9,5 Thesen zur ›Reformation‹ der Kirche

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von Achim Detmers

9,5 Thesen:

  1. Reform(ation) baut auf vorherige langfristige kritische Entwicklungen auf
  2. in Kirche und Gesellschaft.
  3. Sie wird forciert durch neue, nicht vorhersehbare, emergente und genuine Antriebsenergien, die systemsprengend wirken.
  4. Sie geschieht nicht durch eine einzige Person,
  5. sie braucht aber eine Symbolfigur bzw. eine Symbolaktion,
  6. eine normative Mitte
  7. und eine geistliche Beheimatung
  8. sowie eine deutlich sichtbare Änderung in der äußeren Erscheinung.
  9. Die Umsetzung erfolgt dann recht langsam und ungleichmäßig.

Martin Luther war 1517 nicht klar, was er mit seinen 95 Thesen auslösen würde. 500 Jahre später ist nicht weniger unklar, was durch die Reformation tatsächlich ausgelöst wurde. In der offiziellen Kommunikationsstrategie des Jubiläums werden zentrale Fernwirkungen der Reformation hervorgehoben: Freiheit und Bildung, mündiger Glaube und Vernunft, Gewissensfreiheit und Aufklärung, Demokratie und Beteiligung, Individualität und Gleichberechtigung sowie Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit. Auf römisch-katholischer Seite haben diese mutmaßlichen ›Fernwirkungen‹ zu der Rückfrage Anlass gegeben, ob hier nicht die Entwicklung der modernen Gesellschaft völlig einseitig auf die Reformation zurückgeführt werde. Und auch von evangelischen Kirchenhistorikern wird kritisiert, dass der historische Graben, der uns von Luther trenne, gar nicht tief genug gedacht werden könne; der tatsächliche Luther mit seinen reformatorischen Ideen wäre uns heute ein Fremder.

Was brachte die Reformation Neues?

Um die Frage nach dem Neuen der Reformation beantworten zu können, braucht es einen Blick auf die Zeit vor der Reformation. Vielfach wird diese Zeit als eine Epoche des Verfalls betrachtet; erst durch die Reformation sei sie aus ihrer Erstarrung gerissen worden. Kenner des ›Spätmittelalters‹ machen jedoch darauf aufmerksam, dass es bereits im 15. Jahrhundert wichtige Entwicklungen im kirchlichreligiösen, sozialen und politischen Bereich gegeben habe. Ohne diese spätmittelalterlichen Reformansätze wäre es womöglich gar nicht zur Reformation gekommen (s. Thesen 1 und 2). Der Kirchenhistoriker Berndt Hamm behauptet sogar, es habe keine Antriebskraft der Reformation gegeben, die nicht eine Verankerung im ›Spätmittelalter‹ gehabt habe. Neben Buchdruck, Humanismus und Universitätsreform nennt Hamm z. B. Bibellektüre, theologische Bildung, anspruchsvolle Predigten sowie Konzentration auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Zudem verweist Hamm auf Phänomene wie Individualisierung, Antiklerikalismus, Laisierung und Säkularisierung.

Das alles hätte aber nicht schon zwingend zur Reformation geführt. Vielmehr brauchte es »neue, nicht vorhersehbare, emergente [=spontan aufkommende] und genuine Antriebsenergien der Reformation, die eine systemsprengende Radikalisierung bewirkten« (389) (s. These 3). In der Regel geschieht dies nicht durch eine einzige Person, es braucht aber eine Symbolfigur bzw. eine Symbolaktion, auf die sich andere beziehen können. Im Fall der Reformation war das der junge Luther, der durch den Thesenanschlag, durch die Verbrennung der Bannandrohungsbulle und den Auftritt beim Wormser Reichstag zur zentralen Symbolfigur für den Kampf um kirchliche Reformen wurde (s. These 4). Auch wenn das Reformationsjubiläum sehr stark auf Luther fokussiert, so ist die Reformation natürlich nicht identisch mit Person und Werk Luthers. Vielmehr griffen verschiedene Bewegungen die spätmittelalterlichen Reformen sowie die reformatorischen Impulse in unterschiedlicher Weise auf. Dies führte zu einer vielgestaltigen Ausprägung der Reformation. Es kam zur Herausbildung von evangelischen Konfessionen: Lutheraner, Reformierte, Täufer usw.

Was war die gemeinsame Mitte der Reformation?

Berndt Hamm geht davon aus, dass jede erfolgreiche Bewegung eine ›normative Mitte‹ braucht, auf die sich die unterschiedlichen Akteure gemeinsam beziehen können (These 6). Im Fall der Reformation sieht er diese Mitte darin, dass das Heil des Menschen nicht an die eigenen Werke oder an die Vermittlerrolle des Klerus gebunden wurde, sondern allein an die Gnade Gottes um Christi willen. Zudem wurde die Heilige Schrift für die Verkündigung der Kirche als allein maßgebend herausgestellt. Und die Ordnung der Kirche orientierte sich nicht mehr an einer klerikale Hierarchie, sondern am allgemeinen Priestertum der Gemeinde.

Trotz dieser vorhandenen reformatorischen ›Mitte‹ räumt Hamm ein, dass die Heilige Schrift vieldeutig sei und dadurch zum Ausgangspunkt konkurrierender reformatorischer Deutungen werden konnte. Hinzu kamen regional unterschiedliche Kontexte und Herausforderungen. Die oberdeutsch-schweizerische Reformation etwa, die sich eher im städtischen Kontext behaupten und sich später teilweise als Flüchtlingskirche bewähren musste, entfaltete andere theologische Akzente als die Wittenberger Theologie. So betonten z. B. Zwingli, Bullinger, Bucer und Calvin die Einheit des Alten und Neuen Bundes. Dies hatte Konsequenzen für die Sicht des Bildergebotes, des Abendmahls, der Christologie und der Erwählungslehre. Aber auch das Verständnis der Heiligung wurde durch die Wertschätzung des Alten Testamentes geprägt, genauso wie die Gebetssprache im Gottesdienst durch den Psalmgesang. Außerdem war den Reformierten die Befreiung von unsachgemäßen Hierarchien (›heiligen Rangordnungen‹) wichtig. Das bedeutete: Verzicht auf einen erhöhten Altar und auf den Wechselgesang von Priester und Gemeinde, Gleichrangigkeit von Wort und Sakrament, Wertschätzung neuerer Bekenntnisse, starke Beteiligung von ›Laien‹ an der Gemeindeleitung und die Entwicklung des presbyterial-synodalen Prinzips. Und nicht zuletzt entstand durch die Verfolgungserfahrung der Hugenotten im reformierten Bereich eine differenzierte Auffassung zum Verhältnis von Kirche und Staat.

Die Reformation verfügte also über eine ›normative Mitte‹, und ließ zugleich Spielräume in der Ausdeutung zu, die zu unterschiedlichen Ausprägungen führten. Für die Umsetzung der Reformation war aber nicht nur die inhaltliche Mitte wichtig, sondern auch die Einübung in die neue Form des Kircheseins. Damit die jeweiligen Ansätze der Reformation in den Köpfen und Herzen der Gemeinden ankamen, brauchten sie zur Einübung und Vergewisserung eine geistliche Beheimatung (s. These 7). Dies war in der Reformationszeit der neugestaltete Gottesdienst mit den lehrhaften Predigten.

Was änderte sich durch die Reformation?

Der Gottesdienst war aber nicht das einzige, was sich durch die Reformation sichtbar änderte (s. These 8). Berndt Hamm nennt eine Fülle von Dingen, die im Bereich der Reformation wegfielen: Papst und Kardinäle, Priesterstand und Zölibat, Mönche und Nonnen, Verdienste und Genugtuungen, Gelübde und Fastenzeiten, Fegefeuer und Ablass, Anrufung der Heiligen, Reliquien-, Hostien-, Tabernakel- und Fronleichnamskult, Prozessionen und Wallfahrten, Weihwasser und Weihrauch. Statt dessen gab es Bibelübersetzungen in Landessprache, neue Bekenntnisse, Katechismen, Glaubenslieder, Kirchen- und Armenordnungen sowie die Pfarrerehe und das Laienpresbyteriat. Erhalten blieben die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, die Kindertaufe sowie die obrigkeitliche Unterstützung bei der Verfolgung und Bedrängung von Juden und religiösen Abweichlern (388f).

Wie schnell setzte sich die Reformation durch?

Berndt Hamm betont aber, dass es lange dauerte, bis der neue Glaube die Hoffnungen und Ängste sowie die Wertvorstellungen und Rituale veränderte (s. These 9). »Manches veränderten die Reformationsvorgänge innerhalb einer Generation oder zweier Generationen sehr schnell, manches nur sehr langsam und in starker Kontinuität zum 15. Jahrhundert, vieles überhaupt nicht, manches nur im reformierten, aber nicht im lutherischen Bereich, manches mehr in den Städten und weniger auf dem Lande, manches für die Männer und nicht für die Frauen.« (393).

Reformation heute?

Überträgt man diese Überlegungen auf die andauernde Reformation der Kirche (ecclesia semper reformanda), so ließe sich als abschließende halbe These festhalten: Eine Reformation der Kirche ist bereits in vollem Gang. Womöglich wartet sie mit ihrem Durchbruch auf den emergenten, symbolischen Moment, aus dem heraus sich eine zentrale Idee (›normative Mitte‹) entwickelt. An dem Umstand, ob diese Idee eine geistliche Beheimatung in den Kirchengemeinden findet und dort zu deutlich sichtbaren Änderungen führt, entscheidet sich, ob es sich um eine Reformation oder bloß um ein weiteres Reförmchen handelt (These 9,5).

Literatur: Berndt Hamm, Abschied vom Epochendenken in der Reformationsforschung. Ein Plädoyer, in: Zeitschrift für Historische Forschung 39 (2012), 373-411.