Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater!

Predigt zu Kolosser 1,2

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Liebe Gemeinde,

am Anfang ein Gruß:

An die Kolosser, heilige und treue Brüder in Christus. Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater!

Diesen Gruß, vom Anfang des neutestamentlichen Briefes an die Kolosser nämlich, legt Pastor Wilhelm Momma der ersten Predigt in der Lübecker reformierten Gemeinde zugrunde. Das war am 26. August 1666. Und der Ort dieses ersten offiziellen Gottesdienstes der Lübecker Reformierten war ein Privathaus am Klingenberg.

Der damals 24-jährige Pastor Wilhelm (oder Willem) Momma muss ein kluger Mann gewesen sein. Selbst wenn wir nicht wüssten, dass er während seiner acht Lübecker Jahre sein theologisches Hauptwerk verfasst hat, und selbst wenn nicht nach seinem Tod ein Freund von ihm gesagt hätte, Mommasei eine wandelnde Bibliothek gewesen, kundig in vielen Wissensgebieten, so dürften wir schon aufgrund seiner ungewöhnlichen Textwahl auf seine Klugheit schließen.

Denn mit einem Gruß fängt es an. Wenn es gut geht, beginnt die Begegnung zweier Menschen mit einem Gruß. Und der Gruß verändert die Situation. Denn der Moment der Begegnung ist ein Moment der Verunsicherung: „Wer ist der andere da? Und wie wird er mir begegnen? Freundlich gesonnen oder misstrauisch? Aufmerksam oder gleichgültig? Der Gruß baut eine unsichtbare Brücke der Verständigung. Nach dem wechselseitigen Gruß können wir diese Brücke aus Worten betreten und aufeinander zugehen.

Ganz anders ist es, wenn zwei in einem Raum grußlos aneinander vorbeisehen. Dann zieht eine Spannung ein. Es kann sehr kalt werden in einem Raum, in dem man einander nicht grüßt. Die Verweigerung eines Grußes kann im Raum stehen wie eine unausgesprochene Kriegserklärung. Ein Gruß dagegen ist seit alters her ein Zeichen guten Willens, ja ein Zeichen des Friedens. „Schalom!“ oder „Salaam“ so heißt es im ganzen orientalischen Raum zur Begrüßung: „Friede sei mit Dir!“ Ach, wenn es doch heute auch so wäre im Nahen Osten!

Hunderte sind vor einem Jahr spontan zum Münchner Hauptbahnhof gelaufen und haben die Flüchtlinge begrüßt, haben gewunken und geklatscht und Teddies für die Kinder mitgebracht und Schuhe und warme Kleider für die, die keine hatten. Sie haben Getränke gereicht und Suppe ausgeschenkt und ein Zeichen des Friedens und ihres guten Willens gegen.„Grüß Gott!“ heißt es in Bayern und in den Bergen grüßen alle so. Ach, wenn doch auch der bayerische Ministerpräsident einfach stolz sein könnte auf diesen Willkommensgruß seiner Landsleute, in den Bergen und am Bahnhof, und nicht nachträglich und auf Dauer hadern würde mit dieser menschlichen Geste der Begrüßung!

Liebe Gemeinde, mit einem Gruß fängt es an. Das gilt für jeden Brief und meistens auch noch für eine schnelle Mail. Mit einem besonderen Gruß beginnen auch die Briefe des Neuen Testaments. Sie doppeln den allgemein üblichen Friedensgruß. Sie sagen nicht allein: „Schalom!“, „Friede sei mit dir!“ Sondern sie sagen: „Gnade und Friede von Gott unserem Vater!“ Damit zieht eine neue Dimension in den Raum.

Denn jetzt wird deutlich, dass in dieser Grußformel zu Beginn der neutestamentlichen Briefe noch etwas mehr und anderes geschieht als beim bayerischen „Grüß Gott“, beim ostfriesischen „Moin“ oder beim hochdeutschen: „Guten Tag“! Vielmehr wird in diesem vollmundigen: „Gnade und Friede“ angesprochen und ausgesprochen, was allein von Gott zu erwarten ist: Einvollkommenes Heilwerden und Ganzwerden, wie es unsere menschlichen Möglichkeiten übersteigt.

Liebe Gemeinde, Willem Momma hat mit diesem Predigttext beim ersten Gottesdienst dieser Gemeinde vor 350 Jahren ein sinnvolles Vorzeichen gesetzt vor alle Gottesdienste, die seitdem in dieser Gemeinde gehalten wurden und ein Vorzeichen auch vor alle Gottesdienste, die künftig in dieser Gemeinde gehalten werden. Denn genau mit dieser Erwartung dürfen wir in jeden Gottesdienst kommen und jede Predigt hören: mit der Erwartung, dass hier nicht allein von Mensch zu Mensch geredet wird. (Das hoffentlich auch!) Sondern in der Erwartung, dass hier in unserem menschlichen Hören und Reden Gott selber zu Wort kommt mit seinem Segen, mit seiner heilenden Kraft und seiner trostreichen Liebe.

Denn wir alle wissen es doch und haben es erfahren, wie brüchig jene Brücken der Verständigung und des Friedens sein können, die wir Menschen untereinander bauen können. Das Haus, in dem sich die reformierte Gemeinde in Lübeck zum ersten Mal traf, dürfte wohl mit der ganzen historischen Bebauung des Klingenbergs beim Bombenangriff am 29. März 1942 zerstört worden sein. Weil wir wissen, wie zerbrechlich der Friede auf Erden ist, darum versammeln wir uns in der Gemeinde zum Gottesdienst, um von jener ewigen Brückezu hören und zu erfahren, die Gott selber sich zu den Menschen gebaut hat, von seinem Frieden, für den er selber einsteht.

Mit einem Gruß fängt es an. „Gnade und Friede sei mit euch!“, das ist der Nachklang jenes Grußes, mit dem an Ostern der von Gottaus dem Tod ins Leben gerissene Christus seine erschrockenen Jüngerinnen und Jünger grüßt. Dieser Gruß des Auferstandenen ist die Urerfahrung der Gemeinde Jesu Christi. Und in jedem Gottesdienst knüpfen wir erwartungsvoll an diesen Brückenschlag Gottes über die Mächte des Todes und der Gewalt an. Jawohl, auch diese Brücke ist eine Brücke aus Worten. Aber Gott selber hat diese Brücke des Friedens zu uns Menschen damit besiegelt und befestigt, dass er selber über diese Brücke gegangen ist und bei uns bleibt „alle Tage bis an das Ende der Welt“.

„Gnade und Friede sei euch von Gott unserm Vater.“ In den meisten anderen Briefen des Neuen Testaments wird hier noch eigens hinzugesetzt: „und unserem Herrn Jesus Christus“. Zu Beginn des Kolosserbriefs aber wird darauf verzichtet. Es gibt keine wirklich schlüssige Erklärung, warum das hier so ist. Vielleicht ist es einfach die sparsame Kurzform des Grußes, so wie eine SMS sich einfach noch kürzer fasst als eine Mail. Denn diese Überzeugung teilt der Kolosserbrief mit allen Zeugnissen des Neuen Testaments: Dass wir den unsichtbaren und unfassbaren Gott als unseren Vater anrufen dürfen, verdanken wir der Erscheinung Jesu Christi, den wir deshalb Gottes Sohn nennen.Sein Vater ist unser Vater, und das bringen wir in jedem Gottesdienst zum Ausdruck, indem wir das „Unservater“ beten.

Wie aber redet der Kolosserbriefin seinem Eingangsgruß die Gemeinde noch einmal an, und wie lässt Pastor Momma dann auch die eben gegründete reformierte Gemeinde zu Lübeckgleich nennen? „Heiligeund treue Brüder in Christus“. Mit dem Gruß und Segen im Namen des Vaters und des Sohnes wird die Gemeinde als ein neuer, besonderer Lebensraum eröffnet. Wie schon jeder menschliche Gruß einen Raum der Verständigung schafft, so schafft erst Recht der Gruß im Namen des Vaters Jesu Christi einen Raum des Friedens Gottes mitten in unserer unfriedlichen Welt. „Brüder in Christus“ werden sie genannt (und heute nennen wir natürlich die Schwestern ausdrücklich dazu).

Denn so soll es unbedingt zugehen im Raum der Gemeinde: geschwisterlich, gleichberechtigt, auf Augenhöhe. In diesem Raum der Gemeinde gibt es keine Herrschaft außer der Herrschaft des Friedens Gottes. Und wenn sie sich auf ihren Ursprung und auf diesen immer neu zugesagten Frieden besinnt, dann wird die Gemeinde diesen Frieden Gottes auch ausstrahlen in ihre Umgebung, in die Stadt, ob sie nun Kolossae heißt oder Lübeck.

So besinnen wir uns heute mit großer Dankbarkeit auf die bisherigen 350 Jahre dieser evangelisch-reformierten Gemeinde zu Lübeck. Wir danken Gott, dass er diesen Raum der Gnade und des Friedens in Lübeck geschaffen und erhalten hat. Und wir danken ihm für alle Menschen, die sich in diesem Friedensraum aufrichten und ausrichten ließen, um mitten in der Stadt Zeuginnen und Zeugen des zugesprochenen Friedens Gottes zu sein.

Voller Respekt denken wir an die Anfänge dieser Gemeinde, die in den ersten Jahren ihres Bestehens immer wieder durch die Büttel der Obrigkeit an ihrem Zusammenkommen gehindert werden sollte. Und die sich dennoch immer wieder beharrlich und treu unter dem Wort versammelte. Mit Rührung erinnern wir an die später dazukommenden Glaubensflüchtlinge aus Holland und Frankreich. Zunächst trafen sie sich in je eigenen Gottesdiensten, bevor sie sich als Brüder und Schwestern im Glauben und Leben erkannten und sich zu einer reformierten Gemeinde vereinigten.

Mit großer Hochachtung erinnern wir uns daran, dass diese Gemeinde auch der typisch reformierten Verbindung treu geblieben ist: von Glauben und Denken, Vertrauen und Vernunft. Pastor Willem Momma sollte nicht der einzige Wissenschaftler im pastoralen Dienst dieser Gemeinde bleiben. Die Pastoren Dr. Butendach und Geibel setzten diese kostbare Tradition fort, die heute wieder so wichtig ist, jawohl: Religion und Aufklärung, Gottvertrauen und Humanismus gehören zusammen!

Und so war es nur logisch, dass sich in den Jahren der Märzrevolution in diesem Kirchenraum nicht nur die Gemeinde zum Gottesdienst traf, sondern auch Literaten und Republikaner zu ihren Versammlungen. Jawohl, das ist eine stolze und herausfordernde Tradition: Denn wir Christen müssen es auch heute wieder deutlich und mutig sagen: Wir stehen entschlossen zu den Errungenschaften der Demokratie und der Menschenrechte. Und wir widersprechen allen, die diese Werte heute wieder populistisch mies machen und eigensüchtig aufs Spiel setzen wollen.

Schließlich erinnern wir auch daran: In der Zeit der Hitlerdiktatur wurde diese Gemeinde und diese Kirche eine Zuflucht und ein Versammlungsort derer, die spürten, dass der mörderische Rassismus der Nazis allen Sätzen des christlichen Bekenntnisses stracks widersprach. „Gnade und Friede von Gott unserem Vater!“ Am Anfang stand dieser Gruß. So grüßen wir auch heute in diesem Geist die, jawohl: „heiligen und treuen Brüder und Schwestern in Christus“, die uns in der Geschichte der Lübecker reformierten Gemeinde begegnen. Gnadenzuspruch und Friedenszusage Gottes gelten ihnen wie uns. Und ihr Zeugnis ermutigt und stärkt uns, als Gemeinde im Raum der Gnade Christi und des Friedens Gottes zu leben und zu handeln.Gestern, heute und morgen.

Amen

Gehalten zum 350-jährigen Jubiläum der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde zu Lübeck am 18. September 2016


Dr. Martin Heimbucher, Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche

Predigt zu Kolosser 12,2 - Kirchenpräsident Heimbucher