Wir sind aber Menschen - Von der möglichen Unmöglichkeit, von Gott zu reden

III. Von der Anmaßlichkeit des Fragens

© Pixabay

Wir Menschen wissen von uns aus nicht, von Gott zu reden. Gott selbst muss die Initiative ergreifen, Menschen beauftragen, von ihm zu erzählen. Und wir beginnen schon zu reden, während wir noch auf das Hören angewiesen sind.

I. Das Unbekanntsein Gottes
II. Von Gott reden, heißt vom Menschen reden

III. Von der Anmaßlichkeit des Fragens
IV. Wirklichkeit als Beziehung
V. Zur Freiheit befreit
VI. Eine Zwischenbilanz
VII. Die unmögliche Möglichkeit
VIII. Die mögliche Unmöglichkeit

III. Von der Anmaßlichkeit des Fragens

Wir bleiben zunächst noch beim Menschen, der mit im Blick sein muss, wenn sinnvoll von Gott gesprochen werden soll, und versuchen dem Grundproblem dadurch ein wenig näher zu kommen, dass wir uns Rechenschaft ablegen über die Macht des Fragens. Die Art und Weise, in der sich Theologie als Antwort präsentiert, gibt Auskunft darüber, welchen Fragen sie gehorcht. Für das, was erreicht werden soll, bleibt entscheidend, von welchen Fragen man auf den Weg geschickt wurde. Die Perspektive des Suchens entscheidet fundamental darüber, was gefunden und auch nicht gefunden werden kann.

Als entscheidende Triebfeder des Fragens wird gern die Neugierde angesehen, das unstillbare Streben nach neuen Erkenntnissen. Sie gilt als eine Art Vitalitätsausweis menschlicher Intelligenz. Zweifellos dokumentiert die Neugier den Willen des Menschen, die Bedingungen seines Lebens verstehen zu wollen, um dann auch das Leben selbst gestalten zu können. Aber schon die Alltagserfahrung lehrt, dass auch die Neugier keineswegs immer so unschuldig daherkommt.

Hinter ihren Fragen verbergen sich nicht nur sachliche Interessen, sondern durchaus auch Selbstentwürfe und Machtgelüste, denen wir nachjagen und zum Durchbruch zu verhelfen suchen. Neugier ist immer auch ein soziales Phänomen, indem sie entweder dazu verhelfen soll, einen Vorsprung zu erreichen bzw. zu sichern oder Einfluss nehmen zu können. Nicht jedes Wissen ist Macht, aber dass beim Wissen schnell die Machtfrage ins Spiel kommen kann, wird kaum zu bestreiten sein. Nicht nur die Neugierde der Geheimdienste steht in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis zur Macht. Die Neugierde kann durchaus sehr viel mehr wollen, als sie erfragt.

Neben dem Fragen steht in der Neugierde die Skepsis. Die Geschwister Frage und Zweifel sind die entscheidenden Triebfedern des neuzeitlichen Aufschwungs der Wissenschaften. Nichts ist unbefragbar und alles darf bezweifelt werden. Und so durchstreift der Mensch alle Dimensionen seiner Wirklichkeit, um sie vermittels der zumindest vorläufig gesicherten Erkenntnisse in den Griff zu bekommen.

An allem, was sich nicht sichern lässt, nagt der Zweifel solange, bis diesem keine relevante Macht mehr zukommt. Wo die Frage zu keiner Antwort findet, lässt sie zur Markierung des bereits angemeldeten Machtanspruchs den Zweifel zurück, der zuverlässig die Erosion jedes Widerstands gegen den Anspruch des Menschen besorgt und auf diese Weise zwar die Frage nicht beantwortet, diese aber auf die Dauer obsolet macht.

In dieser Perspektive wird deutlich, dass Skepsis und Frage stets auch ein Zeichen dafür sein können, dass der Mensch auf dem Sprung ist, etwas in seine Macht zu bekommen oder sich etwas zu erobern. Es gilt nüchtern einzugestehen, dass ohne Macht nicht auszukommen ist, wenn der Mensch seine Lebensbedingungen gestalten will. Deshalb darf die Macht nicht einfach abgewiesen und prinzipiell verurteilt werden, und zugleich ist keine Macht vor ihrem Mißbrauch geschützt.

Indem etwas in die Verfügungsgewalt des menschlichen Verstehens gerät, wird es unweigerlich in die Ambivalenz der menschlichen Nutzung der Macht einbezogen. Es ist nicht möglich, Gutes und Böses zuverlässig zu identifizieren, um dann eine stabile Orientierung für das Leben zu haben, sondern die Verflechtung mit der Machtfrage weist darauf hin, dass Gutes unversehens zum Bösen verdreht werden kann und umgekehrt. Wir kommen auf diese Ambivalenz später noch einmal zurück.

Aus Prüfungen oder Verhören kennen wir die zurechtweisende Ermahnung: »Nicht Sie stellen hier die Fragen, sondern wir!« Kaum deutlicher lässt sich daran erinnern, wer da gerade die Macht hat und wem da die Rolle zu antworten zukommt, wobei dieses Antworten – so oder so – eine Preisgabe der Macht des Gefragten in Raten bedeutet. Weil Fragen Machtausübung bedeutet, muss man dazu autorisiert sein. Wenn man sich eine Frage verbittet, entzieht man sich ihrem Zugriff. Um sich aber eine Frage verbitten zu können, ist wiederum Macht vonnöten – die Ohnmacht kann sich keine Fragen verbitten, sie kann höchstens schweigen und dadurch der Macht eine Grenze zu setzen versuchen.

Wenn der jüdische Psychologe Aron R. Bodenheimer von der »Obszönität des Fragens« spricht, hebt er vor allem den bloßstellenden Charakter des Fragens heraus, mit dem der Frager über den Gefragten verfügt, ohne sich selbst für diesen Zugriff rechtfertigen zu müssen[1]. Geradezu augenfällig wird die vom Fragen möglicherweise ausgelöste Bedrängnis im Erröten des Gefragten, das schon vor der Antwort eine Antwort ist. Natürlich kann und will auch Bodenheimer nicht den absurden Vorschlag unterbreiten, nun das Fragen einzustellen, wohl aber möchte er für die unterschiedlichen Zugriffe und Dimensionen des Fragens sensibilisieren, um das Gewaltpotenzial, mit dem sich unser Fragen verbinden kann, ins Bewusstsein zu heben. Dabei weist der sich gern auf biblische Beobachtungen berufende Psychologe auf eine interessante linguistische Beobachtung:

»Die Bezeichnung für das Fragen lautet im Hebräischen scha’ol; Frage als Text wird übersetzt mit sche’ela. Zugleich aber benennt dasselbe Wort – scha’ol oder sche’ol – die unterweltlichen Regionen (...) und stellt diese in Gegensatz zu schamajim (›dort oben‹), dem Himmel. ... Die Sprache der Bibel bringt also auf etymologisch eindeutige Weise den drohenden Untergrund der Erde in Beziehung zum Akt des Fragens. ... Das Sym-bolische (Zusammengebrachte) des Sagens findet sich in der Bibel ersetzt durch das Dia-bolische des Fragens.«[2]

Gleichwohl wird die erste Frage, die in der Bibel gestellt wird, Gott in den Mund gelegt: »Adam, wo bist du?« (Gen 3,9). Gott reagiert darauf, dass sich der Mensch vor ihm verbirgt, weil ihm der eigenwillige Genuss der verbotenen Frucht unverhofft seine Nacktheit zu Bewusstsein gebracht hat. Der Treuebruch hat unversehens eine Auseinander-Setzung zur Folge, und Gott sorgt dafür, dass sie nicht einfach hingenommen wird, sondern nun tatsächlich auch eine Auseinandersetzung geführt wird, indem er über den aufgeworfenen Graben hinwegfragt und Adam zur Rede stellt.

Damit sich der leichtsinnig heraufbeschworene Schaden nicht einfach der Wirklichkeit bemächtigt, muss Gott durch die Macht des Fragens Einhalt gebieten. Er bedient sich des Fragens, um die veränderte Lage nicht einfach dem sich vor Gott verbergenden Menschen zu überlassen, der bei dem ersten eigenwilligen Versuch, über die ihm gesetzten Grenzen hinauszustreben, sogleich in seiner Begrenztheit bloßgestellt wurde.

Diese biblische Situation entspricht aber eben gerade nicht den Umständen, unter denen wir in der Regel den Graben zu Gott zu überwinden versuchen. Da sind wir es, die Gott als verborgen ausgeben und ihm dies zum Vorwurf machen, indem wir ihn fragen, wo er denn sei, so als verstecke er sich, um uns im Unklaren über sich zu lassen. Alles scheint darauf hin zu deuten, als könne sich der Mensch die Macht zumessen, Gott zur Rede zu stellen. Wie keine andere Frage ist die Gottesfrage in jedem Falle – ganz gleich wie sie gestellt wird – eine Machtfrage.

Auch bei der ›Gretchenfrage‹ ist die Machtfrage auf dem Plan. Die Dramaturgie der Szene, in der sie gestellt wird, ist auf die von dieser Frage erhoffte Klärung zugespitzt. So wie sie gestellt war, musste sie Faust bloßstellen; Gretchen will Klarheit und fragt: ›Faust, wo bist du?‹, was in diesem Zusammenhang durchaus meint: Faust, wer bist du – zeige dich!

Die Direktheit der Frage verbietet jedes Ausweichen; durch diese Frage wird Faust gestellt. Und Faust wählt das einzige Mittel, das ihm bleibt. Er verbittet sich den Zugriff und dreht den Spieß unversehens um, indem er Gretchen nun seinerseits in eine Reihe von zehn suggestiven Fragen verwickelt, deren implizite Antworten erfolgreich das eine Ziel verfolgen, nämlich Gretchen ihre Frage zu verbieten, so dass sich Faust ihr nicht stellen muss. Bodenheimer:

»O nein, er gibt kein Bekenntnis. Statt dessen bringt er eine hübsche Anzahl von Gegenfragen vor, er weiß das Teufelsmittel, um mit Fragen zurechtzukommen. Dann weist der das Kind (fragend) darauf hin, wie dumm es doch fragt. Schließlich greift er über zu einigen spinozistisch-pantheistischen Exkursen, zu Bekenntnissen, welche ... zu der Zeit, als sie vom Dichter dem Sucher Faust in den Mund gelegt wurden, im Umfeld dieses Dichters ein durchaus angenehmes und geläufig unverbindliches Arrangement mit der Gottheit, mit ihren Forderungen und Bedrohungen, abgaben. Schließlich geht die Antwort (die keine ist) über in eine Sentenz, die so verführerisch tönt und verheißend klingt und deshalb eine gefährliche Irrationalität noch nicht birgt, aber schon am Aufkommen fördert und daher in nuce in sich trägt.«[3]

Bodenheimer sieht alles auf die Worte Fausts zusteuern: »Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut ...«[4] Da verpufft der entschlossene Zugriff der Gretchenfrage, und die Irrationalität bemächtigt sich der Szene, die Faust nun in seinem Sinne wieder in die Regie genommen hat, um das Ziel seiner Verführung zu erreichen, und hier hat er es schon erreicht – alles Weitere ist von hier an vorgezeichnet. Der Rhetor weiß, dass sich mit Fragen mehr sagen lässt, als er jemals sagen könnte. Zuverlässig bringen seine rhetorischen Fragen die Gefragte dorthin, wohin er sie haben will. Er hat das Machtspiel der Fragen gewonnen.

Die angedeutete ambivalente Verbundenheit des Fragens mit dem Problem der Macht gibt zu bedenken, ob sich Grenzen des Fragens benennen lassen und wie sich solche Grenzen dann auch begründen lassen. Und wenn nicht Grenzen, so müssten sich doch Mentalitäten des Fragens unterscheiden lassen, die in unterschiedliche Richtungen weisen: einerseits zur lebensdienlichen Ermächtigung und andererseits zum Machtmissbrauch. Aber es ist keineswegs einfach, hier klare Grenzen zu ziehen.

Was kann eigentlich sinnvoller Weise unter der ›Gottesfrage‹ verstanden werden? Was hieße es eigentlich, wenn wir hier feststellten, dass sie durch unser Fragen ins Spiel kommt? Ist sie eine Frage, die sich im Zuge unserer Welterfragung und somit Weltermächtigung stellt? Ist sie womöglich die Frage, die am Ende aller Fragen offen bleibt, gleichsam als demonstratives Eingeständnis der Grenze unseres Fragens, das sich eben – wie eingangs bereits vermutet wurde – immer auch damit zu arrangieren hat, dass es nicht alles in den Griff zu bekommen vermag und immer auch noch mit Unbekanntem zu rechnen hat? Kann Gott überhaupt als Gegenstand einer menschlichen Frage in Erscheinung treten? Müsste er sich als Antwort auf eine menschliche Frage nicht zwangsläufig der Macht des ›Fragers‹ so unterwerfen, dass kaum mehr als ein – vielleicht besonderer – Ausstattungsgegenstand für eine menschliche Weltanschauung dabei herauskommen kann?

Diese Fragen verdeutlichen bereits, dass es sich bei der Frage nach Gott nicht einfach um eine unserer Fragen handeln kann, mit denen wir unsere Kenntnisse anreichern und somit unsere Beurteilungs- und Handlungsmöglichkeiten weiter ausdehnen. Es kann hier nicht um die in eine Frage gelegte Initiative des Menschen gehen, mit der er sich Zugang zu einem bisher verborgenen Bereich verschafft, indem er diesen in die Situation versetzt, unter der Observanz des sich immer wieder und weiter präzisierenden Fragers seine Zugänge, Eigenschaften und Verwendungsmöglichkeiten preisgeben zu müssen, bis er schließlich – möglichst aller Geheimnisse beraubt – dem Frager gleichsam wehrlos zur Verfügung steht.

Diese von den menschlichen Fragern geordnete Welt ist die Welt, in der sich der Mensch die Rolle des Subjekts vorbehält, während er sich im Übrigen möglichst konsequent darum bemüht, alles zu seinem Objekt zu machen, über das er nach eigenen Nützlichkeitserwägungen verfügen kann. Das menschliche Subjekt versichert sich seiner selbst vor allem darin, dass es sich als fähig und effektiv erweist, sich mithilfe seiner Fähigkeit des Fragens und des Zweifels expansiv der zum Objekt erklärten Welt immer weiter zu bemächtigen.

Wenn Descartes die Skepsis zu dem zentralen Konstitutionsfundament des Menschen erklärt[5], dann wird damit festgelegt, dass die Konstitution des Menschen nur Selbstkonstitution sein kann. Und damit ist zugleich festgelegt, wer hier die Fragen zu stellen hat. Die Skepsis erklärt alle Widerstände auf dem Weg des Fragens für überwindbar, indem sie jedem Widerstand die Autorität entzieht und mit dem Problem der Legitimation konfrontiert, dem wiederum keine andere Lösung zugestanden wird als eine solche, die ihn – diesen Widerstand – für den Menschen in irgendeiner Weise handhabbar macht; andernfalls wird die Skepsis den Widerstand für lächerlich erklären und einfach über ihn hinwegschreiten.

Und so hat sich der neuzeitliche Mensch Schritt für Schritt über alle Bindungen erhoben und in diesem Akt der Selbstbefreiung die Welt selbst zu Füßen gelegt. Das ist die Welt, die alle diese Schritte als Fortschritt feiert, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit die Tagesordnung dieser Welt unterworfen hat und dabei durchaus Erstaunliches realisiert hat.

Es ist aber auch die Welt, in der dem Menschen schließlich nichts bleibt, an dem er Halt finden kann, als eben wiederum er selbst, so dass es auch keineswegs verwunderlich ist, wenn der letzte Kult, der dem Menschen schließlich bleibt, der Selbstkult ist. Es kann durchaus der Ironie der Geschichte zugerechnet werden, dass dieser Selbstkult bei genauer Betrachtung nicht der Ausdruck eines inzwischen durch all die Geschäftigkeit erworbenen Reichtums ist, sondern eben vor allem der Armut, als etwas wirklich Wichtiges nur noch sich selbst zu haben.

Weil man sich selbst aber nicht so recht ›haben‹ kann, umgibt sich das ›Selbst‹ mit möglichst viel, durch dessen Besitz es sich greifbar und attraktiv zu machen verspricht. Und so liebt man schließlich nicht sich selbst, sondern das an dem ›Selbst‹, mit dem es sich zu umgeben und in Szene zu setzen versucht, um etwas darzustellen. Die Fragen der Weltbemächtigung stehen immer auch im Dienst der Sicherung dieses ›Selbst‹. Hinter ihnen steht im Grunde immer bereits ein von verschiedenen Nutzungsinteressen aufgespannter Erwartungshorizont im Hintergrund. Die an sich selbst adressierte Liebe gilt schließlich all dem, was man glaubte, für sich selbst rekrutieren zu müssen.

Es verwundert nicht, wenn bei dieser Prozedur der Selbstinszenierung in Zeiten des mehr oder weniger totalen Marktes teilweise merkwürdige und erbärmliche Profile zu Stande kommen, mit denen der Mensch seine Selbstdarstellung bereits für erfolgreich zu halten geneigt ist. Das hat seinen Grund nicht darin, dass der Bezug auf das ›Selbst‹ an sich schon als ein Eingeständnis der Armut zu bewerten ist, sondern vor allem darin, dass alles, mit dem sich der Mensch attraktiv zu machen glaubt, ihn nicht tatsächlich reich zu machen vermag, denn es reicht nicht wirklich an ihn heran, sondern erreicht ihn immer nur dadurch, dass es von ihm zur Darstellung seines ›Selbst‹ autorisiert wird. Der Eindruck des Fassadenhaften wird sich daher niemals ganz vertuschen lassen.

Längst sind auch die Religionen in diesen Strudel der selbstbezogenen Verwertungszusammenhänge des Menschen geraten. Wahrscheinlich gehört es mit zur ambivalenten Natur der Religion, dass sie von jeher immer auch ein besonderes Feld menschlicher Selbstdarstellung und Machtentfaltung gewesen ist. In dem Maße, in dem die Religionen als Quelle zur Steigerung der Lebensqualität infrage kommen, sind sie auch heute weithin durchaus von Interesse.

Für die Fragen, für die sich der Mensch keine rationale Antwort erwartet, werden die Religionen in den Blick genommen. In einer Welt des Konsums wird weniger nach einem ganz bestimmten ›Artikel‹, sondern nach dem jeweiligen Angebot gefragt. Und so sucht sich der Mensch in der Religion nicht unbedingt die Antwort auf eine bestimmte Frage, sondern fragt eher unambitioniert schlicht danach, was sie denn zu bieten hat. Liegt das Angebot vor, kann man sich aussuchen, was jeweils am attraktivsten erscheint.

Die hier in Kauf genommene Irrationalität folgt durchaus streng der Rationalität des Nutzens bzw. zumindest des Gewinnversprechens, das der jeweilige Glaube seinen AnhängerInnen gibt. Und so ist es immer noch ein nicht nur rhetorisches Glanzstück, das Schleiermacher mit seiner Verteidigung der Religion gegenüber ihren Verächtern vorgelegt hat, mit dem diese Verächter im andauernden Appell an ihr fortschrittsbewusstes Selbstbewusstsein und ihre weltzugewandte Bildung dazu geneigt gemacht werden sollen, eben um ihrer selbst willen der Religion nicht nur die kalte Schulter, sondern wenigstens einen Teil ihrer sonst so interessierten Aufmerksamkeit zuzuwenden[6].

Nur wenn sich der mit der Religion verbundene Nutzen verheißungsvoll benennen lässt, vermag sie die Aufmerksamkeit auf sich oder auch nur einen bestimmten Teil von ihr zu ziehen. Und so haben sich die Religionen den Fragen und Bedürfnissen derjenigen zu stellen, die sie erreichen wollen. Die Fragen messen den zu erwartenden Gewinn aus und steuern die individuelle Auswahl, an deren Ende als individueller Seelenwärmer möglicherweise eine aus verschiedenen Elementen zusammengesetzte ›Patchwork-Religion‹ steht. – Dass beispielsweise ›transzendentale Meditation‹ – was immer das genau sein mag – dem Menschen durchaus gut tun kann, soll mit dieser kritischen Einschätzung der Religionsbenutzung keineswegs bestritten werden; aber was ist damit gesagt, und wo liegt da die Ernsthaftigkeit der in Anspruch genommenen Religion?

Wer die Religion zur Natur des Menschen erklärt[7], fügt den Selbstverwirklichungsmöglichkeiten des Menschen lediglich eine weitere hinzu[8]. Keine Quelle zur Steigerung der eigenen Lebensqualität darf ungenutzt übergangen werden. Die so genannte Transzendenz, die man gerne von der Religion verwaltet sieht, gilt da als besonders vielversprechend, wohl weil sie der Phantasie keine Grenzen setzt. Das gilt ebenso für die in diesem Horizont möglicherweise gestellte Gottesfrage: Ihr geht es nicht um irgendeinen Gott oder tatsächlich um Gott, sondern um den von ihm zu erwartenden Gewinn.

Wenn es heute so salopp heißt: »Ja, aber was bringt mir das?«, zeigt sich die treibende Sensibilität des Fragens: Es muss etwas bringen. Auch wenn Gott ins Spiel kommen soll, muss er etwas bringen. Und wird er womöglich willkommen geheißen, dann eben auch vor allem, weil er dafür steht, dass wir von ihm dieses oder jenes bekommen bzw. erwarten dürfen.

Eben deshalb darf Gott auch nur der ›liebe‹ Gott sein, der uns so annimmt, wie wir sind, der uns bestätigt und auch diejenigen immer wieder ermutigt, denen Verzagtheiten oder Skrupel eher fremd sind. Wir sind gern bereit, dem auf seine Inanspruchnahme wartenden Gott einen Groschen in den Schoß zu schmeißen (d.h. etwas in die Religion zu investieren[9]), wenn wir sicher sein können, dass er uns dann freundlich zunickt, wie bei der bekannten Sammelbüchse für die Mission, die mit der lächelnden Figur eines unablässig dankbaren Schwarzen geziert war.

Wenn wir einmal darauf achteten, würden wir schnell feststellen, wie sehr sich dieses selbstbezogene Wahrnehmen und Denken auch in die Theologie, den ganzen kirchlichen Alltag und eben auch in die öffentliche Selbstdarstellung der Kirche eingenistet hat. Die Tatsache, dass wir dies in der Regel nicht als anstößig empfinden, zeigt nur, dass die damit verbundene Mentalität ein Ausdruck unserer Normalität ist.

Wenn sich der Mensch nur als ›Frager‹ versteht, der nur Antworten akzeptiert, die er in irgendeiner Weise für seine Interessen gebrauchen kann, kann Gott nur als ein vom Menschen Gefragter in Erscheinung treten, der sich von vornherein in der Rolle findet, dem Menschen diese oder jene Antwort zu liefern.

Der erfragte Gott hat sich an die menschlichen ›Bedürfnisse‹ zu halten – ein anderer ist nicht gefragt. Er lebt von seiner Nützlichkeit, die er möglichst bei jeder Gelegenheit unter Beweis stellen muss. Dies tut er am besten dadurch, dass er sich in der Kirche möglichst eindrucksvolle Repräsentanten bestellt, die er damit beauftragt, diese seine Nützlichkeit möglichst augenfällig und anrührend zu inszenieren und zu verwalten. Sie dienen als Diener Gottes dem Menschen und als Diener der Menschen zugleich auch Gott. Sie halten sich solange schadlos, wie es ihnen gelingt, Gott in der Spur des selbstbezogenen menschlichen Fragens zu halten.

Meines Erachtens liegt hier auch eine durchaus plausible Verbindung zu dem ebenso seltsamen wie offenkundig resistenten Phänomen des Klerikalismus, der zurzeit wieder eine ganz besondere Konjunktur genießt. Da es auch bei Gott vor allem um die Befriedigung bestimmter menschlicher Bedürfnisse geht, ist es durchaus folgerichtig, wenn seine menschlichen Repräsentanten als sichtbare Akteure besonders hervorgehoben werden, zumal ihnen die verschiedenen religiösen Bedürfnisse weniger fremd sein dürften als dem unsichtbaren Gott. Sie sorgen dafür, dass tatsächlich etwas geschieht, auch wenn sich das Geschehen womöglich auf die diffuse Inszenierung einer frommen Feierlichkeit beschränken mag.

Das Pathos feiert stets dort seine größten Erfolge, wo es vor allem um die Form und nicht um einen bestimmten Inhalt geht. Wenn sich heute insbesondere auch der Protestantismus wieder gern – wohl aus den gleichen als überlebenswichtig ausgegebenen Opportunitätsgründen wie bereits mehrfach in seiner Geschichte – in die von der Religion erwartete Beitragmentalität drängen lässt, bleibt daran zu erinnern, dass ein vor allem an den religiösen Bedürfnissen orientierter ›Betrieb‹ eine natürliche Neigung dazu hat, schließlich zu einem rein zwischenmenschlichen Erbauungsunternehmen zu geraten[10]. Dabei gehört es durchaus in den Rahmen der Bedingungen menschlicher Selbstsorge, dass gelegentlich auch ein freundlich den Menschen zublinzelnder Gott auf einen schönen Leuchter gestellt wird.

Neben diesem im Grunde leicht zu dekuvrierenden Gefälle des usurpierenden Fragens gibt es eine scheinbar weichere Variante, die in der Gestalt einer bewusst ungenau gestellten Frage alles in einen Schwebezustand versetzt, dessen Klärung schließlich aber zum Vorschein bringt, dass die von der Frage ausgelöste Verwirrung nur inszeniert wurde, um wiederum ein mit ihr im Schilde geführtes apologetisches Anliegen möglichst verborgen zu halten. Wenn Hans Küng fragt: »Existiert Gott?«[11], bleibt die Frage allein deshalb vor dem Vorwurf geschützt, eine rein rhetorische Frage zu sein, weil sie den Trick verwendet, eine Formulierung zu wählen, von der sich schließlich herausstellen wird, dass sie sachlich vollkommen unangemessen ist.

Mit einer solchen mehrfach verdrehten Frage kann man sich auch als Theologe gelassen an die wegen ihrer besonderen Öffentlichkeitswirksamkeit gern aufgesuchte Grenze zum Ketzertum stellen, weshalb Bodenheimer hier wohl zu Recht lediglich von einem »Pseudo-Ketzertum« spricht[12]. Das Raffinement dieser rhetorischen Frage besteht darin, dass sie falsch gestellt wird, denn allein so ist es möglich, ja notwendig, dass Küng schließlich »die Antwort von anderswo herkommen lassen kann als von da, wo das Fragen Augen und Ohren hinlenkt.«[13]

Diese in die Frage gepackte Ungenauigkeit, ja Widersinnigkeit, weckt das zweifelnde Interesse der LeserInnen, und Küng kann sie nun leicht überall hinführen, wohin er sie haben will, immer mit dem willkommenen Kitzel im Bauch, nun durch im Grunde verbotenes Gelände zu streifen. Wahrscheinlich gehört zur Apologetik immer ein Stück Irreführung – das macht sie so suspekt; allerdings lauert die Irreführung nicht nur in der Apologetik.

Sollte die Alte Kirche – und mit ihr ein breiter Strom der kirchlichen Tradition – mit ihrer unserer Apologetik Grenzen setzenden Einsicht Recht behalten, dass Gott eben nur durch Gott erkannt werden kann, dann steht die Perspektive der Gottesfrage uns nicht einfach zur Verfügung. Für ein theologisch verantwortliches Reden von Gott scheint mir der Schlüssel darin zu liegen, dass dem Menschen bewusst bleibt, dass er zunächst und grundlegend nicht ein Frager, sondern ein Gefragter ist. Wo nicht Gottes Frage nach dem Menschen am Anfang steht, kann Gott auch nicht als Antwort in den Blick kommen.

›Adam, wo bist du?‹ Gott fragt nach dem Menschen. Der Mensch ist ein Gefragter, und zwar im doppelten Sinn des Wortes: Er ist ein In-Frage-Gestellter und ein von der Frage Gottes besonders Umworbener. Es bleibt wichtig, daran zu erinnern: Die Frage Gottes trifft den Menschen ausdrücklich nicht bei der Gottessuche, sondern bei der Selbstsuche, die ihn in einen Gegensatz zu Gott gebracht hat. Indem er nach der Abkehr von Gott damit beschäftigt ist, die nun sichtbar gewordene eigene Blöße zu bedecken, gerät ihm Gott aus dem Blick.

Wir werden noch zu zeigen haben, welche Bedeutung dieses Moment hat, dass wir, wenn Gott ins Spiel kommt, eigentlich immer in einem ungünstigen wenn nicht gar peinlichen Augenblick erwischt werden – eben wie Adam und Eva im Paradies. Hier ist auch der Grund für den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu suchen, dass die konkrete Benennung Gottes beinahe unvermeidlich mit einer gewissen Peinlichkeit verbunden ist.

Diese Andeutungen zeigen: Es ist keineswegs selbstverständlich ist, wie man sich selbst wahrnimmt, denn es kommt entscheidend darauf an, von wo aus man sich wahrzunehmen versucht. Das gilt aber für die ganze Wirklichkeit: Es ist keineswegs einfach ausgemacht, was wirklich ist, ausschlaggebend ist, was wir für ›wirklich‹ erklären bzw. uns erklären lassen und unter welchen Bedingungen wir etwas als ›wirklich‹ erkennen können[14].

Vor dem Versuch, die Bedeutungsebene der Rede von Gott in seiner Beziehung zu den Menschen genauer zu erfassen, müssen wir uns über die Bedingungen verständigen, unter denen wir das wahrnehmen, was wir als Wirklichkeit ausgeben. Wir konzentrieren uns gleich auf die Wirklichkeit des Menschen und kommen dabei nicht umhin, ein paar sehr grundsätzliche Überlegungen anzustellen. Die Mühe, die solche Überlegungen – wie sich zeigen wird – mit sich bringen, sollten aber nicht in erster Linie dem zu betrachtenden ›Gegenstand‹, sondern vor allem dem von uns zur Normalität erklärten großen Abstand von diesem ›Gegen­stand‹ zugerechnet werden.

Weiter >>>


[1]    A.R. Bodenheimer, Warum? Von der Obszönität des Fragens, Stuttgart 21985.

[2]    Ebd., 21f.

[3]    Ebd., 151f.

[4]    Vgl. ebd., 153.

[5]    Seine berühmte Formel cogito ergo sum – ich denke, also bin ich kann durchaus in dem Sinne verstanden werden: ich zweifle, also bin ich, vgl. dazu R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie [1641], in: Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996.

[6]    Vgl. Fr. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799] (UTB 1655), Göttingen 71991.

[7]    Vgl. dazu W. Pannenberg (Hg.), Sind wir von Natur aus religiös? Düsseldorf 1986.

[8]    Im Mai 2001 wurde in einem Leitartikel des Wochenmagazins ›Newsweek‹ dargelegt, dass amerikanische Forscher festgestellt haben [wollen (?)], dass die menschliche Religion in den Genen des Menschen verankert sei: Die Religion sei eine von den vielen im Menschen liegenden Ressourcen, von denen – wie man weiß –  bisher ohnehin längst nicht alle genutzt werden, so dass durchaus damit zu rechnen sei, dass es noch ganz andere, bisher völlig unbekannte Bereiche der Selbstentfaltung und Selbsterfüllung gibt. In all diesen Möglichkeiten komme es entscheidend darauf an, ob es dem Menschen gelinge, sie in fruchtbarer Weise für sich selbst nutzbar zu machen.

[9]    Es ist kein Zufall, dass Karl Barth den neuzeitlichen Umgang mit der Religion in einer Metaphorik charakterisiert, die an das Wirtschaftsleben angelehnt ist: Der sich die Religion zugute haltende Mensch sei mit »einem reichen Mann zu vergleichen, der, im Bedürfnis, noch reicher zu werden (das doch kein absolutes Bedürfnis sein kann!), einen Teil seines Vermögens in ein Nutzen versprechendes Unternehmen steckt« (KD I/2, 344); zu Barths Umgang mit der Religion vgl. ausführlicher M. Weinrich, Die religiöse Verlegenheit der Kirche. Religion und christliches Leben als Problem der Dogmatik bei Karl Barth, in: P. Eicher / M. Weinrich, Der gute Widerspruch. Das unbegriffene Zeugnis von Karl Barth, Düsseldorf/Neu­kir­chen-Vluyn 1986, 76-160.

[10] Diese Frage kann hier nur gestreift werden; in einem der nächsten Bände von Jabboq, in dem es um die Kirche gehen soll, wird diese Frage eingehender zu erörtern sein.

[11] H. Küng, Existiert Gott? München/Zürich 1978.

[12]  AaO. (s. Anm. 17), 154.

[13]  Bodenheimer (s. Anm. 17), 148.

[14]  Vgl. dazu auch M. Weinrich, Theologie und Biographie. Zum Verhältnis von Lehre und Leben, Wuppertal 1999, 63ff.


Michael Weinrich