1 Der Fundamentalismus ist eine reale Gefahr
2 Ein unklarer Begriff
3 Der christliche Fundamentalismus aus der ›neuen‹ Welt
4 Fundamentalistische Tendenzen in der evangelikalen Bewegung
4.1 Das Bekenntnis der Wahrheit
4.2 Entlasteter Glaube
5 Fundamentalismus ist Klerikalismus von unten
6 Das nicht-fundamentalistische ›Fundament‹ des Glaubens
In der Regel – und das gilt auch für die evangelikale Bewegung – tritt der Fundamentalismus gegen die etablierten Kirchen auf den Plan. Sie beklagen die verbreitete Gleichgültigkeit in den Gemeinden, die von den allein bestimmenden Pfarrerinnen und Pfarrern kirchlich versorgt werden, ohne sich selbst für etwas verantwortlich zu fühlen. Die Kritik zielt auf den Klerikalismus in den Kirchen – und man wird kaum bestreiten können, daß diese Kritik nicht ganz unbegründet ist. An die Stelle des Klerikalismus soll das Bibelstudium jeder und jedes einzelnen treten, so daß sie selbst auskunftsfähig sind und auf die Belehrungen durch die Pfarrerschaft nicht mehr angewiesen sind, ja diesen gegenüber gleichsam wetterfest gemacht sind, denn man weiß nie so recht, was da auf die Gläubigen herniederprasselt. Um sich gegen die Wechselbäder einer ständig floatierenden Kanzelmeinung zu stärken, soll jeder selbst um die Fundamente des Glaubens wissen – eine Grundforderung der Reformation, als sie vom Priestertum aller Gläubigen sprach.
Aber vielleicht hätte Luther doch noch präziser formulieren und für die mündige Gemeinde auf den Priesterbegriff ganz verzichten sollen. Zwar hat Luther hier nur metaphorisch gesprochen, aber der Fundamentalismus (insgesamt) neigt heute dazu, dieses Priestertum nun ganz wörtlich zu nehmen. Er kommt auf seine Weise ausgesprochen pfäffisch daher, indem er bestimmte anzuerkennende Anschauungen ausgibt, die in der Regel als Wahrheiten dargestellt werden und deren Anerkennung die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft eröffnet. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einem Klerikalismus von unten, der ebenso wie der Klerikalismus von oben von einem übersteigerten Selbstbewußtsein ausgeht und möglichst allen ernsthaften Auseinandersetzungen aus dem Weg geht.
Wenn man sich die fundamentalistische Literatur ansieht – und dies gilt leider auch weithin für die evangelikale Literatur –, dann wird man schnell feststellen, daß immer wieder unter neuen Überschriften über die gleichen Fragen mit immer wieder den gleichen Ergebnissen geschrieben wird. (Nebenbei gesagt: Diese Literatur stellt mit ihren Verkaufszahlen die übrige theologische Literatur weit in den Schatten.) Immer wieder wird den gleichen Mißverständnissen entgegengetreten und dieses oder jenes Faktum hochgehalten, ohne das der Glaube in seinen Grundfesten gefährdet sei. Da finden sich dann all die Beweisgänge und Argumentationsfiguren wieder, auf die ich vorhin verwiesen habe. Immer wieder werden die gleichen Abgrenzungen vollzogen, damit die klare Übersichtlichkeit der Fundamente unangetastet bleibt.
Es handelt sich weithin um eine Selbstbestätigungsliteratur, die vor allem gelesen wird, um sich noch einmal bestätigen und bekräftigen zu lassen, wovon man ohnehin überzeugt ist. James Barr spricht von einer »rituelle[n] Wiederholung dessen, was die Gruppe als Gruppe glaubt«[1]. Der Maßstab der Rechtgläubigkeit liegt vorher fest, und in dem Maße, in dem er durch das Buch bestätigt wird, ist es ein gutes Buch, und sollte er irgendwo – und sei es auch nur an einer Kleinigkeit – anecken, dann kann es sich nur um ein verwerfliches und irreführendes Buch handeln. Immer wieder wird die gleiche Irrlehre ausgeräumt. Noch und noch werden unter immer wieder neuen, meist gut dekorierten Buchdeckeln und von immer neuen Autorinnen und Autoren die Fundamente beschworen, damit das gesicherte Terrain der Wahrheit stets hell erleuchtet bleibt und sich keine Veränderungen einschleichen können.
Das ist Klerikalismus von unten, der mit planierten Anschauungen in alle Richtungen Verbotsschilder errichtet, um Grenzen zu ziehen. Er ist Spiegel eines Exklusivitätsdenkens, das für sich selbst stets schon beruhigt und nach außen stets in höchster Unruhe ist. Wenn irgendwo von einer theologischen Besitzstandswahrung gesprochen werden kann, dann kann im Blick auf den Fundamentalismus festgestellt werden, daß hier in durchaus vielschichtigem Sinne die Besitzstandswahrung als allgemeines christliches Orientierungsklima propagiert wird. Mit einer zum Teil geschickten und zum Teil plumpen Mischung von ›Angstmache‹, aggressiver Verwerfung und fast unerschütterlich selbstbewußter Heilsvergewisserung, wie sie auch für den ›Klerikalismus von oben‹ durchaus als kennzeichnend angesehen werden kann, wird die Schar der Rechtgläubigen von den Gefahren der sie umgebenden, sich selbst verderbenden Welt ferngehalten. Die Fundamente sind klar, alle haben die Chance sie anzuerkennen, und es ist leicht, sich für sie zu entscheiden, solange wir dafür sorgen, daß sie nicht aufgeweicht werden.
[1] Fundamentalismus, München 1981, 255.