung des Schulfriedens gekommen wäre. Eine gesetzliche Regelung würde hier zwangsweise einen Konflikt erzeugen, der bisher offenbar überhaupt nicht vorhanden (zumindest nicht ausgebrochen) ist.

Die Entscheidung in dieser Frage ist vor Ort in den Schulen zu klären. Erst wenn dort eine Klärung nicht möglich ist, wären rechtliche Konsequenzen zu überlegen. Auf die Probleme die pauschale Verbote für die Integration bedeuten habe ich schon hingewiesen.

Vielleicht speist sich der Ruf nach einem Kopftuchverbot ja auch aus ganz anderen Quellen. Es könnte dahinter auch die Angst vor dem Verlust der kulturellen und religiösen Wurzeln stecken und die Überschätzung der Möglichkeiten des Rechtes. Die muslimische Lehrerin, deren Glauben bzw. der Religionszugehörigkeit oder kulturelle Herkunft sich bereits an ihrem Kopftuch ablesen lässt, irritiert in einer mehrheitlich christlichen oder zumindest nicht-muslimischen Gesellschaft. Sie führt uns vor Augen, dass wir – schon lange! – keine einheitliche kulturelle und religiöse Basis für unsere Gesellschaft mehr haben. Und sie zeigt dies an einer ganz sensiblen Stelle – in einem staatlichen Amt.

Deutschland ist ein Einwanderungsland – schon lange! Wir haben uns damit aber bis heute nicht abgefunden geschweige denn positiv identifiziert. Die religiöse Vielfalt können wir leugnen und damit alle Minderheitenreligionen (und das sind nach wie vor alle, außer der christlichen) in Hinterhöfe drängen, oder wir erkennen die Vielfalt an und lassen sie auch im öffentlichen Raum zu, binden sie damit in unser Gesellschaftsgefüge ein und verpflichten sie zugleich, am Wohl der ganzen Gesellschaft mitzuarbeiten und sich öffentlich zu den Grundsätzen unserer Verfassung zu bekennen.

Dort, wo der gesellschaftliche Wandel, den der Zuzug anderer Kulturen und Religionen nach Deutschland bedeutet hat, sichtbar wird – beim Muezzin-Ruf, bei repräsentativen Moscheebauten, beim islamischen Unterricht, beim Kopftuch.... – da regt sich der Widerstand und die Irritation. Dass auch ohne dieses Sichtbarwerden die Menschen anderer Kultur und Religion unsere Mitbürger sind wird dabei ignoriert.

Aber wer ausgrenzt, kann die Abgrenzung nicht kritisieren! Wenn wir Integration von Muslimen in Deutschland fordern, müssen wir mit ausgrenzenden Verboten sehr behutsam sein und darauf achten, dass die Begründung für die Verbote klar zu unterscheiden sind von einer pauschalen Ablehnung von (religiösen) Minderheiten. Integration ist dann aber wirklich auch ein zweiseitiger Prozess. Das heißt: es muss ebenso ein Integrationswillen vonseiten der Immigranten bestehen. Wenn die Basis des Zusammenlebens unserer Gesellschaft die moderne, freiheitliche und demokratische Verfassung ist, dann muss sich jeder, der in Deutschland leben will auf die Verfassungskonformität seines Verhaltens (inklusive seiner religiös motivierten Verhaltensweisen) verpflichten.

Die Lehren der Religionen müssen nach ihrem Verhältnis zu unserer Verfassung befragt werden. Und bei der inneren Vielfältigkeit der Religionen muss man sich auch der Mühe unterziehen jeweils konkret nach der jeweiligen Religion in ihren Kontexten zu fragen (also nach dem Islam und seinen Repräsentanten in Deutschland). Integrationsbereitschaft auf beiden Seiten ist die Bedingung der Möglichkeit von Integration – noch nicht ihre Garantie. Religiöse und dann auch praktisch ausgelebte Parallelgesellschaften sind innerhalb eines Staates immer ein Gefahrenpotential.

In den Fragen des Kopftuchs führt wohl kein Weg an einer Einzelfallprüfung vorbei. Vor einem solchen Schematismus sollte uns schon allein die Beobachtung bewahren, dass die muslimische Frau, die in den Schuldienst geht, ein mehrjähriges Studium an einer säkularen Universität (und ein Referendariat) hinter sich gebracht und damit eine große Integrationsleistung gezeigt hat. Sie will in unserem säkularen Staat einen Vollzeitberuf ausüben, ihren Lebensunterhalt verdienen und damit auch Unabhängigkeit erreichen und ihre eigenen Möglichkeiten entfalten. Damit fällt sie aus der islamistischen Frauenrolle bereits heraus, ist in ihrer religiösen Haltung bereits emanzipiert und verdient es kaum, dass man sie unter den Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit stellt oder in ihr eine ganz raffinierte „Schläferin“ vermutet

VI. Der Wahrheitsanspruch der Religionen und Toleranz als Gestalt der Nächsten- und Feindesliebe in dieser Welt

Habe ich bisher vor allem die rechtlichen und gesellschaftlichen Aspekte in den Blick genommen, so muss abschließend auch die theologische, kirchliche oder christliche Perspektive zu Wort kommen. Wenn der Staat in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutral ist und sein muss, dann bedeutet es ja nicht, dass dies seine Bürger auch sind.

In den Kirchen und religiösen Gemeinschaften versammeln sich die Bürger, die für sich eine Antwort auf religiöse Fragen gefunden haben oder suchen. Die Antworten, die dort gegeben werden, kommen immer mit dem Anspruch der Wahrheit daher – und müssen dies auch tun!

Ich formuliere es jetzt im Blick auf die christliche Kirche bzw. den christlichen Glauben und sage gleich hinzu: so wie ich ihn sehe – aber auch das sage ich mit dem Anspruch, dass es wahr ist. Dass Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, ist für die Kirche keine Meinungsäußerung, kein Vorschlag, dem man andere gleichberechtigt zur Seite stellen könnte, sondern diese Aussage ist eine Bekenntnisaussage, von der wir sagen: sie ist Gottes Offenbarung.

Christlicher Glaube kann darum nicht ohne den Wahrheitsanspruch sein, dass in Christus (d.h. nicht per se in der Kirche oder der christlichen Religion!) Sinn und Heil für ein Leben gefunden werden. Ein glaubender Mensch ist kein vergleichender Religionswissenschaftler, sondern ein Mensch, der im Leben und im Sterben auf etwas bzw. jemanden vertraut. Religionen haben also Wahrheitsansprüche. Für das Christentum würde ich zwar sagen, dass dieser Wahrheitsanspruch nicht in der Religion begründet ist, also von Menschen erhoben wird, sondern von Jesus Christus selber – aber dies ist für unsere Frage zunächst zweitrangig.

Den Wahrheitsansprüchen der Religion gegenüber hat sich der Staat neutral zu verhalten. Und das ist aus der Perspektive der Kirche auch gut so – denn nur so verhält er sich auch gegenüber dem Christentum neutral. Die staatliche Neutralität auch gegenüber dem Christentum muss das Interesse der Kirche sein, denn nur so bleibt der Staat bei seinem Leisten und die Kirche kann bei dem ihren bleiben.

Ich erinnere an die Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat in der Barmer Theologischen Erklärung These V, die wir zu den Bekenntnistexten unserer Kirche zählen. Danach hat der Staat die Aufgabe, für Recht, Frieden und Freiheit zu sorgen. Er hat keine religiösen Aufgaben und darf sich diese auch nicht aneignen (etwa indem er seine Entscheidungen religiös legitimiert oder totalitäre Ansprüche auf seine Bürger erhebt).

Die Kirche ist andererseits kein Organ des Staates. Sie erwartet vom Staat keine Vorteile, die nicht grundsätzlich auch anderen Religionsgemeinschaften offen stehen. Sie beansprucht keine staatliche Macht für ihre eigenen Interessen und strebt diese auch nicht an. Sie möchte ihre Verkündigung und die Wahrheit ihrer Botschaft durch das Wort und durch das Wort allein (eingeschlossen der aus dem Wort sich im gehorsam ergebenden Tat) weitergeben. Dabei baut sie nicht auf staatliche Protektion (außer auf die Gewährung des freien Wortes und der vertraglich zugesicherten Unterstützung, die auch jeder anderen Gemeinschaft offen steht).

In der Verkündigung des Evangeliums und der Diakonie erinnert die Kirche den Staat, die Regierenden und die Regierten an Gottes Reich, sein Gebot und seine Gerechtigkeit. Dass Deutschland von seiner Tradition her ein christlich geprägtes Land ist, stellt niemand in Abrede. Das Christentum gehört zu unserer Kultur und prägt die Biographien der meisten Deutschen immer noch (gleich, ob sie glaubende Christen sind oder nicht). Aber kann es nicht auch jüdisch und islamisch geprägte Deutsche geben, ebenso wie es humanistisch geprägte Deutsche?

Die entscheidende Frage ist die, ob ein Staat als Staat christlich sein kann. Dass seine Bürgerinnen und Bürger dies sein können, steht außer Frage! Aber gibt es ein christliches Gericht, ein christliches Parlament, eine christliche Verfassung?

Ein staatliches Gericht ist allein den verabschiedeten Gesetzen und Ordnungen verpflichtet und damit auch der Religionsneutralität. Das Parlament ist grundsätzlich offen für alle Religionszugehörigkeiten. Die Verfassung ist darauf aus, allen Menschen aller Glaubensweise (einschließlich des Atheismus) gleiche Rechte und Pflichten zuzusprechen und damit ein Gemeinwesen zu schützen, das auf Toleranz gründet.

Ob Deutschland ein christlich geprägtes Land ist, hängt allein davon ab, wie viel überzeugte und glaubwürdige Christen es unter uns gibt. Und ob Christinnen und Christen in der Lage sind „– der Stadt bestes zu suchen“ und ihr zu zeigen, dass das Christentum auch dem Gemeinwohl dient – unabhängig der Religionszugehörigkeit der Bevölkerung. Der Staat bietet alle Rahmenbedingungen dazu, dass wir unseren Glauben leben können. Mehr kann er nicht tun, und mehr darf er nicht tun.

Diese Rahmenbedingung gelten für alle Glaubensweisen gleichermaßen. Johannes Rau hat den Satz geprägt: „Im demokratischen Rechtsstaat gilt das Recht auf Unterschiede, aber es gibt kein unterschiedliches Recht.“ Ich frage zum Schluss nochmals: Woher kommt der große Eifer mit der der „Kopftuchstreit“ besonders auch in sich bewusst christlich nennenden Kreisen geführt wurde und z.T. wird? Ist es die Angst, dass etwas uns bisher Fremdes Fuß fasst? Ist es eine emotionale Reaktion gegen den Terror, der von Fanatikern (fälschlich!) im Namen des Islam verübt wird? Oder ist es vielleicht auch der Kleinglaube vieler Christen, als könne mit Hilfe staatlicher Verbote das Evangelium leuchtender und überzeugender werden? Nicht zu vergessen, dass es oftmals gar nicht um den christlichen Glauben geht, sondern um ein Stück abendländischer Kultur allein. Christliche Symbole sind dafür oft nur noch Platzhalter.

Mir scheint die Diskussion von Furcht geprägt zu sein und in der Bibel heißt es einmal: „Furcht ist nicht in der Liebe“ (1. Johannes 4,18). Angst ist ein schlechter Berater, wenn man das freie und friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Herkunft gewährleisten und gestalten will. Das ist die vorrangige Aufgabe des Staates und eine Ausdruck von Menschenliebe. Die Kirche soll dem Staat helfen, ein friedliches Zusammenleben aller Menschen zu gewährleisten. Sie hilft ihm dabei am besten, wenn sie alle Rechte, die sie für sich beanspruchen möchte – auch für andere Religionsgemeinschaften fordert. So kommt es zum Dialog, zur Solidarität und zu Nachbarschaft, die die großen Unterschiede und Widersprüche, die es in den vielen Glaubensweisen unserer Gesellschaft gibt, aushalten und stehen lassen kann.

Den Wahrheitsanspruch nicht fallen lassen, das Evangelium nicht zu einer von vielen Möglichkeiten auf dem Markt religiöser Anbieter runterhandeln lassen – dass ist die eine Aufgabe der Kirche. Die andere ist es, in der Welt in der wir jetzt leben, die Nächstenliebe zu leben, die grundsätzlich das Recht, das sie für sich beansprucht auch für den anderen fordert. Nur so ist der Einsatz für Religionsfreihit und damit die eigene Freiheit glaubwürdig. Wir können sie nicht zu einem Rechenspielchen verkommen lassen nach dem Motto: „Erst wenn im Iran die Glocken läuten, darf bei uns der Muezzin rufen.“ Der Einsatz für Religionsfreiheit der Christen zum Beispiel in der Türkei wird darum nicht weniger deutlich sein. Überzeugend wird er aber erst dann, wenn man als Kirche in Deutschland mit „gutem Beispiel“ vorangegangen ist.

Die Kraft des Christentums war es immer, in der Nachfolge Jesu den ersten Schritt zu machen, auch wenn er gefährlich war und ihm der augenscheinliche Erfolg zunächst verwehrt blieb. Furcht ist nicht in der Liebe. Angst sollte die Entscheidungen in den Fragen der Religionsfreiheit nicht bestimmen. Ebenso wenig wie Toleranz und Nächstenliebe zu Ignoranz gegenüber wirklichen Gefahren werden darf. Religionsfreiheit ist leicht zu fordern – aber schwer zu leben. Das gilt für den Einzelnen wie für eine plurale Gesellschaft.

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Rechtstexte

Das Grundgesetz der Bundesrep. Deutschland (1949)

Artikel 4

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

 

Artikel 140 [Recht der Religionsgemeinschaften]

Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes

 

Weimarer Reichsverfassung (1919)

Artikel 135 (1)

Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt.

 

Artikel 136.

.. (2) Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.

... (4) Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.

 

Artikel 137(

1) Es besteht keine Staatskirche. ...

5) Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. ...

 
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Fußnoten:

 
1 Für die Ausarbeitung haben ich vor allem zur Kenntnis genommen und (ohne Angabe von Quellen) teilweise auch als Zitat übernommen: Untergang des Abendlandes? Die verfassungspolitischen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Kopftuchstreits, epd-dokumentation Nr. 17, 2004
 
2 So vor allem in seiner Rede zum Lessingjubiläum 2004 in Wolfenbüttel
 
3 An der Geschichte der jüdischen Religion und den Repressalien, denen Juden ausgesetzt waren, ließe sich das aufzeigen.
 
4 So wie sie in Barmen V angesprochen sind“
 
5 Ich nennen nur die aus meiner Perspektive zur Zeit entscheidenden Fragen, die wohl ergänzt werden müssten. Gleichwohl sollte nicht jede kontroverse Frage gleich in den Rang einer Grundsatzfrage erhoben werden. Bei den angeführten Fragen halte ich die Grundsätzlichkeit allerdings für gegeben.
 
6 Es gibt z.B. auch gerichtliche Auseinandersetzungen mit christlichen Gemeinschaften, die etwa wegen des schulischen Lehrstoffes (besonders im Bereich Biologie, Erdkunde und Religion) ihre Kinder trotz Schulpflicht nicht zum Unterricht schicken.
 
7 Nebenbei bemerkt: Der „voraufklärerische“ Islam fällt uns besonders darum auf, weil er aus unserer Sicht ein Anachronismus ist. „Wie kann man noch so veraltete Vorstellungen haben....“
Historisch betrachtet scheint es mir hilfreich zu sein, die Geschichte der Religionen in Epochen wahrzunehmen und dann ergibt sich ein differenziertes Bild. 
Der Islam steckt historisch gesehen gewissermaßen im 13. Jahrhundert. Und schauen wir nur auf das Christentum als Vergleich: – Wo stand es selber um diese Zeit? Mitten in Religions- und Expansionskriegen und in Kreuzzugsmentalität. Nur, dass zu dieser Zeit die ganze Welt eine andere war und die Ideen von Demokratie und Gleichberechtigung aller Menschen kaum denkbar. 
 
8 Dieses Problem haben im übrigen fundamentalistische christliche Gruppierungen ebenfalls
 
9 1990 verabschiedete die Organisation der islamischen Staaten eine „Erklärung der Menschenrechte im Islam“. Religionsfreiheit für Nichtmuslime (inkl. Atheisten) wird dort strikt abgelehnt. Die Erklärung der Menschenrechte selber wird explizit der Scharia untergeordnet. Man sieht wie weit die offiziell repräsentierte islamische Welt vom Völkerkonsens der UN noch entfernt ist! 
 
10 Mutmachend, wenn auch dringend ausbaubedürftig ist die Islamische Charta, die 2002 der Zentralrat der Mulime in Deutschland e.V.“ verabschiedet hat. Hier wurde explizit hervorgehoben, dass Muslime sich in Deutschland auf die rechtstaatliche Verfassung, die Menschenrechte und den Dialog mit ihren Mitbürgern einlassen müssen. Die Charta ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Integration des Islam in unsere Verfassungswirklichkeit. Ihm müssen im Dialog mit allen gesellschaftl. Gruppen weitere folgen. Die EKD bemüht sich hier intensiv um ein Vorankommen.
 
11 Die gleiche Frage wäre im Übrigen an Parteien zu richten – aber das wäre ein weiteres Feld.
 

 


Jochen Denker