Tobias Kriener erzählt:
17.11.2017
Vorgestern besuchten wir Ariella Graetz-Bar Tuv im Bunker der Refromgemeinde in Naharijah. Sie erzählte uns vom Leben der kleinen Reformgemeinde (70 eingetragene Mitglieder ...), von der Arbeit als Rabbinerin einer Reformgemeinde unter den gegebenen Umständen, und vor allem von ihr sehr persönlich: Sie ist die Tochter eines Rabbiners der Konservativen, die ihre säkulare Phase hatte, bis sie sich in einen orthodoxen Juden verliebte, dessen Familie aus dem Irak stammt, deren einer Sohn zeitweilig ultraorthodox war - was er zu ihrer großen Erleichterung überwunden hat -, die in einem orthodoxen Ort lebt, selber nicht am Schabbat Auto fährt, mit etwa 40 Jahren die Ausbildung zur Rabbinerin gemacht hat. Es ist schwer in Worte zu fassen, was für eine beeindruckende Persönlichkeit sie ist: Solche Lebensdaten können nur den Rahmen aufzeigen, in dem sie sich in ihrer Offenheit und Profiliertheit und Wärme und mit ihren Idealen im sehr persönlichen Gespräch uns gegenüber offenbarte. Man muss sie einfach selber erleben ...
Eine Information erbrachte dieses Gespräch für mich, die ich für fundamental wichtig erachte: Sie beschrieb eine Entwicklung, die für die Zukunft des Verhältnisses von Juden in Israel und anderswo entscheidend sein wird - die voraussichtlich dazu führen wird, dass sich Judentum in Israel und der Diaspora grundlegend voneinander trennen werden: Die Entscheidung der Reformjuden in den USA, neben der traditionellen halachischen Matrilinearität - d.h. als Jude gilt, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde -, die Patrilinearität einzuführen, d.h. auch die Kinder, die einen jüdischen Vater und eine nichtjüdische Mutter haben, als Juden anzuerkennen, wenn die Eltern es wollen. In Israel tun die Reformgemeinden das natürlich nicht, weil sie sich damit vollends ins Abseits stellen würden. In den USA aber ist es notwendig, weil sonst das Judentum keine Zukunft hätte. Das ist ein tiefer Einschnitt, der - wie gesagt - für die sich auftuende Distanz zwischen Juden in Israel und in der Diaspora viel grundlegender ist als alle Streitereien um egalitäre Gebetsplätze an der Kotel oder die Anereknnung von Reformkonversionen in Israel undundund ...
Gestern dann hat Avner Shai zum Thema IDF (Israeli Defense Forces) gesprochen - d.h. darüber, wie konkret der Militärdienst der Israelis aussieht. Für mich persönlich furchteinflößend ist, wenn er davon spricht, dass die Persönlichkeit der Rekrut_innen in der Militärzeit ausgelöscht wird und sie zu Robotern werden - das krasse Gegenteil zum Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" der Bundeswehr. 'Er machte auch den Versuch, die israelische Armee als die "moralischste Armee der Welt" anzupreisen. Beleg: Hat man jemals davon gehört, dass ein israelischer Soldat eine Vergewaltigung begangen hätte? Als ich im entgegenhielt, dass das sehr wohl belegt ist, hat er dann aber nicht darauf bestanden - und damit war diese Propagandafloskel vom Tisch.
Beeindruckend war aber, wie er seine Zerrissenheit offen gelegt hat hat: Zwischen Stolz auf die IDF und darauf, was die Soldat_innen leisten, der Trauer über den Preis, den Israel zu zahlen hat für seine militärische Stärke, der Einsicht, dass der 1. Libanonkrieg 1982 ein "War of Choice", d.h. ein politisch gewollter Angriffskrieg war, und auf der anderen Seite seiner soldatischen Loyalität, aus der heraus er Soldaten seiner Einheit, die damals den Dienst verweigerten, hinter Gitter geschickt hat - um sie dann aber jeden Einzelnen im Militärgefängnis zu besuchen und ihnen Mut zuzusprechen ... Es war einfach spannend, mitzubekommen, dass er kein glattes Bild vermittelt - dass er selber keine einfachen Antworten weiß - dass für ihn als Kind von Holocaustüberlebenden, der keinen anderen Platz in der Welt hat, die Armee aber einfach existenzsichernd ist und deshalb weiterhin seine ungebrochen-gebrochene - Loyalität hat ...
Klug war von ihm, uns am Ende alle zu einer kleinen persönlichen Reaktion auf den Abend zu bewegen - einem Blitzlicht, wo jede/r unkritisiert äußern konnte, was ihn bewegt oder befremdet oder beeindruckt hat.
Was allerdings fehlte, war, dass er über den "Elefant im Raum" gesprochen hätte: Die Besatzung - deren Aufrechterhaltung ja seit 50 Jahren einen wesentlichen Teil der "Tätigkeit" der IDF ausmacht -, wie überhaupt in seiner gesamten Vortragsreihe für Nes Ammim die Besatzung nicht vorkommt. Irgendwann werde ich ihn drauf ansprechen (müssen), ob er nicht - wenn er uns denn wirklich Israel erklären will - auch darüber sprechen müsste (statt 2 x mit uns zu kochen, so nett das auch ist - einmal wäre auch genug ...).
Als kleinen Ausgleich und Beleg dafür, dass das Studienprogramm keineswegs immer nur so tiefsinnig und schwermütig ist, von unserem Daytrip ins Museum in Naharijah, nach Jechiam (wegen schwerem Chamsin war leider der Panoramablick auf die Ebene zwischen Haifa und Rosch HaNikra völlig versaut ...) und in den Industriepark Tefen aus dem Museum für die "Jeckes" zwei Bilder: Ein Küchenwandbehang aus dem "Zriff" aus der Frühzeit von Naharijah - und ein Tuch mit einer Darstellung von jüdischen Soldaten der preußischen Armee im Krieg 1870/71, die an Jom Kippur mit Tallit und Pickelhaube Feldgottesdienst feiern - unter dem Motto: "Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht alle ein Gott geschaffen?" Wenn das nicht erbaulich ist ...