Tobias Kriener erzählt:
29.11.2017
Nun hatte auch ich mein erstes Jerusalem Seminar.
Am Montag waren wir zunächst auf der Auguste-Viktoria zu Gast, haben natürlich den unvergleichlichen Panoramablick vom Turm genossen, den Kaffee und Kuchen im Cafe Auguste.
Dann hatten wir eine ausgezeichnete Präsentation von Meir Margalit, ehemaliger Meretz-Vertreter im Jerusalemer Stadtrat. Er läuft zwar hin und her bei seinem Vortrag wie so ein Rumpelstilzchen - warum er immer die Arme nach oben strecken muss, verstehe ich nicht - , aber so ist er nun mal - und dabei genial: Mit wenigen Bildern macht er einem deutlich, was das Problem Jerusalems ist, dass es einem wie Schuppen von den Augen fällt: Zuerst zeigt er ein paar Bilder, wo "Hooligans" - wie er sie nennt - die dreisprachigen Straßenschilder in Jerusalem beschmiert haben, indem sie die arabische Zeile übermalt oder überklebt haben. Und dann zeigt er Bilder von den ganz normalen Hinweisschildern zum Mount Scopus, zur Altstadt, nach French Hill oder Gilo oder Har Homa - die uns ganz vertraut und selbstverständlich sind - und weist darauf hin, dass nirgendwo die arabischen Stadtviertel, durch die man auf der Fahrt zu den angezeigten Orten hindurch fährt, erwähnt werden. Und ich muss mir eingestehen, dass ich selber das die ganze Zeit für völlig normal gehalten habe. Ich habe in den 40 Jahren, seitdem ich in Jerusalem herumkurve, mir nie etwas dabei gedacht - nie bemerkt, dass die arabische Stadt einfach ignoriert wird. Diese eigentlich unglaublich plumpe Maßnahme wirkt also genau so, wie sie soll.
Das - so drückt er sich aus - sind die offiziellen, die Regierungs-Hooligans -, die dasselbe wollen wie die Schilderbeschmierer-Hooligans: Die Araber aus Jerusalem weg haben, indem sie sie ignorieren und ihnen das Leben so schwer wie möglich machen. Und dann zeigt er eine Statistik, die klar macht, was der Albtraum der jüdisch-israelischen Stadtväter und -mütter ist: Heute sind etwa 38% der Bewohner Jerusalems Palästinenser_innen; aber von den 15 - 25 jährigen Jerusalemern sind beinahe 50% Palästinenser_innen. In 10 Jahren - also morgen, wie er sagt - werden die Palästinenser_innen die Mehrheit der Jerusalemer stellen - und wenn sie dann ihren Boykott der Stadtratswahlen aufgeben würden, könnten sie über Nacht die Macht übernehmen. Um das zu verhindern, entwickelt die jüdische Stadt- und ebenso die Regierung des Landes eine enorme negative Kreativität. Neuester Einfall: Die halbe Westbank - d.h. natürlich nicht die Westbank, sondern die jüdischen Siedlungen dort - zu Stadtteilen von Jerusalem erklären - ohne sie formal an Israel zu annektieren. Eine abenteuerliche Konstruktion - die aber deshalb scheitern wird, so Margalit, weil die wohlhabenden Schlafstädte wie Maalei Adumim keine Lust haben, für den chronisch defizitären Jerusalemer Haushalt aufzukommen - der im Minus ist, weil die Ultraorthodoxen, die inzwischen die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung stellen, kaum Steuern zahlen, da sie zum großen Teil nicht berufstätig sind, sondern in der Jeshiwe sitzen. Der ganz normale Egoismus der Wohlhabenden als letzte Hoffnung für die palästinensischen Jerusalemer ...
Danach der Gang den Ölberg hinab zu unserer Unterkunft im Ecce-Homo-Konvent gleich hinter dem Löwentor - ein wunderbar verschachteltes Gebäude mit großzügiger Terasse mit Premium-Aussicht auf die Altstadt.
Der nächste Tag war dann leider total verregnet, an dem uns Tamar durch die Altstadt führte. Es ist natürlich alles ungeheuer faszinierend, was sie zu erzählen hat. Aber diese Dutzende oder sogar Hunderte von historischen Stätten, die sich hier nicht nur eine an die andere reihen, sondern sich buchstäblich über- und untereinander stapeln - türkische, mamlukische, Kreuzfahrer, byzantinische, römische, hellenistische, herodianische, persische - und immer mit der Frage: Was kann diese Brandspur oder jener Mauerrest (oder ist es doch nur eine zufälllige Anhäufing von Steinen?) bestätigen oder widerlegen? Und ganz besonders: Wo sind die Spuren von David und Salomon - die national-religiöse Obsession? Wo könnte möglicherweise oder könnte vielleicht doch nicht Jesus gewesen sein - die Obsession der christlichen Wallfahrer? An der sogenannten "Davidsstadt-Ausgrabung" - die sich immer mehr zum national-religiösen Wallfahrtsort entwickelt - sahen wir reihenweise Schulklassen runterklettern. An der zentralen christlichen Wallfahrsstätte - der Grabeskirche - gab es kaum ein Durchkommen. Natürlich haben wir uns nicht in die Schlange derer eingereiht, die dort stundenlang darauf warten, einen Blick in das - möglicherweise, aber ja wahrscheinlich doch nicht - authentische Jesusgrab zu werfen. Ich hätte am liebsten jedem/r einzelnen in's Ohr geflüstert: Ihr sucht Jesus? Er ist nicht hier ... (Mk 16, 6)
Die Grabeskirche ist ein starkes Sinnbild für die christliche Kirchen- und Theologiegeschichte: Es hat sich so viel Verehrung und Interpretation und daraus abgeleitetes Dogma angehäuft über dieser Geschichte, dass sie gänzlich darunter verschüttet scheint. Da ist es verführerisch, sich aus dieser so fremdartigen Ökumene in die nebenan liegende schlichte, übersichtliche Erlöserkirche - und damit in das schöne, schlichte, übersichtliche reformatorische "Sola Sciptura - Sola fide - Sola Gratia" zu flüchten - weil es so erholsam ist: ganz handfest für die nassen, schmerzenden Füße nach 19 km Fußweg durch diese Anhäufung von heiligen Trümmern - aber nicht weniger "spirituell" nach dieser Anhäufung von religiöser und historischer und politischer Bedeutsamkeit. Es stimmt ja: Wie Andere glauben, verdient keine grinsende Herablassung, sondern den Versuch, nachzuempfinden und die Andersheit der Anderen anzunehmen - ja, religiöse Correctness muss sein, jajaja!. Aber dennoch kann ich mir nicht helfen: Diese massive und ungehemmte Verehrung von Steinen - und zwar bei allen: Christen wie Juden wie Muslimen ... Jeschajahu Leibowitz - wahrlich kein Atheist, auch kein Reformjude, sondern ein radikal orthodoxer Jude - hat die Verehrung der Westmauer des Tempelareals im Judentum Götzendienst genannt. Jerusalem kommt mir jedesmal mehr vor wie ein einziger Götzentempel, dessen Verehrung von den Tourismusmanagern gnadenlos angeheizt wird bis zum Erstickungstod des irdischen Jerusalem und natürlich von gewissenlosen Politikern hemmungslos instrumentalisiert wird ...
Am letzten Tag ging es nach Westjerusalem: Wir fingen an bei der Menorah vor der Knesset; dann waren wir im Obersten Gerichtshof, wo wir kurz in eine Verhandlung reingehört haben und die Bibliothek und das Museum angesehen habe. Ein schon interessanter Bau - mit manch interessanter Information über das Rechtssystem Israels und seine kurze Geschichte - in der natürlich der Eichmann-Prozess eine ganz besondere Rolle gespielt hat. Tamar ist insofern eine ganz besondere Fremdenführerin, als sie immer den unsichtbaren Untergrund der palästinensischen Dimension erwähnt - in diesem Fall das Dorf, das auf dem Hügel stand, auf dem heute der Oberste Gerichtshof steht.
Aber bei einer solchen Führung kann natürlich nicht richtig begreifbar werden, welche Kämpfe sich aktuell um die israelische Rechtsstaatlichkeit abspielen: Wie die Justizministerin Ajelet Schaked höchstselbst das israelische Rechtssystem instrumentalisiert: In den Tagen, an denen wir in Jerusalem waren, tobte in der Presse der Kampf um den Fall Dean Issacharow, des Sprechers von "Breaking the Silence" (übrigens der Sohn des neuen israelischen Botschafters in Berlin), der berichtet hatte, wie er während seines Militärdienstes einen Palästinenser zusammen geschlagen hatte. Daraufhin wies die Justizministerin den Generalstaatsanwalt an, Anklage zu erheben. Die Anklage wurde dann allerdings nicht erhoben, weil keine Schuld festgestellt werden konnte, da ein Palästinenser, der in dieser Sache befragt wurde, aussagte, er sei gar nicht von Soldaten geschlagen worden - was Schaked und Netanjahu natürlich sofort zu Presseerklärungen nutzten, nun sei endgültig bewiesen, dass "Breaking the Silence" lüge. Schnell hatten die investigativen Journalisten von Ha'aretz (Amira Hass und co.) herausgefunden, dass der falsche Palästinener befragt und die Aussage eines Soldaten aus der Einheit von Issacharow ignoriert worden war - das Ganze also genau das ist, wonach es von Anfang an roch: Eine politische Instrumentalisierung der Institutionen der israelischen Justiz durch die Justizministerin höchstpersönlich, um diese furchtbar lästigen Typen loszuwerden, die die Selbstsuggestion von der angeblich "moralischsten Armee der Welt" mit ihren Berichten aus dem Inneren des brutalen Besatzungsalltags immer wieder aushebeln.
Das alles lief in diesen Tagen bei mir im Hintergrund mit, wenn ich in den Pausen auf dem Smartphone den nächsten ätzenden Kommentar oder das nächste entlarvende Puzzleteilchen zur Kenntnis nahm. Da kann dann nicht so die richtige Feierlichkeit aufkommen beim Gang durch die ehrwürdige oberste Instanz zur Wahrung der israelischen Rechtsstaatlichkeit ...
Danach Mittagessen auf dem Mahane Jehuda - der nach einer Generalüberholung vor ein paar Jahren merkwürdig aufgeräumt und sauber aussieht. (Schlimm, sich dabei zu ertappen, dass ich schon so alt bin, dass ich der dreckigen, chaotischen, lärmenden, gar nicht guten alten Zeit nachtrauere, weil ich selber damals ja noch jung war ...)
Zum Schluss unser Besuch auf dem Herzl-Berg. Wider alle Erwartung war das für mich etwas Besonderes.
Tamar erläuterte uns, welche Bedeutung das Herzl-Grab und die ganze Anlage haben als eine Art säkulares Heiligtum des modernen Israel im Gegenüber zum nicht mehr existierenden Tempel. Der Grabstein von Herzl hat auch tatsächlich etwas von einem Altar. Es ist außergewöhnlich, dass alle Staats-und Regierungschefs eines Landes (mit wenigen Ausnahmen: Ben Gurion, Begin, Scharon) an einem Platz begraben liegen - dazu die unglückliche Familie von Herzl, die Präsidenten der Zionistischen Bewegung, und auch der Revisionistenvater Jabotinsky ist in's israelische Pantheon aufgenommen worden.
Mit zu dem Ensemble gehört das unmittelbar daran anschließende Gelände von Jad VaShem - die enge Verbindung von Holocaust und Staatsräson ist ja bekannt.
Tamar wies darauf hin, dass auf dem nächsten Hügel im Norden unter dem Stadtteil Kirjat Menachem das Dorf De'ir Jassin begraben ist, wo das Fanal-Massaker im April 1948 stattfand, dass die Flucht der Palästinenser entscheidend befördert hat. Sie hat die schöne Utopie, dass ein Mahnmal auf diesem Hügel eine Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern befördern könnte. Das wird natürlich nicht passieren: Israel ist fest entschlossen, diese dunkle Seite seiner Gründungsgeschichte aus dem kollektiven Gedächtnis fern zu halten - so wie die USA den Genozid an den Indianern oder die Türkei den Völkermord an den Armeniern oder Großbritannien den Sklavenhandel. Und so existiert diese dritte Dimension der israelischen Erinnerungskultur nur virtuell in den Köpfen der radikalen Opposition.
Wie wir da so standen in diesem Dreieck von Schoah, Zionismus und Nakba spürte ich wieder mal die Trauer darüber, wie vollkommen Europa versagt, oder präziser noch: Verrat an seinen eigenen Idealen begangen hat, als im 19. Jahrhundert das Versprechen der Französischen Revolution von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" an den Juden gebrochen wurde. Weil Herzl verstanden hat, dass Europa die Juden niemals als dazu gehörig akzeptieren wird, hat er die Kette der Ereignisse bis hin zum Mord an Rabin in Gang gesetzt, die sich von dem Berg aus, der zu Recht nach ihm benannt ist, vor dem inneren Auge auftut - lange bevor der besondere deutsche "Genius" die Ausrottung der als "Anders" ausgegrenzten in's Werk setzte.
Und diese Unheilsgeschichte trifft nun auf diesen schrecklich heiligen Trümmerhaufen - wie soll da etwas für die Menschen, die hier leben, Hilfreiches oder Fruchtbares entstehen ...
Aber zum Schluss natürlich noch was Positives: Heute Nacht fliege ich für ein paar Tage nach Berlin - den Enkel Johann erstmals in natura bewundern!