»Gott sendet uns die Armen gewissermaßen an seiner statt, als seine Einzieher. Unsere milde Gabe (...) sieht Gott so an, wie wenn wir ihm selbst in die Hand gegeben hätten, was wir einem Armen geben. Im Blick auf Gott handelt es sich bei unserem Tun nicht um Gabe (...), sondern um schuldigen Dank für das Gute, das er uns erwiesen hat. (...) Darum heißt es auch, dass, wer sein Ohr dem Schrei des Armen verschließt, von Gott auch nicht erhört werden wird, wenn er selber ins Schreien kommt. Auf der andern Seite aber, wenn wir barmherzig sind und die Not der Armen uns zur Hilfe antreibt, so wird Gott auch gegen uns Erbarmung erweisen und uns helfen in der Not.«
(Calvins Predigt zu Dtn 15 von 1555)
Calvin gibt zu verstehen, dass er und diejenigen, zu denen er spricht, zu den Vermögenden und Einkommensstarken gehören. Über ›die Armen‹ spricht er in der dritten Person – ihre Perspektive teilt er nicht. Angesichts des Reichtums der einen und der Armut der anderen stellt sich aber eine Legitimitätsfrage. Calvin beantwortet sie durch Almosen. Die Verbesserung des Loses der Armen durch ›milde Gaben‹ gilt nicht ihnen, sondern der Wohlgefälligkeit Gottes. Zugleich ist das Geben angesichts einer unsicheren Zukunft ein Geschäft, ganz so, wie heute überall ein ›Business Case for Ethics‹ vertreten wird. Geben ohne unmittelbare Gegenleistung ist somit Ausdruck eines Kalküls, und zwar angesichts des Risikos, selbst einmal zu den aus Armut ›Schreienden‹ zählen zu können. Wahrhaftiger Unentgeltlichkeit um des Nächsten selbst willen soll offenbar keine Legitimität zukommen. Dies mag eine unfreiwillige Erklärung für die Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme sein.
»Der zweite Einwand [beim Zinsnehmen] ist, dass derjenige, der verleiht, nicht derart zielstrebig auf Gewinn aus sein soll, dass der Schuldner zugrunde geht bei den erforderlichen Verpflichtungen und er sein Geld auch nicht mit solcher Sicherheit anlegen will, dass er seine armen Brüder niederdrückt.«
(Calvins Gutachten zum Zinsnehmen von 1545)
Wer über finanzielle Überschüsse verfügt, darf sein Vermögen »zielstrebig« zu vermehren trachten, nicht nur durch eigene Geschäfte (Eigenkapital), sondern auch durch die Vergabe von Krediten an andere (Fremdkapital), allerdings unter Einschränkungen. Zu diesen zählt, dass die Forderungen des Gläubigers die Fähigkeit des Schuldners zur Leistung des Kapitaldienstes (Zinsen und Tilgung) nicht übersteigen dürfen. Dies allerdings ist an sich eine Explikation der Logik dauerhaft rentabler Gewinnerzielung: Von insolventen Schuldnern sind keine Rückflüsse mehr zu erwarten. Dies soll die Vermögenden allerdings nicht von der für sie lukrativen Kreditvergabe abhalten. Dass man sein Geld möglicherweise nicht zurückbekommt, die Kreditvergabe also unsicher ist, scheint zu den Risiken zu gehören, die mit der Kreditvergabe an »seine armen Brüder« einhergehen.