I. Das Unbekanntsein Gottes
II. Von Gott reden, heißt vom Menschen reden
III. Von der Anmaßlichkeit des Fragens
IV. Wirklichkeit als Beziehung
V. Zur Freiheit befreit
VI. Eine Zwischenbilanz
VII. Die unmögliche Möglichkeit
VIII. Die mögliche Unmöglichkeit
1. Jenseits von Eden
2. Der Bibel treu
3. Zeugen der Wahrheit
Es kann schlicht auf den bisherigen Argumentationsverlauf verwiesen werden, wenn nun nicht noch einmal dargelegt werden muss, dass es auch in der synthetischen Wirklichkeit möglich ist, von Gott zu reden, denn wir haben ja bereits reichlich davon Gebrauch gemacht. Vielmehr bleibt festzuhalten, dass die fundamentalen Unterscheidungen, die wir getroffen haben, nur dadurch möglich waren, dass wir den beschriebenen theologischen Zirkel in Kauf genommen haben, d.h., wir haben – nachdem die aporetische Situation erst einmal beschrieben war – keine weiteren religionsphilosophischen Planierungen für einen allgemein plausiblen Gottesbegriff mehr vorgenommen und uns entschlossen auf die Seite der Theologie begeben, um uns in der Blickrichtung der ihr vorgegebenen Tradition einen möglichen Weg zu bahnen, auf dem die Selbstmitteilung Gottes, von der sich diese Tradition getragen weiß, in ein verstehbares Verhältnis zu unserem Welterleben gebracht werden kann.
Wir haben also unter den Bedingungen der synthetisch errichteten Wirklichkeit, die wir theologisch als die unmögliche Möglichkeit beschrieben haben, längst von der möglichen Unmöglichkeit Gebrauch gemacht, von Gott zu reden. Dies hat sich zugestandenermaßen als ein ebenso aufwändiges wie mühseliges Unterfangen erwiesen, weil sich permanent die unterschiedlichen Voraussetzungen ineinander verhakeln, so dass der Gewissheit, mit der die Theologie ihre Arbeit in Angriff nimmt, auf ihrem Weg zu der nötigen Klarheit unablässig Interventionen entgegen geschickt werden, die sie mit der Behauptung ihrer Unmöglichkeit konfrontieren.
Es stehen sich auf unterschiedlichen Ebenen Möglichkeit und Unmöglichkeit kontradiktorisch gegenüber, und, um auch nur zu einer vorläufigen Klarheit gelangen zu können, ist es vor allem erforderlich, die jeweiligen Voraussetzungen konsequent im Blick zu halten – andernfalls kann es nicht ausbleiben, immer schon ins Schleudern zu geraten, bevor sich die nötigen Klärungen auch nur andeuten können.
Die Komplikationen resultieren daraus, dass die ›unmögliche Möglichkeit‹ nicht nur als natürliche Normalität gilt, sondern von uns auch selbstverständlich so empfunden wird, so dass die von der Theologie thematisierte Vorstellung von der Wirklichkeit wie eine weither geholte utopische Phantasterei erscheint, deren exotische Fremdheit mit der Fremdheit Gottes zusammenfällt, der als ihre Quelle angesehen wird. Theologisch gesprochen: Unsere Gefangenschaft in der Sünde – in der sich von Gott abschottenden Wirklichkeit – versetzt von vornherein Gott in eine im Grunde unüberwindliche Weltfremdheit, die ihn nun zu einer unmöglichen Möglichkeit macht.
Je nachdem, von wo man ausgeht und auf den entgegenstehenden Orientierungshorizont blickt, erweist sich stets das andere als die ›unmögliche Möglichkeit‹. Es handelt sich also – ebenso wie bei ›gut‹ und ›böse‹ – um einen perspektivischen Begriff, der seine Aussagekraft nur dann entfalten kann, wenn auch deutlich ist, in welcher Perspektive er jeweils ausgesprochen wird; als absolut gesprochenes Urteil bleibt er stumm bzw. wird geradezu absurd.
Das gilt selbstverständlich auch in gleicher Weise für die ihm entgegengestellte Formel von der ›möglichen Unmöglichkeit‹. Dabei verhalten sich aber ›unmögliche Möglichkeit‹ und ›mögliche Unmöglichkeit‹ nicht einfach symmetrisch zueinander, so dass die Inanspruchnahme des einen automatisch die Perspektive des anderen mit auf den Plan führt. Vielmehr wird im Horizont unseres Gedankengangs mit der Einräumung der ›möglichen Unmöglichkeit‹ in einer Welt, welche die unmögliche Möglichkeit zu ihrer Normalität erklärt hat, signalisiert, dass es sich hier nicht um wechselseitig äquivalente Optionen handelt. Auf dem, was im Unmöglichen möglich ist, liegt qualitativ ein ungleich größeres Gewicht als auf dem, was im Möglichen unmöglich ist. Deshalb können und sollen wir von Gott reden – das Können weist uns auf die tröstliche Seite unserer Situation und das Sollen auf die konfessorische Seite.
Damit sind die beiden Hauptaspekte angedeutet, um die es in diesem letzten Kapitel gehen soll. Es ist nach den Konsequenzen zu fragen, die aus den voraussetzungsvollen Überlegungen zu ziehen sind. Was bedeutet es für unser Reden von Gott, dass es nur als mögliche Unmöglichkeit vollzogen werden kann? Welche Orientierungen und Kriterien ergeben sich aus den Weichenstellungen, die in den bisherigen Überlegungen vollzogen wurden?
Die Gottesfrage stellt sich in der menschlichen Geschichte nach biblischem Verständnis immer ›jenseits von Eden‹, d.h. in einem Horizont, in dem Gott zumindest überaus fraglich ist. Es gehört gleichsam per definitionem mit zu den Lebensumständen jenseits von Eden, dass der Baum des Lebens nicht unmittelbar in den Blick genommen werden kann. Die Umstände unserer Lebensrealität geben nicht einfach von sich aus zu erkennen, worin das menschliche Leben wurzelt. Die Bestimmung des Lebens lässt sich ebenso wenig einfach erfahren, wie das, was gemeinhin der Sinn des Lebens genannt wird.
Das ist nicht erst ein Problem der angeblich so weit gehend säkularisierten Moderne oder gar Postmoderne. Ließen sich Lebensbestimmung und ›Sinn des Lebens‹ einfach erfahren, so hätte ihnen weder die Moderne noch die Postmoderne ernsthaft etwas anhaben können. Aber die Verlegenheit, um die es hier geht, ist nicht genuin mit den Bedingungen der Neuzeit verknüpft, auch wenn sich kaum bestreiten lässt, dass sie hier in einem bisher kaum gekannten Ausmaß zu Bewusstsein gekommen ist, was bei nüchterner Betrachtung aber eher zu ihren Stärken als zu ihren Schwächen oder gar Bedrohungen zu rechnen ist.
Es handelt sich vielmehr um ein zeitunabhängiges Problem, das sich bereits in den biblischen Texten niedergeschlagen hat. Dem Menschen muss vom Baum des Lebens erzählt werden ebenso wie vom Grund und der Bestimmung seines Lebens. Er kann nicht wissen, wie es tatsächlich um ihn bestellt ist. Zwar kann er Vermutungen anstellen und mehr oder weniger umsichtige Theorien entwickeln, aber aus diesen Bemühungen kann er niemals Gewissheit beziehen.
Jede aus sich selbst bezogene Gewissheit behält etwas von dem unzulänglichen Charakter der Feigenblätter, mit denen sich der seine eigene Nacktheit eingestehende Mensch zivilisationsfähig zu machen versucht. So viele er sich auch davon umhängen mag, er kann sich niemals von sich aus für ausreichend angezogen erklären, um dann erhobenen Hauptes aus dem ihn verborgen haltenden Gebüsch als ein über sich selbst zu Gewissheit gekommener Mensch hervortreten zu können – eher besteht die Gefahr, dass er sich mit all seinen umgehängten Feigenblättern so sehr diesem Gebüsch angepasst hat, dass er von ihm gar nicht mehr unterschieden werden kann.
Der entscheidende Grund für dieses Angewiesensein auf Aufklärung und Belehrung von außen liegt darin, dass der Mensch eben nicht von sich aus von Gott zu reden weiß. Es entspricht ebenfalls einem Kernbestand des biblischen Zeugnisses, dass Gott immer wieder die Initiative ergreift und durchaus überraschend an einzelne Menschen herantritt und sie dazu beauftragt, anderen etwas mitzuteilen.
Es wird davon erzählt, dass sich Gott unter teilweise recht ungewöhnlichen Umständen Menschen dazu beruft, um durch sie ihren Mitmenschen über die verzagte bzw. resignierte oder auch anmaßliche bzw. hochmütige Verkennung ihrer tatsächlichen Lage die Augen aufzutun. Gott selbst ermöglicht ihnen, was ihnen von sich aus unmöglich ist. Das heißt nicht, dass er selbst unmittelbar in Aktion treten muss. Selbst im unmittelbaren Umgang bleibt die unüberspringbare Wesensdifferenz zwischen Gott und Mensch darin präsent, dass Gott sich durch einen Boten, durch einen Engel oder einen Propheten vertreten lässt, die getreulich ausrichten, was jeweils mitzuteilen ist. Die Zeugen solcher Botschaften sprechen dann nicht in ihrem Namen, sondern treten als Beauftragte auf, die etwas weitersagen, was auch ihnen erst gesagt werden musste.
Die bekannte Erzählung von der Berufung des Mose in der Wüste (Ex 3) mag hier als exemplarisch gelten. Es beginnt mit einer wundersamen Erscheinung: Da steht ein Dornbusch in Flammen, und anstatt in Sekundenschnelle verzehrt zu sein, scheint das Feuer den Dornbusch nicht anzugreifen. Damit sich die LeserInnen (HörerInnen) gar nicht erst zum Spekulieren verleiten lassen, wird die sonderbare Erscheinung gleich ›nüchtern‹ damit eingeleitet, dass ein Engel in der Flamme erscheine.
Der von der Erscheinung angezogene Mose wird zur Erscheinung auf Distanz gehalten, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich gleich zeigen wird, dass es auf sie gar nicht ankommt. Indem nun Gott durch die Flamme spricht, tritt der Engel in den Hintergrund, aber es bleibt deutlich, dass die Gottesbegegnung durch ein Medium geschieht, das einerseits die Anwesenheit Gottes unterstreicht und zugleich ebenso konsequent Gott selbst verborgen hält.
Das ist präzis der Charakter von Offenbarung im biblischen Verständnis, denn niemals wird durch Offenbarung gleichsam die Decke vom Geheimnis Gottes gelüftet, sondern das Geheimnis erscheint stets in der es schützenden Verhüllung. Es kommt nahe – es kann in der Gestalt Jesu sogar unter uns wohnen (Joh 1,14) –, aber es wahrt den Schatz seiner wesenhaften Unbegreiflichkeit, ohne den es sofort in die Hände der Menschen geriete und jeglicher Macht beraubt würde.
Substanziell wird die Gottesoffenbarung am brennenden Dornbusch durch das Wort bestritten, das Gott an Mose richtet. Gott hat einen keineswegs bequemen Auftrag für Mose, und Mose weist völlig zu Recht auf die Überforderung hin, die ihm da zugemutet wird. Gott verspricht ihm seine Gegenwart und verheißt eine Bestätigung nach der Durchführung des Auftrags. Da Mose diese Aktion nicht in eigenem Namen durchführen kann, fragt er nach dem Namen Gottes. Und die Antwort, die Gott jetzt gibt, kann wiederum als Grenzmarkierung für den Rahmen dessen gelten, was in der jüdisch-christlichen Tradition als Offenbarung gilt.
Wie auch immer Ex 3,14 angemessen übersetzt werden mag[1], in jedem Falle ist es eine Antwort, die dem Frager weder die Auskunft verweigert noch ihm die Frage erübrigt. Die Antwort hält vor allem die Frage lebendig, indem sie ihr eine vollkommen neue Perspektive unterlegt. Diese besteht vor allem darin, dass Beantwortung der Frage nur dann verstanden werden kann, wenn sie stets neu erfragt wird, aber nicht um in einem Akt ritueller Wiederholung immer wieder die gleiche Antwort bestätigt zu bekommen. Vielmehr gilt es in der gleichen Antwort immer wieder neu die Lebendigkeit zu erspüren, in der sich Gott unseren Fragen auch entzieht, damit wir uns an der Beziehung zum ihm und nicht an der einmal gegebenen Antwort orientieren.
Schließlich reklamiert Mose seine mangelhafte Rhetorik (Ex 4,10) – er sieht sich außer Stande, von Gott zu reden, und würde wohl lieber weiterhin die Schafe seines Schwiegervaters Jethro durch die Steppe treiben. Und die Antwort Gottes lautet in der Sache: Dir sind Mund und Sprache gegeben, wenn du meinen Auftrag wirklich vernimmst, wirst du auch etwas zu sagen haben. Die Begeisterung von Mose hält sich in nüchterner Einschätzung der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten deutlich in Grenzen, aber er hat im Grunde keine Wahl, weil er die Anrede durch Gott nicht einfach ungeschehen machen kann.
Gott kommt in der Regel nicht durch irgendwelche spektakulären Ereignisse ins Spiel, durch welche die Welt in Staunen versetzt wird, sondern dadurch, dass da im Auftrag Gottes etwas ausgerichtet wird, was sich auf die besondere Autorisierung durch Gott selbst beruft. Und so nimmt die biblische Geschichte ihren Lauf, der einerseits von zahlreichen Gottesbotschaften und andererseits durch Hindernisse und Widerspruch, durch Kleinglauben oder Unglauben gekennzeichnet ist.
In der Bibel wird das ›Wort Gottes‹ vor allem kontrafaktisch laut. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass ihm ohne weiteres Glauben geschenkt wird. Jedenfalls bleibt die Inanspruchnahme des allgemeinen Welterlebens für ein verantwortliches Zur-Sprache-bringen überaus unergiebig und ist eher dazu angetan, in die Irre zu führen als zu dem Gott, von dem die Bibel erzählt.
Für die Ermöglichung christlicher Rede von Gott bleibt das Vertrauen in das Zeugnis der Bibel fundamental. Es bewahrt unser Gottesverständnis vor dem utilitaristischen Spekulationszirkel, in den wir unverzüglich geraten, wenn wir meinen, uns der Gottesfrage begrifflich nähern zu können. Es ist niemals einfach etwas Allgemeines, was es über Gott mitzuteilen gibt, sondern es handelt sich stets um etwas Besonderes, das uns so oder so betrifft.
Die biblischen Texte sorgen dafür, dass es in unserer Rede von Gott etwas mitzuteilen gibt, was auch uns mitgeteilt werden musste, weil wir es nicht von uns aus wissen können. Der junge Karl Barth sprach davon, dass in der Bibel eine andere Welt in unsere alte Welt hineinrage[2]. Wir haben oben von den verschiedenen Wirklichkeiten gesprochen, die sich gegenseitig ihre Substanz entziehen. In diesem Sinne ist die neue Welt in der Bibel, die da in die alte Welt hineinragt, die Wirklichkeit im Lichte der Bestimmungen Gottes, die in die ohne Gott auskommende Wirklichkeit unserer eigenwilligen Selbstbehauptung hineinragt.
Es ist von einer neuen Erde und einen neuen Himmel die Rede (Jes 65,17; 66,22; 2Ptr 3,13; Apk 21,1), dem Tod wird das Leben entgegengestellt, das Kreuz erscheint im Licht von Ostern. Die Bibel wird durchzogen von einer Verheißung, die sich immer wieder zur Geltung bringt. Wenn Barth in diesem Zusammenhang vom »Ton des Ostermorgens« spricht[3], dann ist das der gleiche Ton, der auch bereits durch das ganze Alte Testament[4] hindurch zu vernehmen ist und der schließlich in der Offenbarung des Johannes vom Thron Gottes aus ertönt: »Siehe, ich mache alles neu!« (Apk 21,5)
Natürlich lässt sich auch die Bibel als Dokument unserer alten Welt bzw. der allein vom Menschen verwalteten Wirklichkeit lesen. Sie wäre dann in religiöser Hinsicht ein Dokument unterschiedlicher frommer Impressionen antiker Menschen, die uns mithilfe ihrer ebenso antiken Ausdrucksmittel einen Eindruck darüber vermitteln, wie sie sich die Abgründe und Hoffnungen ihrer Zeit weltanschaulich zurecht gelegt haben[5].
Gewiss enthält die Bibel auch unter diesem Gesichtspunkt Dokumente von ganz besonderer Qualität, die von einer außergewöhnlichen Religiosität und geschichtlichen Empfindsamkeit zeugen. Da gibt es überaus interessante historische und literaturwissenschaftliche Beobachtungen anzustellen und aufschlussreiche Vergleiche vorzunehmen, durch welche die religionsgeschichtlichen Abhängigkeiten und Besonderheiten biblischer Überlieferungen zum Vorschein kommen. Die Exegeten führen uns eindrucksvoll vor Augen, mit wie unterschiedlichen Fragestellungen sich diese alten Texte aufschließen lassen.
Theologisch wird es aber darauf ankommen, dass in der Mitte des Mitteilungsbedürfnisses dieser Texte nicht die Geschichte menschlicher Frömmigkeitsregungen und ihre kulturgeschichtliche Originalität steht, sondern sie wollen auf den Gott verweisen, durch dessen Eingreifen ein besonderes Licht auf ihre Wirklichkeit gefallen ist, indem sich die Bedingungen, unter denen sie ihr Leben gestellt sahen, grundlegend verändert haben. Sie machen keine Interpretationsvorschläge zur weltanschaulichen Verarbeitung irgendwelcher Ereignisse, sonder verweisen auf die durch Gott »qualifizierte Wirklichkeit«[6].
Und das gilt ebenso für unsere Lektüre: Einerseits kann sie zum Nutzen unserer Frömmigkeit betrieben werden und sie wird uns gewiss nicht enttäuschen. Andererseits kann sie erst dann auf die besondere Botschaft von der Wirklichkeit Gottes stoßen, wenn nicht wir ihr mitteilen, was sie zu meinen hat, sondern uns von ihr die Perspektive eröffnen lassen, in der nicht nur die von unseren Fragen in Regie gehaltene Wirklichkeit in den Blick kommt, sondern auch die nach dem Menschen fragende Wirklichkeit Gottes. Barth hat das Problem 1916 in dem bereits zitierten Vortrag folgendermaßen beschrieben: Die
»Bibel hat nicht nur das an sich, daß sie zunächst jedem das gibt, was er verdient, was ihm entspricht: dem Einen viel, dem Andern etwas, dem Dritten nichts – sondern auch das Andre, daß sie uns, wenn wir nur aufrichtig sind, gar keine Ruhe läßt ... Die Bibel sagt uns bei gewissen ›Auffassungen‹, die wir uns von ihr machen, bald sehr deutlich und sehr freundlich: So, das bist du, aber nicht ich! Das ist nun das, was dir vielleicht in der Tat sehr gut paßt: zu deinen Gemütsbedürfnissen und Ansichten, in deine Zeit und in eure ›Kreise‹, zu euren religiösen oder philosophischen Theorien! Sieh nun hast du dich spiegeln wollen in mir und hast wirklich dein eigenes Bild in mir wiedergefunden! Nun aber geh und suche auch noch mich! Suche, was dasteht! ... Es ist ein Geist in der Bibel, der läßt es wohl zu, daß wir uns eine Weile bei den Nebensachen aufhalten und damit spielen können, wie es unsre Art ist – dann aber fängt er an, zu drängen und was wir auch einwenden mögen: wir seien ja nur schwache, unvollkommene, höchst durchschnittliche Menschen! er drängt uns auf die Hauptsache hin, ob wir wollen oder nicht. Es ist ein Strom in der Bibel, der trägt uns, wenn wir uns ihm nur einmal anvertraut haben, von selber dem Meere zu. Die heilige Schrift legt sich selbst aus, aller unserer menschlichen Beschränktheit zum Trotz. Wir müssen es nur wagen, diesem Trieb, diesem Geist, diesem Strom, der in der Bibel selbst ist, zu folgen, über uns selbst hinauszuwachsen und nach der höchsten Antwort zu greifen.«[7]
Was Barth hier sehr emphatisch vorträgt, bleibt in der Sache festzuhalten, auch wenn der Eindruck entstehen mag, dass hier mehr Probleme aufgeworfen als gelöst werden. Es geht um die Einlösung der Grundbedingung, dass wir nicht von Gott reden können, solange wir uns nicht als von Gott angesprochene und somit von Gott betroffene Menschen erkennen können. Das altkirchliche Kriterium, dass Gott nur durch Gott erkannt werden könne, ist unmittelbar mit der Vorstellung von der Inspiration der Bibel als heiliger Schrift verbunden, nicht in dem Sinne, dass sie ein vom heiligen Geist diktiertes Buch sei, dem wegen seines göttlichen Ursprungs unbefragbare Autorität zukomme[8], sondern in dem Sinne, dass es unter der besonderen Verheißung stehe, den Geist der Selbsterschließung Gottes weiterzugeben und immer wieder neu lebendig werden zu lassen, weil es in eben diesem Geist geschrieben und zusammengestellt worden sei.
Nur wenn wir in die Bibel das Vertrauen setzen können, dass uns die durchaus auch unbeholfenen und womöglich widersprüchlichen menschlichen Worte nicht nur auf die Wirklichkeit Gottes mit bestem Willen hinweisen wollen, sondern dies auch tatsächlich können, ist es sinnvoll, der Bibel im Rahmen unserer Verständigungsbemühungen um eine angemessene Rede von Gott eine besondere Orientierungskraft zuzumessen. Das Vertrauen in dieses Können entspricht dem Vertrauen, dass durch die subjektiven Perspektiven der verschiedenen Texte die von ihnen zur Sprache gebrachte Wirklichkeit auch selbst durchschimmert, so dass sie im Wirken eben des Geistes, von dem sie sich getragen wissen, auch heute als lebendiges Gotteszeugnis gelesen und verstanden werden können.
Diesem Vertrauen entspricht das Bemühen um Wahrnehmungstreue. Im Grunde geht es um nicht mehr und nicht weniger als den für jede Fremdwahrnehmung entscheidenden Versuch, das in den Texten zu uns Gesagte so gut zu verstehen, dass wir schließlich das, was da steht, auch von uns aus zu sagen vermögen. Der konkrete Umgang mit den Texten zeigt, dass diese so schlicht erscheinende Erwartung ein kaum erreichbares Ideal darstellt. Doch das ist kein Grund, diese Perspektive im Umgang mit den biblischen Texten aus den Augen zu verlieren.
Wahrnehmen hat immer etwas mit Wahrheit zu tun. Nur das wird man tatsächlich wahrnehmen, das uns darin überzeugt, als ›wahr‹ genommen werden zu können. Solange wir den Verdacht einer Täuschung oder Irreführung wittern, werden wir auf ›Anschein‹ oder ›Illusion‹ plädieren, den wir dann nur als solchen ›wahr‹-zunehmen bereit sind. Was wir ›wahr‹-nehmen, gilt für uns, und wenn es uns auch für andere wichtig zu sein scheint, werden wir den Versuch unternehmen, es weiterzusagen, und zwar so, wie es uns zur Wahrheit geworden ist, und nicht etwa in dem anmaßlichen Versuch, diese Wahrheit nun unsererseits beweisen zu wollen. Dass sich dabei dann auch wieder alle Schwierigkeiten einstellen, die wir nun einmal mit gegenseitiger Verständigung haben, steht auf einem anderen Blatt.
Wenn der bereits im Zusammenhang der Macht des Fragens erwähnte Psychologe Bodenheimer das Verstehen als einen Akt des Antwortens beschreibt[9], dann wird einerseits vorausgesetzt, dass es da etwas ›wahr‹-zunehmen gibt, was verstanden werden will, das andererseits aber erst darin als verstanden angesehen werden kann, wenn sich der Wahrnehmende in größtmöglicher Entsprechung zu dem Wahrgenommen verhält, indem er zu erkennen gibt, was dieses jeweils in ihn bewirkt.
Von Verstehen kann dann die Rede sein, wenn die Entsprechung zwischen dem Wahrzunehmenden und dem Wahrgenommenen so groß ist, dass die erwirkte Reaktion zu einer tatsächlichen Antwort und nicht nur zu einer Gegenrede mit ganz anderen Gesichtspunkten gedeihen kann – um vom Stummbleiben ganz zu schweigen. Entsprechung meint dabei ganz und gar nicht Determination oder blinde Gefolgschaft, vielmehr geht es darum, sich von dem Wahrgenommenen so in Schwingungen versetzen zu lassen – es hat in der Tat etwas mit Resonanz zu tun –, dass die erwartete Antwort, die jede und jeder allerdings selbst zu geben hat, noch etwas von dem Ton erahnen läßt, auf den hin sie jeweils ergeht. Insofern hat das Verstehen auch ganz entscheidend mit uns und unserer Reaktion auf Wahrgenommenes zu tun. Wenn etwas wirklich verstanden ist, wirkt es sich aus in unserem Selbstverständnis, das von dem Verstandenen nicht einfach wieder absehen kann, sondern ihm in irgendeiner Weise zu entsprechen und somit zu antworten versuchen wird.
So wie unser Reden von Gott auf die Orientierung am biblischen Reden von Gott angewiesen bleibt, so entscheidend kommt es auf die Treue zur Wahrnehmung an, die gerade da gefragt ist, wo sich die Texte auf den ersten und vielleicht auch noch auf den zweiten Blick als sperrig und unzugänglich erweisen. Auf keinen Fall entspricht es der von ihren LeserInnen erwarteten Treue, wenn die Bibel unter dem Gesichtspunkt eines auf welche Weise auch immer für plausibel erklärten Nutzens auf ihre aktuelle Brauchbarkeit hin durchgekämmt wird. Jede Auswahl gibt von vornherein zu erkennen, dass wir uns selbst die Regie dafür vorbehalten, was wir uns sagen lassen wollen.
Die Wahrheit, um die es uns hier geht, vermag allein von sich aus zu überzeugen. Sie schreibt sich uns als Gewissheit ein, was nichts anderes besagt, als dass sie geglaubt wird. Sie kann als solche ihrem Wesen nach nicht gewusst werden, weil wir nur das wissen, wovon wir uns selbst überzeugen. Indem wir aber von dieser unsere Möglichkeiten überschreitenden Wahrheit überzeugt werden, entzieht sie sich auch unserer Verfügung, wenn sie uns überzeugt hat. Nichts liegt ihr ferner als sich in die Hände des Menschen zu begeben. Die Wahrheit in der Hand des Menschen bezeichnet nach biblischem Verständnis vor allem die Verführung zum Sündenfall und die von ihm vollzogene Usurpation der zur menschlichen Selbstdarstellung errichteten Wirklichkeit, in der sich der Mensch alles seinen Bestimmungen zu unterwerfen versucht.
Wahrheiten entsprechen den sie freisetzenden Wirklichkeiten, sie folgen den gleichen Bestimmungen wie die Wirklichkeit, in der sie Gültigkeit beanspruchen. Die Wahrheit der von Gott bestimmten Wirklichkeit bleibt Gottes Wahrheit. Diese Wahrheit in die eigene Verfügung bekommen oder sie gar nun menschlicherseits auf Erden durchsetzen zu wollen, entspricht gerade nicht ihrer Anerkennung, sondern kommt einer Misstrauenserklärung gleich. Sie muss konsequent Gott überlassen bleiben, was ja in keiner Weise den Menschen ausschließt, sondern – wie zu zeigen versucht wurde – diesen von vornherein mit einschließt.
Es ist die Wahrheit der Menschlichkeit Gottes, die konsequent der Wahrheit von der Göttlichkeit des Menschen entgegensteht. Wenn es um die Wahrheit geht, gehört in diesem Sinne der Mensch auf die Seite Gottes – aber das bleibt in diesem Argumentationsgefälle exakt das strikte Gegenteil von allen Versuchen, Gott auf die Seite des Menschen stellen zu wollen. Gott überschreitet nicht die Grenze, um einer von uns zu werden, sondern damit wir wieder zu ihm finden können. Auch und gerade die Rede von der Menschwerdung Gottes zielt vorzüglich gegen die Vorstellung einer Vergottung des Menschen[10].
Das wiederum hat zur Folge, dass wir diese Wahrheit auch unsererseits nur bezeugen können, d.h. wir können nur in aller Schlichtheit und der uns möglichen Genauigkeit das weitersagen, was wir ›wahr‹-genommen haben. Zu dieser mit dem Glauben verbundenen Ermächtigung zum eigenen Reden kann man stets nur sehr zögerlich greifen, weil sie stets mit der Überforderung einhergeht, dass wir mehr sagen müssen als wir von uns aus vertreten können. Wir reden ja niemals allein aus uns heraus, sondern von dem, was auch wir erst einmal ›wahr‹-nehmen mussten, um davon reden zu können.
Wir sollten uns immer wieder neu daran erinnern, dass wir ganz und gar davon entlastet sind, unsererseits für Gott und seine Offenbarung einstehen zu müssen. Deshalb sollen wir es auch nicht wollen. Wenn wir nicht irrten, als wir uns auf den altkirchlichen Grundsatz einließen, dass Gott nur durch Gott erkannt werden könne, dann sollten wir uns auch von dem unmittelbar mit diesem Grundsatz verbundenen Vertrauen in die Selbstmächtigkeit der Offenbarung Gottes anstecken lassen. Wir sollen sie mit den uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten Gott mit Wort und Tat bezeugen, uns aber nicht als seine »Advokaten oder Propagandisten« zu betätigen versuchen[11]. Wie viel kirchlicher und religiöser Krampf könnte ersatzlos gestrichen werden, wenn es mehr von diesem tröstlichen Vertrauen gäbe?
Es wird sich niemals die Situation einstellen, in der wir uns tatsächlich in der Lage sehen, ausreichend dafür qualifiziert zu sein, kompetent von Gott zu sprechen. Hier hat auch die heute im Blick auf die theologische Ausbildung so gern benutzte Formel von der theologischen Kompetenz ihre klar zu markierende Grenze. Es ist nicht möglich, zu einer vollkommen ausgereiften Erkenntnis zu gelangen, um sich dann von ihr das Rederecht geben zu lassen, sondern wir beginnen immer schon mit dem Reden, während wir noch auf das Hören angewiesen sind.
Diese Ambivalenz von Gewissheit und Anfechtung spiegelt sich auch in der Art und Weise, wie schließlich geredet werden kann: Einerseits kann nur aus Überzeugung geredet werden, und andererseits bleibt jede Rede vorläufig, d.h. sie sollte immer auch den Ton enthalten, dass alles durchaus auch noch viel besser gesagt werden kann – nicht etwa weil nicht deutlich genug ist, was uns da von den biblischen Texten zu Gehör gebracht wird, sondern vor allem, weil auch wir immer noch gegen uns selbst anzuhören und dann auch anzureden haben.
Damit kommen wir nun wieder bei der Verquickung von Theologie und Anthropologie heraus. Das In-Erscheinung-Treten Gottes lenkt zuerst und nachhaltig den Blick auf den Menschen: Adam wo bist du? Von Gott können wir nur sprechen, wenn wir von seinem Verhältnis zum Menschen sprechen. Und das gilt dann entschieden auch umgekehrt: Von den Menschen gibt es nur dann Haltbares und Hoffnungsvolles zu sagen, wenn sie nicht von sich selbst sprechen, sondern wenn sie von Gott und seinem gnädigen Bund mit den Menschen sprechen. Die Ernüchterung des Menschen gegenüber sich selbst ist ein essenzieller Teil der Befreiung des Evangeliums – sie gilt nicht seiner Erniedrigung oder seiner moralischen Bedrängung, sondern seiner wirklichkeitsgerechten Aufrichtung.
Es geht in der Tat um das ebenso große wie regelmäßig von eigennützigen Interessen gebeutelte Wort der Freiheit: Freiheit kann nur ergriffen werden; gerät sie in unsere Initiative, so ist sie bereits verloren. Sie kann jedoch nur ergriffen werden, wenn sie dem Menschen gegeben ist. Dass sie ihm tatsächlich gegeben ist, muss ihm gesagt werden. Deshalb ist es ganz und gar nicht unerheblich, ob Gott zur Sprache kommt oder nicht.
[1] Luther 84: »Ich werde sein, der ich sein werde«; Zürcher: »Ich bin, der ich bin«; Einheitsübersetzung: »Ich bin der ›Ich bin da‹«; Buber-Rosenzweig: »Ich werde dasein, als der ich dasein werde«.
[2] »Eine neue Welt ragt da in unsre gewöhnliche, alte Welt hinein. Wir können das ablehnen, wir können sagen: das ist nichts, das ist Einbildung, Wahnsinn: ›Gott‹ – aber wir können nicht leugnen und verhindern, daß wir durch die biblische ›Geschichte‹ weit über das hinausgeführt werden, was wir sonst ›Geschichte‹ heißen: in eine neue Welt, in die Welt Gottes hinein.« K. Barth, Die neue Welt in der Bibel, in: Ders., Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge [Bd. 1], München 1924, 18-32, 24.
[3] Ebd., 20.
[4] Die ›Testamente‹ stehen wohl gemerkt nicht in diesem gegensätzlichen Verhältnis von ›alt‹ und ›neu‹ zueinander – die Bezeichnung kann schnell in die Irre führen; Vgl. dazu u.a. E. Zenger, E.: Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen [1991], Düsseldorf 1998; vgl. dazu D. Schellong, Was heißt: »Neuer Wein in alten Schläuchen«, in: Zur Bibel. Lektüre und Interesse (Einwürfe 2), München 1985, 112-125.
[5] In diesem Sinne sieht K. Barth in der Bibel die »literarischen Denkmäler einer vorderasiatischen Stammesreligion des Altertums und die einer Kultreligion der hellenistischen Epoche«; Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke, in: Ders., Das Wort Gottes und die Theologie (s. Anm. 6), 70-98, 76 – es ließ sich eine Reihe ähnlicher Formulierungen Barths anführen.
[6] Ebd., 80.
[7] Die neue Welt in der Bibel (s. Anm. 43), 21f. Vgl. dazu M. Weinrich, »Die neue Welt in der Bibel«. Grundentscheidungen in Karl Barths Verständnis der Schrift, in: »..., dann werden wir sein wie die Träumenden«, FS f. Ingo Baldermann z. 65. Geb., hg. v. A. Greve u. F. Albrecht, Siegen 1994, 425-453; ders., Die Bibel legt sich selber aus. Die ökumenische Herausforderung des reformatorischen Schriftprinzips oder vom verheißungsvollen Ärgernis angemessener Bibelauslegung, in: H. Frankemölle (Hg.), Die Bibel. Das bekannte Buch – das fremde Buch, Paderborn/München/Wien Zürich 1994, 43-59.
[8] Zum Ungeist der Lehre von der Verbalinspiration, die in besonderer Weise von fundamentalistischen Kreise aufgenommen worden ist, vgl. M. Weinrich, Die demütigen Sieger. Fundamentalistische und evangelikale Bibelauslegung, in: Die Bibel gehört nicht uns (Einwürfe 6), München 1990, 48-93, 59-61.
[9] Vgl. A.R. Bodenheimer, Verstehen heißt antworten, Stuttgart 1992.
[10] Vgl. K. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (s. Anm. 6), 168.
[11] Vgl. K. Barth, Das christliche Verständnis der Offenbarung (s. Anm. 13), 13.
Quelle: Michael Weinrich, Wir sind aber Menschen. Von der möglichen Unmöglichkeit, von Gott zu reden, in: Gretchenfrage. Von Gott reden - aber wie? Band 1, hrsg. von Jürgen Ebach, Hans-Martin Gutmann, Magdalene L. Frettlöh und Michael Weinrich (Jabboq 2), Neukirchen-Vluyn 2002, 36-98.
Auf reformiert-info.de mit freundlicher Genehmigung des Autors.