I. Das Unbekanntsein Gottes
II. Von Gott reden, heißt vom Menschen reden
III. Von der Anmaßlichkeit des Fragens
IV. Wirklichkeit als Beziehung
V. Zur Freiheit befreit
VI. Eine Zwischenbilanz
VII. Die unmögliche Möglichkeit
VIII. Die mögliche Unmöglichkeit
Wenn die Bibel von der Wirklichkeit des Menschen spricht, unterscheidet sie grundsätzlich zwei miteinander zusammenhängende Wahrnehmungsperspektiven. Einerseits kommt der Mensch als Ebenbild Gottes in den Blick – das ist die Wirklichkeitsperspektive der Schöpfung (auch der Neuschöpfung, von der das Neue Testament spricht; 2Kor 5,17; Gal 6,15), in der die besondere Bestimmung des Menschen erkennbar wird – nicht als ein irgendwann zu verwirklichendes Ziel, sondern als die Wirklichkeit, in welcher der Mensch als Geschöpf seinem Schöpfer gegenübersteht.
Und andererseits kommt der Mensch als jemand in den Blick, der sich seine eigene Wirklichkeit auftürmt, um sich einen Namen zu machen (Gen 11,4). Das ist die Wirklichkeit in der Perspektive der tatsächlichen Geschichte des Menschen mit Gott, die von dem unablässigen Versuch des Menschen geprägt ist, sich eine Wirklichkeit zu schaffen, die sich nicht Gott, sondern ihm selbst verdankt.
Es kommen gleichsam zwei Wirklichkeiten in den Blick, die in einer grundsätzlichen Spannung zueinander stehen und zwischen denen sich die vom Menschen immer wieder neu sabotierte Beziehung zwischen Gott und Mensch vollzieht, von der die Bibel in all ihren unterschiedlichen Wahrnehmungen erzählt. Wir erörtern zunächst die Bedeutung der Gottebenbildlichkeit für das biblische Wirklichkeitsverständnis, in der Emil Brunner so etwas wie die Schicksalsfrage der Theologie überhaupt sah[1].
Das erste Mal ist in der Bibel vom Menschen die Rede ist, als Gott sich entschließt, den Menschen zu schaffen: »Lasset uns Menschen machen nach unserm Bilde, uns ähnlich« (Gen 1,26). Und so geschieht es: Gott schafft den Menschen als Mann und Frau. Wie hier von dem einen Gott in diesem merkwürdigen Plural (»lasset uns ...«) die Rede ist, so schafft Gott ›den Menschen‹ (Singular; Gen 1,27), indem er ihn als zwei schafft mit dem ausdrücklichen Auftrag sich zu mehren (Gen 1,28).
Dem göttlichen ›Plural‹ entspricht von vornherein ein menschlicher Plural. Zudem ist mit der Rede vom ›Bild‹ von vornherein ein strikt im Auge zu haltendes Problem verbunden: Kaum ein Gedanke zieht sich so konsequent durch die Bibel, wie der, dass wir uns von Gott kein Bildnis machen können. Wenn dies dann im Bilderverbot (Ex 20,4-6) seine besondere Zuspitzung erhält, soll für das Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen jede Vorstellung ausgeschlossen bleiben, die sich auf die Gestalt oder auf bestimmte im Menschen schlummernde und als solche beschreibbare Eigenschaften – wie etwa seine besondere Intelligenz – bezieht. Wird aber die Bildlosigkeit Gottes zum Erklärungshorizont für die Gottebenbildlichkeit des Menschen, so kann die Gottebenbildlichkeit nicht in seiner schlichten Erscheinung liegen, sondern allein in der Bestimmung des Menschen zu einer besonderen Lebensführung.
Die ins Auge zu fassende Analogie ist keine Analogie der Gestalt, sondern der Lebensausrichtung, die von vornherein von diesem merkwürdigen Plural bestimmt ist, der sich sowohl auf der Seite Gottes als auch auf der Seite des Menschen findet, zugleich aber auch durch die unmittelbare Relationierung des Menschen mit Gott bekräftigt wird. Es geht nicht um eine neutrale Qualifikation oder ein in sich bedeutungsvolles und unabhängig von seiner Nutzung relevantes Vermögen des Menschen, sondern um die dem Wesen und Willen Gottes entsprechende Bezogenheit des Menschen sowohl zu dem, was er ihm mit der übrigen Schöpfung anvertraut, als auch zu Seinesgleichen (Mann und Frau durchaus auch im Sinne von Mensch und Mensch) und zu Gott.
Erst durch die verschiedenen Bezogenheiten kann der Mensch zu der ihm in der Schöpfung zugewiesenen Wirklichkeit hindurchfinden. Seine Wirklichkeit besteht nicht im Für-sich-sein; er kann sich nicht durch sich selbst definieren; in der Selbstbetrachtung vermag sich der Mensch überhaupt gar nicht angemessen in den Blick zu bekommen.
Die Wirklichkeit des Menschen kommt erst in seinen Bezügen zum Vorschein, d.h. er wird stets auch durch das definiert, zu dem er sich verhält. Dabei ist ausdrücklich nicht die Beziehung im Sinne einer Selbstverdopplung gemeint, die in allem anderen nur den Nutzen für sich selbst aufsucht.
Mann und Frau stehen hier auch für die Andersartigkeit des Anderen. Die Beziehung zu dem/der Anderen bleibt aller Ebenbildlichkeit zum Trotz eine Beziehung zum immer auch – zumindest partiell – unüberwindlich fremden Menschen, die in der Geschlechterdifferenz besonders deutlich zu Tage tritt, ohne an sie fixiert zu sein. Nicht in sich selbst kann der Mensch zu sich selbst und zu seiner Wirklichkeit finden. Erst, indem er über sich selbst hinausgeht, besteht auch die Chance zu erahnen, was als Wirklichkeit angesehen und entsprechend in Ehren gehalten zu werden.
Nach biblischem Verständnis liegt die Bestimmung des Menschen im Gegenübersein zu Gott und im Bezogensein auf ihn. Dies schließt das Gegenübersein zum Mitmenschen und das Bezogensein auf ihn mit ein. Das Leben wird nicht durch Eigenschaften und Qualitäten, sondern durch Vollzüge und Beziehungen beschrieben. Eigenschaften und Qualitäten entfalten sich aus dem, was in ihnen steckt; sie gestalten, indem sie aktiv werden. Vollzüge und Beziehungen entspringen nicht einer Quelle, sondern in ihnen kommen verschiedene Quellen zusammen. Sie geschehen durch Interaktion, in ihnen ereignet sich je etwas Neues und als solches Einmaliges, dessen Reichtum und Fülle erst im Vollsinn und mit Recht ”Leben” genannt werden kann.
Von hier aus ergibt sich ein eigenes Wirklichkeitsverständnis. Wirklichkeit ist hier nicht das, was die Welt dem Menschen zu seiner Betätigung zur Verfügung stellt, damit er aus sich selbst etwas machen kann. Wirklichkeit ist nicht die den Menschen umgebende Gegenständlichkeit, die ihm die Mittel an die Hand gibt, sich als nützlich und produktiv zu erweisen. Und sie ist ebenso wenig eine geduldig ausharrende, mehr oder weniger beschreibbare Befindlichkeit, die dem Tätigkeitsdrang des Menschen die Gelegenheit bietet, Geschichte zu machen.
Sie ist kein Sein, das es auszufüllen gilt. Vielmehr steht die Wirklichkeit für das, was den Menschen anspricht und ihm die Chance eröffnet darauf zu antworten. Wirklichkeit ist Herausforderung des Lebens durch Leben, durch den lebendigen Gott und den lebendigen Mitmenschen. Sie steht für die Bestimmung des Menschen, an dem Geschehen und dann auch an der Geschichte Gottes teilzuhaben. Wirklichkeit ist als solche bereits Geschehen, sie ist interaktiv, weil sie grundsätzlich als Mitsein in Erscheinung tritt. Sie ist ein Geflecht von Beziehungen, das weder von sich aus eine klare Mitte zu erkennen gibt noch tatsächlich dazu geeignet ist, dass sich irgendetwas oder irgendjemand als seine Mitte usurpiert.
Dieses Wirklichkeitsverständnis steht der faktischen Realität gegenüber, der zwar die hier ins Auge gefassten Beziehungen nicht fremd sind, der sie aber entbehrlich erscheinen. Der Kontrast zwischen der schöpfungsgemäßen Bestimmung der Wirklichkeit und der faktischen geschichtlichen Realität besteht also nicht in zwei völlig unterschiedlich gestalteten Lebensräumen, zwischen denen es keinerlei Gemeinsamkeiten gibt, sondern es stehen sich durchaus vergleichbare Bedingungen gegenüber. Die Differenz ergibt sich lediglich aus der Verschiebung des Akzents vom Du (dem Du Gottes und dem Du des Mitmenschen) auf das Ich, das sich zwar durchaus Gottes und des Mitmenschen zu erinnern und sich ihnen zuzuwenden vermag, dies aber eben nur gelegentlich tut:
Hier kennt der Mensch seinen Mitmenschen »nicht als das ihm durch Gott unweigerlich zur Seite gesetzte Mitsubjekt, dem er in seinem Verhältnis zu Gott unweigerlich verbunden ist, so daß er seinerseits getrennt von ihm gar nicht Subjekt, also gar nicht Mensch sein kann. Er ist ihm kein unentbehrlicher, sondern [ein] gegebenen Falles auch entbehrlicher Gefährte, Geselle, Genosse – um von Bruder gar nicht zu reden. Er kann ebensowohl mit ihm wie ohne ihn auskommen.
Er kann nach Zufall und Willkür und freiem Ermessen ebensowohl sein Tyrann oder Sklave wie sein freier Beistand, sein Hasser wie sein Verehrer, sein Feind wie sein Freund, sein Verderber wie sein Helfer sein. ... Aber ... so gibt es ... zwischen Mensch und Mensch keine notwendige und feste Zusammengehörigkeit, sondern immer nur zufällige, willkürliche und vorübergehende Beziehungen. Eben darin verrät es sich, daß der Mensch [sc. nicht nur Gott, sondern] auch den Menschen nicht kennt«[2].
Nach dem biblischen Wirklichkeitsverständnis impliziert die Unentbehrlichkeit Gottes die Unentbehrlichkeit des Mitmenschen. Beide konstituieren das Ich grundsätzlich im Gegenüber, so dass seine wesentliche Aktion die Interaktion ist. Alles andere bezieht sein Recht aus der wahrgenommenen Verantwortung gegenüber dieser Beziehungswirklichkeit. Das ist die entscheidende Akzentverschiebung, auf die es ankommt.
Aus diesen Bestimmungen ergeben sich unmittelbare Konsequenzen vor allem für das Verständnis, was in ihrem Horizont unter Leben verstanden wird: Leben ist nicht eine Aufgabe, die es zu erfüllen gilt und an der man auch scheitern kann. Ein solches Lebensverständnis steht im Hintergrund, wenn heute so verbreitet vom ›gelingenden Leben‹ gesprochen wird, was in meinen Augen eine im Grunde barbarische Redeweise ist, weil es von der zumindest ebenso nahe liegenden Möglichkeit ausgeht, dass es auch nicht gelingen könnte.
Leben ist auch nicht in erster Linie Gabe, mit der dann pfleglich umzugehen ist und die dann doch früher oder später darauf drängt, durch eine entsprechende Gegengabe bestätigt zu werden. Es folgt keinem Entwurf, auch wenn es gewiss immer wieder etwas zu entwerfen gilt. Es entzieht sich allen Visionen, sich selbst verwirklichen zu können. Vielmehr wurzelt Leben im Angesprochensein und vollzieht sich im Sich-ansprechen-Lassen.
Und das gilt auch umgekehrt: Leben besteht in der Möglichkeit des Ansprechenkönnens und der Interaktion des Ansprechens. Gewiss gehört es zum Leben, die Gegebenheiten für irgendwelche Zwecke zu nutzen, aber es erfüllt sich nicht in der Benutzung, sondern in der Zuwendung, die auch die Maßstäbe dafür liefert, was und wozu etwas benutzt wird.
Die zentrale Aktion des Lebens ist die Interaktion, denn diese entspricht am meisten der Wirklichkeit als einer nicht zentrierten, sondern eben multipolaren Wirklichkeit. Das Leben kann nur in seiner Lebendigkeit beschrieben werden; es ist Vollzug dessen, was die Wirklichkeit wirklich macht. Nur wo das Leben in diesem Sinne wirkt, kann auch von Wirklichkeit gesprochen werden.
Von hier aus bekommt auch die biblische Anthropologie ihr spezifisches Profil. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen zeichnet sich nicht durch eine herausragende Begabung oder das Bewusstsein aus, über besondere Fähigkeiten zu verfügen, vielmehr zielt sie auf seine soziale Bestimmung. Sie kommt nicht als eine Auszeichnung des Menschen unter vielen anderen in den Blick, sondern als die grundlegende, von der dann alle anderen Möglichkeiten des Menschen ihre jeweilige Ausrichtung bekommen sollen.
Die Menschlichkeit wird nicht in einer besonderen Befähigung zu einer in diese oder jene Richtung zu entfaltenden Sachlichkeit gesehen, sondern sie erweist sich in der grundsätzlichen Bevorzugung der Menschlichkeit, sowohl Gott gegenüber als auch den Mitmenschen gegenüber. Auf dem Hintergrund der weithin einzugestehenden faktischen Abwesenheit dieser Wirklichkeit spricht Barth im Ausblick auf die stets gegebene Möglichkeit ihres Ereigniswerdens von dem »seltsam menschlichen Menschen«[3].
Das mag tautologisch klingen, aber es ist eine Selbstverständlichkeit, an die wir nicht genug erinnert werden können, weil kaum etwas so gründlich und andauernd von anderen Motiven überlagert wird, wie eben dies. Der sich selbst wollende und dann immer weiter entfaltende Mensch, das Konkurrenzindividuum, entspricht nicht dem unter der Bestimmung Gottes stehenden Menschen. Der Mensch wird in seiner Gottebenbildlichkeit vielmehr als ein Subjekt verstanden, für das die Subjektivität Gottes oder der anderen Menschen keine Einschränkung oder gar Bedrohung darstellt, sondern ganz im Gegenteil die ihn umfassende und orientierende Lebenswirklichkeit.
Diese Wirklichkeit, die ihre Bestimmung in den sich gegenseitig ermöglichenden Beziehungen hat, kommt von ihrem Ereignis aus in den Blick. Das hat weit reichende Konsequenzen für die Entscheidungshierarchien und Werthaltungen, mit denen der Mensch sein Leben gestaltet und ihm gerecht zu werden versucht. Besonders brisant und zugleich signifikant sind die Konsequenzen im Blick auf das Verständnis der menschlichen Freiheit, das für das Selbstbewusstsein des Menschen auch im Gegenüber zu Gott als grundlegend gilt.
[1] »Die Lehre von der imago Dei bestimmt das Schicksal jeder Theologie.« E. Brunner, Die andere Aufgabe der Theologie, ZZ 7 (1929), 255-276, 264 Anm. 3. Wie ambivalent sich jedoch die Frage nach der Gottebenbildlichkeit des Menschen erweist, zeigt sich in der heftigen Auseinandersetzung, die es zwischen E. Brunner und Karl Barth um diese Frage gegeben hat; vgl. dazu mit den entsprechenden Belegen G. Obst, Veni Creator Spiritus, Gütersloh 1998, 274-304.
[2] K. Barth, Das christliche Leben, KD IV/4 (Fragmente aus dem Nachlass), Zürich 1976, 216f.
[3] Das christliche Leben (s. Anm. 32), 346.